Schlagwort-Archiv: Leseempfehlungen

COMFOR-LESEEMPFEHLUNGEN 2020 (TEIL 3/3)

Auch im letzten Teil unserer Reihe haben wir spannende Leseempfehlungen unserer Mitglieder. Wir bedanken uns sehr herzlich für die Tipps sowie die Rezensionen! Sollte Ihnen im heurigen Jahr bei Ihrer Lektüre etwas besonders ins Auge stechen, behalten Sie es im Hinterkopf: 2022 kommt bestimmt, und damit auch die nächste Bitte der Redaktion um Empfehlungen!

Die Leseempfehlungen der letzten Jahre finden sich hier.

Den ersten Teil der Comfor-Leseempfehlungen 2020 finden Sie hier.

Den zweiten Teil der ComFor-Leseempfehlungen 2020 finden Sie hier.

 

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Jennifer Neidhardt

Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Lore Olympus (Webtoon)

„Witness what the gods do…after dark.”

Eines meiner absoluten Comic-Highlights der letzten Jahre ist Rachel Smythes Lore Olympus. Der Webcomic ist mit seinen über 300 Millionen Views der erfolgreichste Comic des Onlineportals Webtoon und kostenlos zugänglich. Momentan ist sogar eine animierte TV-Adaptation durch die Jim Henson Company in Planung.

Lore Olympus ist eine moderne Neuerzählung des griechischen Mythos von Hades und Persephone, in der die klassische Vergangenheit mit der Gegenwart verschmilzt. Die farbenfroh gestalteten Göttinnen und Götter dieser Welt gehen zur Universität, fahren Sportwagen und kommunizieren über Smartphones und Zoom-Meetings, während sich die menschliche Welt noch in der Antike befindet. Die Unterwelt wird so zu einer modernen Metropole und ihr Herrscher Hades zu einem überarbeiteten (und liebenswerten) Firmenchef, der sich auf einer Party in die junge Studentin Persephone verliebt.

Trotz der Einordnung des Comics als romantische Komödie behandelt er komplexe Themen wie Trauma, Missbrauch und Vergewaltigungen und zeigt die griechischen Göttinnen und Götter so von ihrer verletzlichsten und menschlichsten Seite. Die Emotionen der Figuren werden durch die expressionistische Farbgebung und den geschickten Einsatz des Webcomic-Mediums auf eindrucksvolle Weise zum Ausdruck gebracht. Durch miteinander verschmelzende, vertikal gelesene Panels und gelegentliche musikalische Begleitungen werden Leser*innen so auf intimste Weise in das Innenleben der Figuren gezogen.

 

Hanspeter Reiter

Comicoskop

Yuval Noah Harari, Daniel Casanave, David Vandermeulen und C.H.Beck: Sapiens – der Aufstieg

So geht gelungener Sach-Comic! Ein diesem Verlag durchaus angemessenes Großformat-Hardcover von knapp 250 Seiten, Entwicklung und Sein des Homo Sapiens in einer variantenreichen, kunterbunten vierteiligen Graphic Novel. Den Anfang macht „Sapiens. Der Aufstieg“. Als Story mit wechselnder Perspektive präsentiert, verstehen ggf. auch schon Kinder besser, was alles passiert ist, hin zum beginnenden Anthropozän. Darin tritt Yuval Noah Harari selbst auf und analysiert gemeinsam mit seiner Nichte Zoe vergnüglich wie informativ etwa das Schicksal der Neandertaler, schaut sich die Gameshow «Evolution» an und verfolgt die Abenteuer von „Prehistorik Bill“. Durchaus Augen zwinkernd, doch ernsthaft-fundiert auch und gerade für Erwachsene, Farben differenzierend einsetzend – und mit vielerlei Selbstbezügen zum Medium Comic: Da gibt es den Stil der Familie Feuerstein (S. 124ff.) und generell Anklänge an Tim und Struppi (etwa Frau Prof. Sarawati à la Bianca Castafiori) – oder à la Superman Den Doctor (Who?!) Fiction mit Augmented- und Virtual-Reality-Fähigkeiten (S. 81ff., zudem schwarz und eher androgyn): Leser werde selbst mit mehr fündig J … Und freue sich auf die Fortsetzung(en)! Weiter geht´s mit „Der größte Schwindel aller Zeiten – oder wie Super Sapiens vom Weizenmonster übers Ohr gehauen wurde!“.

