Rezension: Graphic Women

Hillary L. Chute: Graphic Women: Life Narrative and Contemporary Comics. New York: Columbia University Press, 2010. 316 Seiten, $ 26,50.

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Hillary L. Chute ist keine Unbekannte in der englischsprachigen Comicforschung. Bereits in ihrer Dissertation „Contemporary Graphic Narratives: History, Aesthetics, Ethics“ (2006) und im Rahmen des Themenhefts „Graphic Narrative“, das sie gemeinsam mit Marianne DeKoven für Modern Fiction Studies (Winter 2006) herausgab, wurde ihr Interesse an autobiografischen Comics deutlich. Im selben Jahr folgte ein Aufsatz über Art Spiegelman – „‚The Shadow of a Past Time‘: History and Graphic Representation in Maus“ – der sogar zu einem Engagement bei der Vorbereitung von MetaMaus (2011) führte. Graphic Women (2010) beruht zu Teilen auf ihrer Dissertation und mehreren Aufsätzen und Interviews, die sie in den Jahren 2006 bis 2009 veröffentlichte.

Das Buch gliedert sich in eine längere Einleitung (S. 1-27), in der Chute ihre Textauswahl und Herangehensweise begründet, und fünf Aufsätze (oder Kapitel) über Aline Kominsky-Crumb (S. 29-60), Phoebe Gloeckner (S. 61-93), Lynda Barry (S. 95-134), Marjane Satrapi (S. 135-73) und Alison Bechdel (S. 175-217). Chute bevorzugt dabei die Bezeichnung ‚grafische Erzählungen‘ („graphic narratives“, S. 2) für die Werke dieser Autorinnen, da sie den Begriff ‚graphic novel‘ zu einengend findet.

Obwohl sie gleich zu Beginn 23 weitere Künstlerinnen namentlich und unter Angabe der relevanten autobiografischen Werke erwähnt (S. 1), schafft sie sich bewusst einen kleinen Kanon aus Texten, die von politischem Engagement, künstlerischer Handarbeit, experimenteller bzw. innovativer Erzähltechnik, kontroverser Rezeptionsgeschichte und der komplexen Aufarbeitung traumatischer Erlebnisse geprägt sind. Mit dieser Auswahl an Künstlerinnen („key women in this growing field“, S. 2) verfolgt sie drei Hauptziele: erstens andere feministische Wissenschaftlerinnen und Kritikerinnen auf diese bis jetzt großteils ignorierten Texte aufmerksam zu machen (S. 2), sodann deren Schattendasein neben Spiegelmans alles überragendem Werk Maus zu beenden und schließlich die besonderen Möglichkeiten und Herausforderungen des Mediums im Bereich Autobiografie aufzuzeigen (S. 2f.).

Es ist Chute hoch anzurechnen, dass sie sich mit Kominsky-Crumb und Gloeckner zwei Künstlerinnen gewählt hat, die sie nicht nur gegen Pornografievorwürfe (S. 56f., 75-78) und Zensur (S. 89, 92, 108), sondern vor allem gegen den feministischen Mainstream in den Vereinigten Staaten verteidigen muss (S. 4f., 29f., 32, 37f.). Komisky-Crumbs und Gloeckners Arbeiten zu sexueller Gewalt entsprechen nämlich nicht einer einfachen Opfer-Täter-Dichotomie, sondern verstören die Leserinnen und Leser mit unangenehmen Grautönen, die eine Identifizierung mit den Opfern erheblich erschweren. Diese bewusste Abkehr von politischer Korrektheit und simplen Identifikationsmustern hat wiederholt erheblichen Widerstand hervorgerufen. So lesen sich die ersten beiden Aufsätze über weite Strecken wie lang überfällige Rehabilitierungsversuche. Chute geht ausführlich auf die jeweilige Rezeptionsgeschichte und die konkreten Vorwürfe ein und versucht diese mit umfangreichen Sachargumenten zu entkräften. Hinzu kommt noch, dass sich ‚ihre‘ Autorinnen oft den Vorwurf mangelnder künstlerischer Begabung gefallen lassen mussten, was sich besonders bei Kominsky-Crumb zu einer weit verbreiteten und oft blind übernommenen Abwehrhaltung ausformte (S. 31, 58, 146-9, 247). Gerade in der Rezeption des Künstlerehepaars Aline Kominsky-Crumb und Robert Crumb sieht Chute ein typisches Beispiel für die heuchlerische Doppelbödigkeit, mit der Autoren und Autorinnen bewertet werden. Während Robert als Mitbegründer, wenn nicht gar Erfinder des (autobiografischen) Untergrundcomics gefeiert wird, ist seine Frau bis heute fast unbekannt geblieben (S. 31).

