Reportagecomics. Dokumentarische Comics. Comicbiographien: Bericht von 6. Jahrestagung der ComFor

Die diesjährige jährliche Wissenschaftstagung der Gesellschaft für Comicforschung fand unter Federführung von Prof. Dr. Thomas Knieper vom 11.-13. November in Passau statt. Die überwältigende Resonanz auf den Call for Papers führte dazu, dass, so Thomas Knieper in seiner Begrüßung, statt ursprünglich geplanter zwei Tage an dreien getagt wurde. Das dichte Programm bestand aus 28 Vorträgen, die zu 11 thematischen Blöcken zusammengefasst waren.

Die Eröffnung – „Eine Annäherung“ an das Thema der Tagung, bestritten internationale Tagungsteilnehmer.

Pascal Lefèvre sprach unter dem Titel „The various modes of documentary comics“ über verschiedene Darstellungsweisen dokumentarischer Comics und verglich diese mit Formen des Dokumentarfilms. Er überprüfte anhand einiger Beispiele, inwiefern die Klassifizierung der Repräsentationsmodi von Bill Nichols auf den Comic übertragbar sei und konnte trotz großer Unterschiede zwischen den Ausdrucksformen Comic und Film zeigen, dass fünf der sechs Modi, die er betrachtete, auch im Comic zu finden sind: „the poetic mode, the expository mode, the observational mode, the participatory mode, the performative mode“. In vielen Comics dominiert ein Modus, während sie oft auch in Kombination auftreten.

Im zweiten Vortrag stellten Randy Duncan, Michael Taylor und David Stoddard Reportagecomics als Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher Perspektiven vor, die sie in der Vorbereitung und Durchführung eines gemeinsamen Seminars feststellen konnten. Dabei stellte Michael Taylor als Professor für Journalismus vor allem die ethischen Ansprüche heraus, an denen sich ein Comic-Journalist ebenso wie klassische Journalisten messen lassen müssten. David Stoddard betonte aus Sicht der Kunst, welche Möglichkeiten der Comic biete, die Aufmerksamkeit für ein spezifisches Thema zu wecken und das Publikum auch emotional anzusprechen. Der Kommunikationswissenschaftler Randy Duncan hob ebenfalls auf die besonderen Darstellungsmöglichkeiten der Ausdrucksform Comic ab und zeigte an verschiedenen Beispielen, wie der Comic alle Sinne ansprechen könne und wie etwa Joe Sacco dies in seinen Comics gezielt einsetze bzw. gezielt unterdrücke.

In ihrem Vortrag „Autobiographie und Archivierung im Gegenwartscomic“ stellte Lisa Schöttler Ergebnisse ihrer Masterarbeit vor und zeigte, wie Comics ähnlich den Romanen der Popliteratur der 1990er Jahre durch die Einbindung von „Fremdmaterial“ ein Archiv ihrer Zeit und der Lebenszeit ihrer Autoren sein können. Am Beispiel etwa von Held (2003) und Liebe schaut weg (2007) belegte sie, wie popkulturelle Verweise scheinbar beiläufig in Alltagsgeschichten und Anekdoten eingebunden werden.

Im zweiten Panel mit dem Titel „Reportagecomics und das politische Zeitgeschehen“ untersuchte zunächst Michael Freund den „Vietnam- und den Irakkrieg im Doonesbury Comic von Garry Trudeau“ als Dokument von Zeitgeschichte. In den bisher über 40 Jahren des Erscheinens dieser Serie wurden mehrere Kriege thematisiert – begonnen mit dem Vietnamkrieg. Im Vergleich konnte Freund deutliche Unterschiede in der Darstellung beider Konflikte herausarbeiten: Während der Vietnamkrieg vor allem im Sinne kurzer Pointen verarbeitet werde, werde der Irak-Krieg als ein chaotisches, traumatisches Erlebnis dargestellt. In diesen neueren Folgen zeige sich eine wesentlich tiefgreifendere Auseinandersetzung mit dem Thema und eine ernsthaft kritische Haltung gegenüber der Politik der eigenen Regierung.