 

Moritz Stetter: Mythos Beethoven

Fast in Vergessenheit geraten, in Zeiten wie diesen: Das Jubiläums-Jahr 250. Geburtstag Beethovens. Hiermit meldet er sich zurück, als Comic-Biografie von knapp 100 Seiten, als Graphic Novel zum “Revolutionär und Erneuerer“. Ein feines, variables Layout, gewaltig daher kommenden Bildern mit dickem Strich und flächigen Farben. Die Kapitel sind an Musik-Begriffe angelehnt: Präludium – Pathétique – Eroica – La Malinconia – Pastorale – Appassionata – Postludium – Ode an die Freude. „Ganz nach dem Rhythmus Beethovens gestaltet, erkundet die Erzählung in ausgewählten Episoden wichtige Stationen des Komponisten. Sein überragendes Talent und seine Beliebtheit beim Publikum werden ebenso thematisiert wie seine Überheblichkeit gegenüber seinen Zeitgenossen und Gönnern und der allmähliche Verlust seines Gehörs.“ Und sein dennoch (gerade deshalb?!) sensationelles Komponieren… „Gleichzeitig wird aber auch die Rezeption von Beethovens Werk nach seinem Tod behandelt sowie das ikonenhafte „Beethoven-Künstlerbild“ hinterfragt.“ Klischees aufgreifend also und zugleich diskutierend. Mit einem erhellenden Nachwort von Ariana Zustra S. 93ff. „Der Mythos Beethoven“, Ihres Zeichens u.a. Chefredakteurin des #beethoven Magazins. Und vielerlei Original-Zitaten von Zeitgenossen wie aus Veröffentlichungen über Beethoven, jeweils als Fußnote benannt und im Quellenverzeichnis zusammen gefasst: Ein bestens gelungenes Kunstwerk – so ist Comic „Neunte Kunst“, auch und gerade für eine Gattung der anderen, Musik! Hier integriert durch vielerlei Noten-Zitate, teils gar aufwändig eingezeichnet – so hat der Meister selbst mitwirken dürfen J … Eine Ode an Beethoven, dem Leser/Betrachter funke(l)nd schöne Freude bietend, visuell und zugleich – voll tönend, fast synästhetisch…

 

Martin Stark: Der Ring des Nibelungen, nach Richard Wagner

Bilderbogen haben (vor allem im 19. Jahrhundert) Geschichten erzählt, eben primär visuell, textlich nur ergänzend – Vorläufer der US-Comics, die ja lange Zeit als ganzseitige, großformatige Seiten der Sonntags-Zeitungen daher kamen. Diese Tradition hat die Büchergilde nun aufgegriffen und bringt nach und nach moderne Bilderbogen heraus. Hier in einem aufwändigen Konvolut gleich mehrere, die je eins der Werke Richard Wagners aus dem kompletten Zyklus „erzählt“: „Unter- und überirdische Verwicklungen voller Liebe, Drama, Neid und Gefahren und nicht weniger als eine neue Weltordnung. Mit dem Ring schuf Wagner eine generationenübergreifende Geschichte, die eine Aufführungszeit von über 16 Stunden erreicht.“ Der Illustrator Martin Stark hat nun in expressionistischem Stil den Opernzyklus auf vier Bilderbogen umfassend verbildlicht, wahrlich sequenziell. „En goldener Faden führt dabei erzählerisch durch die Handlung der Bilder, die Libretti sind in voller Länge abgedruckt und ein fünfter Bogen erklärt den Stammbaum der Figuren. Wagalaweia!“ Natürlich ein absolutes Schmankerl für jeden Opern- resp. Ring-Fan, fürs häusliche Erleben: Wer mag, kann die Bogen natürlich auch gerahmt an der Wand präsentierten – doch im Grunde ist das eine Graphic-Novel im besten Sinne, eben in Einzel-Bögen aufbereitet… „Jeder der fünf großformatigen Bogen funktioniert anders… Die Leserichtung gibt ein goldener Faden vor, der sich durch das Schwarz-Weiß der Zeichnungen zieht.“ Initiiert und begleitet übrigens von einer Cosima – statt Wagner hier Schneider, der Herstellungs-Leiterin der Büchergilde J …

 