Obwohl Spiegelmans Maus als künstlerische Meßlatte nie explizit angesprochen wird, so steht der Vergleich doch stets im Raum. Dies zeigt sich nicht nur an der Auswahl der Werke, sondern auch in Chutes hervorragenden und überaus detaillierten Kapitel- und Sequenzanalysen, die wohl auch als Komplexitätsnachweise fungieren sollen. Als Beispiele mögen hier die überzeugenden Interpretationen der Schlusssequenz von Alison Bechdels Fun Home (S. 203-217) oder des sechsten Kapitels, „Resilience“, von Lynda Barrys One Hundred Demons dienen (S. 114-120). Leider fallen diese Analysen in Relation zur Gesamtlänge des Buches verhältnismäßig kurz aus, was an der ambitionierten Themenvielfalt der Studie liegt. Während Marjane Satrapis Persepolis und Bechdels Fun Home einer solchen Beweisführung eigentlich nicht bedürften, halte ich den Aufsatz über Lynda Barrys Arbeiten für den wichtigsten Teil des Buches. Neben Kominsky-Crumbs und Gloeckners Comics verdienen vor allem Barrys One Hundred Demons, What It Is und Picture This erhöhte Aufmerksamkeit, da sie durch ihre Experimentierfreude, die intensive Auseinandersetzung mit der Erinnerungsfähigkeit des Menschen und einen multimedialen Ansatz, der mit einer Einarbeitung von Collagen und Fotografien aufwartet, das Genre Autobiografie erheblich bereichern. Chute gelingt es, großes Interesse für diese Arbeiten zu wecken. Warum es so lange gedauert hat, bis sich jemand – zumindest in der englischsprachigen Comicforschung – für Barry zu interessieren begann, bleibt ein Rätsel. Obwohl Chute ganze Arbeit dabei leistet, die Vorzüge von Barrys Büchern sachlich herauszupräparieren, kann sie sich doch einen Vergleich mit Spiegelmans Maus nicht verkneifen, womit sie nicht nur ein eigenartiges Konkurrenzverhältnis heraufbeschwört, sondern auch Barry zur Siegerin in einem (ebenso eigenartigen) Wettbewerb kürt, wer schneller den Sprung auf die metanarrative Ebene schaffe: „Whereas Spiegelman draws himself at his desk, explicitly foregrounding Maus’s enunciative situation […] well into the second volume of Maus (Maus II: 41), Barry does it immediately“ (S. 237).

Das Hauptinteresse der Arbeit gilt aber dem Spektrum künstlerischer und erzählerischer Möglichkeiten im Comic, das in anderen Medien in dieser Form nicht gegeben ist (S. 3, 7-11). Gerade für die Aufarbeitung traumatischer Erlebnisse sieht Chute eine ganze Reihe von Vorteilen (S. 114, 140). Da sie Comics als populärkulturelles Medium im positiven Sinn versteht, sei hier die Möglichkeit gegeben, die scheinbar außergewöhnlichen Schicksale dieser Frauen im alltäglichen Leben zu belassen, wodurch sie umso eindringlicher erschienen. Auch die Vielzahl heterogener Kontexte, wie etwa Geschichtsdarstellung, privates Schicksal, und politisches Engagement bei Satrapi, ließen sich reibungsloser miteinander verknüpfen (S. 40, 135, 153-156). Sie streicht auch eine stärkere Körperbetontheit im Comic hervor („embodiment“, S. 182f., 193-195, 200-3), worunter sie im wesentlichen drei Dinge versteht: erstens „handwriting“ (S. 10f., 110-113, 121, 183, 185-186, 255), also das Hinterlassen von Spuren auf der Comicseite, etwa durch handgefertigte Zeichnungen, zweitens die medienspezifische Notwendigkeit, den eigenen und fremde Körper unentwegt aus unterschiedlichen Perspektiven und in verschiedenen Situationen darzustellen, und drittens, was besonders bei Alison Bechdel der Fall sei, die Rollen aller handelnden Figuren zu übernehmen. Während die Inszenierung der Charaktere ohnehin zur Grundvoraussetzung einer solchen Arbeit gehört, fertigte Bechdel darüber hinaus für jedes Panel ein Foto an, um bei der zeichnerischen Ausgestaltung auf Vorlagen zurückgreifen zu können. Dies führte dazu, dass Bechdel auch physisch in die Rollen ihrer Eltern schlüpfte (S. 200-203). Damit wird im Comic eine Dimension von Körperlichkeit möglich, die in der Prosaautobiografie nicht gegeben ist. Darüber hinaus sieht Chute in der Perspektive, dem speziellen Blickwinkel von Frauen („female gaze“), ein politisches Instrument, da der Blick oft auf den männlichen Betrachter zurückfällt (S. 81-83). Wegen der Kombination mehrerer narrativer Kanäle, Perspektiven, Fokalisierungsinstanzen und Zeitebenen in einem Panel (S. 5, 7) spricht Chute in diesem Zusammenhang oft von Palimpsesten und der Spannung zwischen Sprache und Bildern (S. 5, 101). Diese Vielzahl an Möglichkeiten erlaubt es, sich auf subtile Weise den eigenen Erinnerungen und traumatischen Erfahrungen anzunähern (S. 114f.). Dafür sei die Struktur von Comics hervorragend geeignet, da Fragmentierung und Kontinuität immer gleichzeitig gegeben sind, ein Grundprinzip, das auch bei bruchstückhaften Erinnerungen zu finden sei (S. 4, 114f., 198f.). Chute geht noch einen Schritt weiter und erkennt darin eine spezielle Sprache und Form („idiom of witness“, S. 3) des autobiografischen Comics um Zeugnis abzulegen. Während die Stimmen von marginalisierten, traumatisierten oder unterdrückten Personen über offizielle Kanäle kaum Gehör finden, bietet dieses Medium die Chance, schwierige Themen auf einem alternativen Weg anzusprechen. Dabei dient die Visualisierung und Interpretation einem Prozess der Verarbeitung, der niemals endgültige Ergebnisse liefert (S. 109), auch nicht in Form des fertigen Buches. Chute nennt den Prozess „working through“ (S. 113f., 143, 182, 193) und zitiert in diesem Zusammenhang Charles Taylor: „[T]o be and become a self is to insert oneself into webs of interlocution“ (S. 131) Damit erhält autobiografisches Schreiben auch eine kollektive Funktion (S. 233).