Lars von Törne stellte in seinem Vortrag das Themenfeld und einige Aspekte seines Dissertationsprojektes vor, in dem er sich mit „Tendenzen der Politisierung im US-amerikanischen Mainstream-Comic“ auseinandersetzt. Er wies auf den Einfluss hin, den der 11. September 2001 auf US-amerikanische Comic-Schaffende gehabt habe, und konnte so den Comic als Plattform des politischen Diskurses ausmachen. Der Vortrag lieferte Einblicke in die Bestandsaufnahme zu Beginn seiner Arbeit.

Der Vortrag „Che, Evita und der antiimperialistische Kampf“ von Helmut Kronthaler stellte den argentinischen Comicautor H. G. Oesterheld und insbesondere seine politischen Comics vor. Neben Biografien von Evita (1970, gezeichnet von Alberto Breccia,) und Che (1968, gezeichnet von Alberto Breccia, 2008 auf deutsch) wurde auch Oesterhelds bekannteste Comicfigur, der Eternaut, politisch verstanden. Wenngleich es in dem Comic um den Kampf gegen außerirdische Invasoren geht, wurde er in Argentinien als Kampf gegen den US-Imperialismus aufgefasst. Das Leben Oesterhelds endete unter ungeklärten Umständen, vermutlich 1978 während der Militärdiktatur in Gefangenschaft.

Im letzten Block des ersten Konferenztages widmete sich Detlev Gohrbandt dem Thema „The Patriot’s Progress – Der erste Weltkrieg in einer Bild-Text-Erzählung von Henry Williamson und William Kermode“. Diese Gemeinschaftsarbeit von 1930 kann auf den ersten Blick als ein besonders reich mit Linolschnitten illustrierter Text verstanden werden, ist aber tatsächlich eine nachträglich vertextete Bildfolge. Es wurde anschaulich gemacht, auf welch unterschiedliche Weise bildliche und sprachliche Darstellung einander über- und unterschreiten und so ergänzen.

Der Vortrag „Drüben – da war mal was: Kindheitserinnerungen an die DDR im Comic“ von Rüdiger Singer, setzte sich mit dem Problem verschiedener Erzählebenen im Comic und zumal im autobiografischen Comic auseinander. Anhand der beiden im Titel genannten Comics wurde aufgezeigt, dass der Ich-Erzähler und das erlebende Ich innerhalb der Handlung zu unterscheiden seien. So ergeben sich aufgrund der Analyse Singers meist zwei Arten der Schwerpunktsetzung: Die vergangenheitsdominierte und die gegenwartsdominierte Darstellung, die innerhalb eines Comics abwechseln können, jedoch auch – über das Bild und den Erzähltext – zugleich in einem Panel auftreten können.

Elisabeth Klar stellte in ihrem Beitrag eine französische Anthologie von Texten über Migrationserfahrungen vor: Paroles sans papiers von David Chauvel u.a. (2007). Diese Texte sind autobiographisch und biographisch zugleich, denn die Migranten können nur eingeschränkt für sich selbst sprechen. Klars Leitfrage war, wie die Lebenssituation der Migranten in die Comic-Form umgesetzt wird, insbesondere wie Raum, Zeit und Körper durch Bild und Layout zur Darstellung kommen. Die Ökonomie des Comic, also die begrenzte Zahl von Zeichen in einem Panel, führt zur reduzierten und fragmentierten Darstellung von Körpern als Zeichen. Damit wird die reale Unsichtbarkeit von Migranten in der Text-Bild-Erzählung nachgebildet.

Den zweiten Tagungstag eröffnete ein Themenblock zur „Authentizität im Comic“, innerhalb dessen Hans-Joachim Hahn sich mit „Realitätseffekten“ im Comic auseinandersetzte. Anhand einiger Beispiele zeigte er, auf welche Weise Comiczeichner das Authentische ihrer Arbeiten hervorzuheben suchen, indem sie auf das „Wirkliche“ außerhalb der Geschichte verweisen. In Anlehnung an Roland Barthes konstatierte er zugleich das unvermeidliche Scheitern dieser Versuche, durch „Realitätseffekte“ der Realität literarisch nahe zu kommen.