Aleta-Amirée von Holzen

Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM

Drew Weing: Die geheimnisvollen Akten von Margo Maloo

„Margo Maloo“ ist eine erfrischende und gleichwohl nostalgisch angehauchte „Monster in der Stadt“-Story für Kinder. Charles, der kindliche Protagonist, ist wenig begeistert, als er mit seinen Eltern in die Metropole Echo City zieht, weil sein Vater dort ein heruntergekommenes Hotel restaurieren soll. Nicht nur ist der Kasten baufällig, sondern zudem von einem Monster bewohnt. Von Nachbarjunge Kevin erhält Charles die Visitenkarte von Margo Maloo, Monster-Mediatorin. Zu Charles‘ Begeisterung entpuppt sich die gleichaltrige Margo als coole Troubleshooterin zwischen den Welten, ist doch die ganze Stadt vom Briefkasten bis zum Abwassersystem von allerlei Monstern unterwandert. An der Seite dieser souveränen Heldin glaubt Möchtegern-Reporter Charles den Stoff für eine Knüller-Reportage gefunden zu haben – obwohl er versprechen muss, niemandem etwas zu erzählen. Nur wir LeserInnen dürfen über Charles‘ witzige Einträge in seinem Erlebnistagebuch und seinem Blog schmunzeln. Und da Monster im Grunde auch (fast) nur Menschen sind, geht es nie darum, sie zu bekämpfen oder unschädlich zu machen. Vielmehr findet Margo für den jeweiligen Konflikt stets eine diplomatische Lösung – mit dem Hotelmonster lautet diese Actionfiguren-Tauschen. Der erste Band umfasst drei Geschichten; der nächste ist in Vorbereitung. Auf der Homepage des Autors gibt es auf Englisch schon weitere Abenteuer auszugsweise zu lesen.

 

Martin Panchaud: Die Farbe der Dinge

Die Farbe der Dinge wurde gleich zwei Mal empfohlen – einmal von Aleta-Amirée von Holzen und einmal von Lukas R.A. Wilde. 

Ein Unglück-im-Glück-Dilemma steht am Beginn von „Die Farbe der Dinge“: Der 14-jährige Londoner Simon, ein typisches „no hope, no future“-Kid, setzt bei den Pferdewetten tausend Pfund, aus Vaters Sparbüchse entwendet, auf einen Aussenseiter und gewinnt: 14 Millionen! Dumm nur, dass er zu jung ist, um den Gewinn auszulösen. Die Eltern kann er nicht fragen, denn gleich darauf liegt die Mutter nach einem tätlichen Angriff im Koma, der Vater befindet sich wohl auf der Flucht. Um ihn zu finden, nimmt ein ehemaliger Liebhaber der Mutter Simon mit auf einen kurzen Road Trip … Wem in dieser Welt voller (Un-)Glücksritter und Geschäftemacher kann Simon mit dem Los in der Tasche trauen? Simon scheint einfach kein Glück zu haben, doch schliesslich erscheint als abstruser „deus ex machina“ ein explodierender gestrandeter Wal. Martin Panchaud erzählt diese filmreife Geschichte spektakulärerweise in einer, so würde man meinen, absolut der Nüchternheit verpflichteter Darstellungsweise, nämlich allein in Infografiken. Die Figuren sind bunte Punkte, denen man aus der Vogelsperspektive zusieht, wie sie sich durch Pläne bewegen (ähnlich gewisser Game-Optiken); einige gut platzierte zusätzliche Infografiken informieren etwa über das Schmerzlevel bei Faustschlägen oder die Überlebenschancen von Walen. Dieses Gestaltungsprinzip setzt der Künstler beeindruckend einfallsreich wie konsequent um und schafft so eine aussergewöhnliche Graphic Novel.

 

Lukas R.A. Wilde

Medienwissenschaftler, Universität Tübingen

Martin Panchaud: Die Farbe der Dinge

Die Farbe der Dinge wurde gleich zwei Mal empfohlen – einmal von Aleta-Amirée von Holzen und einmal von Lukas R.A. Wilde. 

Die Farbe der Dinge ist schon auf den ersten Blick so ungewöhnlich, dass der Einstieg nicht ganz leichtfällt. Anstelle von szenischen Zeichnungen greift Panchaud ausschließlich auf Diagramme, Infografiken und schematische Kartendarstellungen zurück; seine Progatonist*innen werden exklusiv durch komplementärfarbige Kreise repräsentiert. Damit erschließt sich der Autor eine geradezu unverschämte Palette an neuen Darstellungsmitteln, hinter denen eine manchmal absurd-komische, zumeist aber schmerzhaft-tragische Coming of Age-Story prosaisch eingekleidet wird. Simon Hope, 14 Jahre, gewinnt am gleichen Tag 16 Millionen Pfund beim Pferdewetten, an dem seine Mutter ins Koma fällt und sein gewalttätiger Vater spurlos verschwindet. Trotz der kühlen, distanzierten Optik will Die Farbe der Dinge sehr ernsthaft erzählen, oft sogar in quälend langwierigen, tastenden Dialogen. Ein widerständiges, oft anstrengendes, mitunter auch spektakuläres Buch, an das man sich lange erinnern wird. Als kleines Gimmick zum Abschluss sei an dieser Stelle auch auf Panchauds humorvolle Adaption von Star Wars: A New Hope im gleichen Vokabular verwiesen: https://swanh.net.