Hilary Chutes Graphic Women ist eine längst überfällige Monografie zu den hervorragenden und tatsächlich oftmals übersehenen Meisterwerken von Comickünstlerinnen und macht Lust, diese Bücher für sich selbst zu entdecken. Graphic Women zeichnet sich vor allem durch detaillierte Analysen, besondere Einblicke, die durch die persönliche Bekanntschaft mit den Künstlerinnen möglich wurden, und eine Vielzahl von relevanten Fragestellungen aus. Aus verständlichen Gründen kann diese Studie aber nur einen Anfangspunkt darstellen. Bei fünf Autorinnen und einer Menge unterschiedlicher Aspekte bleibt eine tiefgreifende Auseinandersetzung teilweise auf der Strecke. Es ist geradezu erstaunlich, wie es Chute trotzdem gelingt, niemals den Faden zu verlieren und so viele Stränge in ihr Textgeflecht einzuweben. Man möchte an manchen Stellen noch gerne wesentlich mehr hören bzw. lesen, aber das würde einen viel klareren Fokus und weniger Primärtexte erfordern.

Zwei Punkte will ich abschließend noch erwähnen, die mit der Textauswahl zu tun haben.

Obwohl Chute das Buch mit dem berechtigten Vorwurf beginnt, dass männliche Kritiker weibliche Künstler oft ignorieren, macht sie sich in gewisser Weise desselben Delikts schuldig. Während sie zwar Robert Crumb, Justin Green (S. 17, 20) und Art Spiegelman im historischen Abriss kaum ignorieren kann, werden andere männliche Autoren systematisch ausgeblendet, selbst wenn ein Querverweis sinnvoll wäre. Aus feministischer Sicht ist es überaus verständlich einen Gegenentwurf zu einer zweifellos männlich geprägten Tradition in der Comickultur und -forschung schaffen zu wollen. Inhaltlich kann ich es nicht ganz nachvollziehen, wenn man etwa bedenkt, dass die Künstlerinnen selbst männliche Kollegen als Vorbilder und Wegbegleiter akzeptieren (z. B. Kominsky-Crumb, S. 37).

Als zweiten Punkt möchte ich notieren, dass sich Chute mit der Auswahl ihrer Autorinnen ein eigenes Universum schafft, das viele Künstlerinnen ausblendet, die ihr nicht in das Konzept passen, wahrscheinlich weil sie ihren literarischen Ansprüchen nicht genügen oder weil deren Kindheitserinnerungen nicht traumatisch genug ausfallen. Debbie Drechslers Daddy’s Girl (1996), das zwei Jahre vor Gloeckner’s A Child’s Life and Other Stories (1998) erschien und inhaltlich (sexuelle Gewalt gegen ein minderjähriges Mädchen) wie künstlerisch genau in die Entwicklungslinie Kominsky-Crumb, Gloeckner und Barry passt, wird auf der ersten Seite kurz erwähnt und dann beharrlich ignoriert. Es ist mir völlig unbegreiflich, wie man ein Werk, das auch kulturgeschichtlich näher an der Thematik des Buches ist als etwa Satrapis Persepolis, einfach übergehen kann. Zumindest eine Erklärung wäre meiner Meinung nach nötig gewesen.

Abgesehen von diesen wenigen Einwänden aber gibt es für Graphic Women eine klare Leseempfehlung.

Markus Oppolzer (Salzburg)

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