In seinem Vortrag mit dem Untertitel „Versuch über das lebensgeschichtliche Erzählen im Comic“ betrachtete Christian Heuer aus der Sicht der Geschichtsdidaktik die Autobiographie als historische Erzählung. Da der Ich-Erzähler seine eigene Geschichte konstruieren müsse, interessierte den Referenten, aufgrund welcher Mittel des Comics die Leser die Erzählung dennoch als authentisch begreifen. In seinem Fazit befand er als Gradmesser für eine gelungene Autobiographie immer das Maß der Selbstreflexion innerhalb der Erzählung.

Ole Frahm wagte in seinem Vortrag eine Lesart der Serie Tim und Struppi, wonach sie als „Hergés Biografie eines Hundes“ aufzufassen sei. So zeigte er anhand von Beispielen aus Der Arumbaya-Fetisch und Flug 714 nach Sydney, dass die eigentlich wiedergegebene Sicht auf die Handlung die von Struppi ist. Frahm erteilte dem Wunsch nach Authentizität im Comic eine Absage, die ihn in Anlehnung an den Fetisch bei Tim und Struppi zu der Formulierung des „Authentizitäts-Fetisch“ bewegte: „Alle Wahrnehmung ist inauthentisch.“

Björn Laser setzte sich nach einer ersten Kaffeepause mit „Strategien des Authentischen in Jason Lutes’ Berlin“ auseinander und zeigte, dass darunter zum einen besonderes Quellenstudium und die Arbeit nach historischen Abbildungen zählen. Mehrere Überarbeitungen zwischen der ersten und späteren Veröffentlichungen machten die Akribie anschaulich, mit der sich Lutes seines Themas annahm. Besonders zur Diskussion regte die Entscheidung des Künstlers an, das Hakenkreuz in den Bildern durch Leerstellen zu ersetzen, die Laser als eine weitere Strategie der Authentisierung wertete.

In ihrem Vortrag „Die Problematik des objektiven Berichts – der Fall des Nahostkonflikt-Comics“ forderte Catherine Michel ein genaues Hinsehen auf die Darstellung politischer Konflikte in Comics. Denn was mit dem Etikett des (Comic-) Journalismus versehen wird, werde zu leicht als eine objektive Darstellung verstanden. Sie zeigte anhand eines Beispieles aus Saccos Footnotes in Gaza (2009) und des Sammelbandes Torture Blanche (2004), wie die Inszenierung von Bildern und die Auswahl der sprachlichen Darstellung innerhalb von Comics die Perspektive auf den Konflikt lenken können.

In dem Block über „Trauma und Erinnerung“ widmete sich Ute Friederich der Frage „Wie Art Spiegelman und W.G. Sebald Zeugenschaft und Trauma erzählbar machen“ und stellte anhand des Romans Austerlitz (2001) und des Comics Im Schatten keiner Türme (erste Buchausgabe 2004, deutsche Buchausgabe 2011) einen Vergleich der Trauma-Erzählung in Prosa und Bilderzählung an. Es konnte eine Reihe von typischen Mustern isoliert werden, die sich in beiden Beispieltexten finden lassen. Dies wurde dadurch begünstigt, dass auch der Roman mit Bildern arbeitet.

Der Vortrag „Zwischen Ich und Wir – Erinnerung an den libanesischen Bürgerkrieg im Comic“ von Anna Gabai stellte drei libanesische Comics vor, die den meisten Zuhörerinnen und Zuhörern bis dato unbekannt gewesen sein dürften, da sie nicht in Übersetzung erschienen sind. Die Beispiele von Lena Merhej, Jana Traboulsi und Ali Dirani offenbarten drei verschiedene Herangehensweisen und Perspektiven auf ein Thema, das im heutigen Libanon weiterhin mit Tabus behaftet ist.