 

Mariko Tamaki und Steve Punch: Harley Quinn: Breaking Glass – Jetzt kracht’s!

Harley Quinn in allen Medien! Nachdem der Frühjahrskinofilm trotz wohlgemeinter Ansätze nicht so wirklich aufging überzeugte die neue Harley-Animationsserie mit immer neuen überraschenden Wendungen und Figurenaspekten in konsequent durchgehaltener Cartoon/Comedy-Tonalität. Die alleinstehende Graphic Novel Breaking Glass schlägt einen anderen Weg ein und lässt mit Großmeisterin Mariko Tamaki endlich eine Comic-Gigantin an die Figur, die sie völlig neu erfinden kann – und den Rest von Gotham City gleich mit! Was früher wohl einfach „Elseworld“ genannt worden wäre – Breaking Glass erschien unter DC’s Label „Ink“, heute „Graphic Novels for Young Adults“ – macht schon nach wenigen Seiten vergessen, dass Harley nicht schon immer eine 15jährige Ausreißerin war, die in einem schillernden Drag-Palast voll hinreißender Nebenfiguren erwachsen wird. Nicht nur die Neuinterpretation von („Poison“) Ivy als aufgeklärte Aktivistin, auch Tamakis Abrechnung mit dem Joker machen es fast unmöglich, dieses Figurenensemble noch einmal mit den gleichen Augen zu sehen – oder sich mit weniger komplexen Fassungen zufrieden zu geben! Wer den perfekten Einstieg in etablierte Comic-Topoi für Skeptiker*innen sucht, findet hier ein echtes Juwel.

 

Darcy Van Poelgeests und Ian Bertrams: Little Bird – Der Kampf um Elders Hope

 Little Bird ist die vielleicht merkwürdigste Eisner-Auszeichnung dieses Jahres; zugleich zeitlos und völlig aus der Zeit gefallen mutet dieses Mini-Opus nach einem vergessenen Kult-Comic der 1980er Jahre an. Auf der Handlungsebene haben wir es mit einem dystopischen Regime des „New Vatican“ zu tun, das mit erzkonservativer Rute über ein American Empire wacht! Man kennt, was folgt: Indigene Widerstandskämpfer*innen, genmodifizierte Supersoldaten und grotesker Body Horror. Erzählerisch spielt Szenarist Darcy Van Poelgeests schamlos, und nicht immer nur elegant mit Genreversatzstücken, Pathosformeln, Archetypen, und unverhohlenen Klischees. Doch was Zeichner Ian Bertrams und Kolorist Matt Hollingsworth aus diesen Prämissen hochkochen lassen, muss man selbst gesehen und gelesen haben! Sie setzen nicht nur auf symbolschwere, surreale Verfremdungen, sondern verbinden amerikanische Traditionen (v.A. Geof Darrow, Frank Quitely) auch brillant mit frankobelgischen Phantasmagorien à la Möbius zu einem referenzwürdigen Bilder- und Panelrausch. Das ist Character Design und World Building, wie man sie nur im Comic findet, und auch hier nur selten in dieser Intensität – einzelne Splash Pages und Sequenzen brennen sich geradezu ins visuelle Gedächtnis.

 

Robin-M. Aust

Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Ralf König: Frankenstein

Als neuester Band der insgesamt durchweg interessanten und hochkarätig besetzten Grusel-Literaturcomic-Reihe Die Unheimlichen (hrsg. v. Isabell Kreitz) erschien kürzlich Ralf Königs Frankenstein-Adaption – hier treffen sich also zwei Herren, die bereits für sich genommen eine ungemeine Wirkung in der Popkultur bzw. Comicwelt entfalten konnten. Nach einigen insgesamt durchweg guten, teils aber relativ analogen und leider kurzen Literaturadaptionen der Reihe legt König nun ein konzeptuell und inhaltlich ambitioniertes Werk vor: seine sehr freie Transformation fungiert teils als Metatext zu Mary Shelleys Frankenstein-Erzählung. König verzichtet dabei unerwarteter- aber schönerweise auf die typischen, popkulturellen Frankenstein-Horror-Klischees und erzählt stattdessen eine einfühlsame Geschichte von Einsamkeit und Verlust, von der Sehnsucht nach dem perfekten Gegenstück, und zeigt dabei, dass die Triebfeder menschlichen Strebens manchmal einfach nur die Suche nach Liebe ist, selbst wenn diese gegen gesellschaftliche Normen oder eine göttliche Ordnung verstoßen mag.