Andreas Heimann widmete sich in seinem Vortrag „Auf der Suche nach dem verlorenen Le Réel“ dem Animationsfilm Waltz with Bashir (2008) und zeigte daran, welche Möglichkeiten die Form des AniDocs, des animierten Dokumentarfilms, für die Darstellung auch des nicht Sichtbaren bietet. Während den animierten Teil des Films immer wieder Traum- und Erinnerungsbilder durchziehen, wertete Heimann den Einsatz authentischer Filmaufnahmen am Schluss des Films als den Einbruch des „réel“ (Lacan). Damit komme der Film wie durch einen Schockmoment zurück zu dem real verbürgten Ereignis.

Auch der nächste Block ging der Darstellung und Bearbeitung von Traumata nach. Im ersten Vortrag sprach Kalina Kupczynska über „Unerzählbares erzählbar machen – Trauma-Narrative in der Graphic Novel“. Sie analysierte die Erzählweise der beiden Comics Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens (2009) und Komm zurück, Mutter (2003, deutsch 2007) daraufhin, inwiefern sich traumatische Erlebnisse auf die Erzählstruktur auswirken und konnte wiederkehrende Darstellungsformen der Comics für dissoziative Störungen isolieren.

Der Vortrag „Facing Trauma through Mythology“ von Markus Oppolzer beleuchtete die Bearbeitung traumatischer Krankheitserfahrungen mithilfe von Literatur, in diesem Fall des Comics It’s a Bird… (2005). Dieser Comic wird in den medical humanities dazu eingesetzt, Medizinern für den Umgang mit Patienten andere Perspektiven auf Krankheiten zu eröffnen. It’s a Bird verbindet in Form einer biographischen Erzählung eine Superheldengeschichte mit der individuellen Erfahrung der Verletzlichkeit des eigenen Körpers.

Dietrich Grünewald stellte „Das Rätsel des Künstlers: Künstlerbiographie als Comic“ vor. Ausgangspunkt war das seit Vasaris Viten immer größere Interesse an der Biographie von Künstlern als legitime Form der Kommunikation über das Werk, den Menschen und seine Zeit. Nach Hinweisen auf Formen der biographischen bzw. autobiographischen Künstlerdarstellung in (Selbst)Bildnissen, Bildgeschichten und oftmals programmatischen Bildern von Malern bei der Arbeit, wurden einige zeitgenössische Künstlerbiographien vorgestellt und kritisch erörtert, z.B. Christoph Badoux, Klee (Zürich 2008), und Künstlerbiographien von Willi Blöß und Gradimir Smudja. Dabei zeigte sich, dass solche Werke gut recherchierte Einführungen in Künstler und Werk sein können. Sobald sie aber einzelne Bilder „zitieren“ (ob von Turner, van Gogh oder Klee), indem sie diese dem Comic-Stil anverwandeln, verstellen sie den Zugang zu den malerischen und zeichnerischen Qualitäten der Originale.

Zum Abschluss des zweiten Tages berichtete Martha Zan mit „Inside Moebius: Imagination als Autobiographie“ über den Comic-Künstler Jean Giraud, dessen Pseudonym Moebius nach eigener Bekundung Ausdruck seiner dualen Persönlichkeit ist und die Grundlage seiner als Allegorie zu lesenden Histoire de mon double (Paris 1999) bildet. Allegorischer Ort ist die Wüste, die zugleich „désert B“ und „désherbé“ ist, der Ort ohne „Gras“ im doppelten Sinn. Diese Wortspiele und ihre visuellen Analogien (der sich wandelnde Quader) zeigen eine intensive Selbstreflexion und Auseinandersetzung mit seiner Selbstdarstellung in der Westernserie Blueberry und mit seinem künstlerischen Selbstverständnis in einer Form, die die Gattung Autobiographie erweitert.

Am abschließenden dritten Tag standen sieben weitere Vorträge auf dem Programm. Den Anfang machte Peter Herr mit seinem Bericht über „Dokumentarische Präzision und die Lücken des Comics: Art Spiegelmans Auseinandersetzung mit der Sho’ah in Maus„. Herr arbeitete mit einer Unterscheidung zwischen „weißen“ und „schwarzen“ Lücken im Comic, also zwischen dem sichtbaren Weiß des Papiers und den schwarzen Rahmen der Panels und stellte die Frage, wie mit Lücken erzählt wird. Damit war das Problem der Zeugenschaft für ein derart überwältigendes Ereignis wie die Sho’ah gemeint, eine „innere Lücke“, die nicht aufzufüllen ist. Visuell stellt Spiegelman immer wieder schwarze und weiße Flächen ins Bild, ebenso ein Signal für das Lückenhafte wie Arties wiederholte Aufforderung an seinen Vater Vladek, Lücken in Erinnerung und Erzählung zu füllen.

In „Tierische Tatsachen — Zur Verschränkung von Schicksal und Charakter im Tier-Comic“ zeigte Daniela Kaufmann an zahlreichen Beispielen aus der Physiologus- und Fabeltradition wie die „similitudo hominis“, also die Darstellung von Tieren in ihrer Ähnlichkeit mit Menschen, als Mittel gebraucht wird, um verallgemeinernde Aussagen über menschliches Verhalten zu machen. Diese verbale und visuelle Tradition wurde im modernen Comic seit Herrimans Krazy Kat (1914) weiterentwickelt, aber auch in den Kinderbüchern einer Beatrix Potter (seit 1901), und in einer Comic-Satire wie La Bête est morte (1945) von Edmond-François Calvo und Victor Dancette. Damit konnte Art Spiegelman (wie in Meta Maus 2011 belegt) auf zahlreiche Vorbilder für die anthropomorphisierten Tierfiguren in Maus und Maus II zurückgreifen, auch aus der jüdischen Tradition (z.B. Vogelkopf-Haggada, 13. Jh.).

Der dritte Vortrag, der sich an diesem Morgen mit der Darstellung der Judenverfolgungen befasste, war Hannelore Greinecker-Morocuttis Bericht über ihre eigene graphisch-narrative Arbeit in „Wie ist die Darstellung des Warschauer Ghettos im Comic möglich?“. Sie bezog sich auf ihre Graphik-Novelle Der Himmel zwischen den Mauern, in der Zeitschrift Chilufim, 10/2011, erschienen. Photographien von Joe Heydecker, die dieser 1941 und 1944 als Mitglied einer Propagandakompanie im Warschauer Ghetto aufgenommen hat, dienten ihr als Inspirationsvorlagen für Tuschezeichnungen mit Feder, Pinsel und Rapidograph. Zwischen den Bildern sind kurze narrative Texte und Dialogstücke einmontiert. So schafft Greinecker-Morocutti eine Distanz zum Dargestellten, die es erst darstellbar macht. Für eine Ausstellung in Linz 2011 wurden die Bilder mit eingestickten roten Fäden gezeigt, sie stehen für die vom Leser zu erfassenden Gedanken der Lea Weizenbaum, die in der Erzählung als Führerin durch das Ghetto dient.

Mit einer anderen Ausprägung des Grauens beschäftigte sich Juliane Blank in ihrem Vortrag über „Die Vergegenwärtigung historischer Mordfälle in der Serienmörder-Trilogie von Peer Meter“. Sie stellte an den Anfang ihrer Analysen von Gift, Haarmann und Vasmers Bruder die Frage nach den Erzählstrategien, die diese historischen Darstellungen benutzen. Zu Grunde liegt das Muster der investigativen Aufdeckung, es wird eine Vermittlerfigur eingesetzt, die eine Dynamik von Verdacht und Bestätigung in Gang setzt. Auch hier wurden historische Photographien als dokumentarisches Ausgangsmaterial benutzt, andererseits schafft der retrospektive Blick immer einen Abstand zum aufgedeckten Geschehen.

Das Dokumentarische blieb auch im nächsten Vortrag im Mittelpunkt. Mona Koch referierte über den „Dokumentarischen Blick in den Comics von Ulli Lust“, nämlich im autobiographischen Comic Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens (2009). Ausgehend vom Titelbild (blickende Augen) fragte Koch nach den ästhetischen und narratologischen Mitteln, die Lust verwendet, um eine 20 Jahre zurückliegende Episode aus ihrem Leben zu vermitteln. Mit Tagebuchausrissen suggeriert Lust eine „Rhetorik der Natürlichkeit“ und setzt in einer Folge von „Schnappschüssen“ so etwas wie einen Kamerablick ein. Koch schloss an Diderots Paradoxe sur le comédien an, um ein Paradox der Autorin zu formulieren: Beobachten ohne selbst beobachtet zu werden.

Heinz Hieblers Vortrag über „Wer rasiert den Barbier? Medienästhetische Inszenierungen von Wissen am Beispiel der Graphic Novel Logicomix“ befasste sich mit der Darstellung von wissenschaftlichen Themen in der Form von Comics. Dabei geht es um die verschiedenen „Strategien der Veranschaulichung“, die für die Vermittlung von komplexen, abstrakten theoretischen Argumentationen verwendet werden. Hiebler hielt fest, dass deren Darstellung in Bild und Text einen epistemologischen Mehrwert ausmache. Die Bilderzählung Logicomix – Eine epische Suche nach Wahrheit von Apostolos Doxladis und Christos Papadimitriou (2009, dt. 2010) benutzt die Biographie von Bertrand Russell, um Probleme der Mathematik und der Logik verbal und visuell vorzuführen, mal als Odyssee, mal als Reiseführer. Hiebler identifiziert fünf Darstellungsebenen: die direkte Ansprache des Lesers, den Kathedervortrag Russells und die Biographie des Philosophen, dazu den Rückblick und den Ausblick; ferner eine Reihe von performativen Strategien (z.B. Personalisierung und Verortung).

Im abschließenden Beitrag zur Passauer Konferenz berichtete Jennifer Willms über Will Eisner unter der Vorgabe seiner Selbstcharakterisierung: „I consider myself doing reportage, reporting to my fellow man what I see“. Willms stellte Eisner als prototypischen New Yorker Juden vor und als Wegbereiter der Graphic Novel, in dessen Werk das Biographische eine entscheidende Rolle spielt. Das betrifft sowohl seine eigene Biographie wie das kollektive Gedächtnis der Jewish-Americans, und schließlich die Geschichte der Stadt New York, die in vielen Bilderzählungen als Protagonist auftritt.

Auch diese Tagung hat offenbart, wie vielgestaltig die Comicforschung ist. Der thematische Rahmen hielt die Beiträge dabei angenehm zusammen, so dass Anschlüsse in großer Zahl gegeben waren und ähnliche Aspekte aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet wurden. Damit bieten die Tagungen der ComFor immer neue Anstöße, über die eigene Disziplin hinaus zu blicken, wie es der Gegenstand Comic ohnehin gebietet.
Wie ein Roter Faden zogen sich vor allem zwei Aspekte durch die drei Tage. Dies waren zum einen Fragen zur Gattung (Biographie, Autobiographie, Dokumentation usw.), zum anderen die Frage nach der Leistungsfähigkeit von Bild-Text-Erzählungen. Die Möglichkeit des Mediums, verschiedene Text- oder Bildsorten wie Photographie, Tagebucheintrag oder Zeitungsausriss in eine Erzählung zu integrieren, wurde wiederholt angesprochen.
Nach fast dreißig Vorträgen musste auch auffallen, wie wenig die Gattung Comic mit dem Komischen zu tun hat — oder ist das irgendwie unter den Tisch gefallen?

(Nina Mahrt und Detlev Gohrbandt)

2 Gedanken zu „Reportagecomics. Dokumentarische Comics. Comicbiographien: Bericht von 6. Jahrestagung der ComFor“

  1. Wird es eine (online-) Publikation der Vorträge geben?

  2. Ja, wird es — ein Tagungsband ist in Vorbereitung. Sobald wir mehr zu Format, Zeitpunkt usw. wissen, veröffentlichen wir auch das hier auf unserem Blog.

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