Nicolas Mahler: Ulysses

Auch Nicolas Mahler fügt seiner eigenen Reihe von Literaturadaptionen einen weiteren Titel hinzu: nach Alice in Sussex, Alte Meister, Der Mann ohne Eigenschaften und Auf der Suche nach der verlorenen Zeit folgt nun mit Ulysses nach James Joyce ein weiteres Schwergewicht der Weltliteratur. Wie auch schon teilweise in früheren Transformationen geht Mahler mit seinen Prätexten ziemlich frei um – was angesichts der Vorlage vermutlich auch nicht anders möglich wäre: Aus Leopold Bloom wird Leopold Wurmb, aus Dublin wird Wien und aus Ulysses wird ein Comic über… ja, nun, über was eigentlich? Dazu müsste ich vermutlich eine genaue Idee haben, worum es überhaupt in Joyces Original geht. Auf jeden Fall geht es in dieser Transformation um Verlorenheit, Monotonie, Alkoholismus und sexuelle Leistungs(un)fähigkeit – nicht ganz untypisch für Mahler-Comics. Konzeptuell greift Mahler hier auf eine Technik zurück, die er bereits ähnlich auch für seine Gedichtbände Dachbodenfund, Solar Plexy und In der Isolierzelle verwendete, die aber auch in gewisser Hinsicht zur referentialistischen Vorlage Ulysses passt: Teile des Text- und Bildmaterials sind aus Werbeanzeigen und Annoncen des Wiener Neuigkeits-Welt-Blatt collagiert. Das hebt einerseits die Skurrilität dieser Anzeigen hervor (und liefert dem Freund von Jahrhundertwende-Kuriosa einiges an Material). Es macht Ulysses (wie schon Alice in Sussex) andererseits, in Kombination mit vielen Cameos bekannter früher Zeitungsstrip-Protagonisten, zu einer schwanengesangesken Hommage an das Massenmedium schlechthin, dessen Zeit nun langsam zu Ende geht: die Zeitung.

Peter Kuper: Kafkaesque. Fourteen Stories

Auch Peter Kuper widmet sich in seiner neuesten Erscheinung einem ›alten Bekannten‹: Nachdem er 2003 bereits eine höchst gelungene und vielschichtige Adaption von Die Verwandlung vorlegte und einzelne Strips zu anderen Erzählungen Kafkas veröffentlichte, folgt nun mit Kafkaesque eine Zusammenstellung von Adaptionen eher kürzerer Kafka-Texte: neben vielen weiteren werden Der Bau, Der Kübelreiter, Ein Hungerkünstler und Vor dem Gesetz auf wenigen, aber eindrücklichen, detailverliebten und symbolisch wie erzählerisch komplexen Seiten ins visuelle übertragen, teils in relativ analogen Adaptionen, teils in stark konzeptuellen Umdeutungen. In der Strafkolonie bekommt dabei den meisten Platz eingeräumt. Die vermutlich interessanteste Transformation nimmt Kuper aber in seiner Variante von Die Bäume vor: in wenigen Bildern deutet Kuper Kafkas Vier-Satz-Erzählung in eine bedrückende hegemonie- und kapitalismuskritische Bilderzählung um – eine Deutungslinie, die sich nicht nur durch die anderen Adaptionen in Kafkaesque zieht, sondern die er auch schon an Die Verwandlung anlegte und die auch sein sonstiges Werk bestimmt.

COMFOR-LESEEMPFEHLUNGEN 2020 (TEIL 2/3)

Den ersten Streich an Leseempfehlungen für 2020 haben wir bereits gepostet, und der zweite folgt sogleich. Unsere Mitglieder haben im vergangenen Jahr anscheinend doch die eine oder andere Minute zum Lesen gefunden und uns eine ganze Reihe an spannenden Empfehlungen zukommen lassen. Hier nun der zweite Teil; der dritte folgt am kommenden Montag (edit: am Donnerstag, dem 21.01.).

(Die Leseempfehlungen der letzten Jahre finden sich hier.)

 

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Laura Glötter

Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Sean Murphy: Batman: Curse of the White Knight

Mit Batman: Curse of the White Knight (2020) liefert Sean Murphy die Fortsetzung zu seinem vielfach gelobten Batman: White Knight (2019), das nicht nur mit einer extensiven Rogues Gallery, sondern darüber hinaus mit einer komplexen Handlung auftrumpfte. Im Fokus standen dabei die Gentrifizierung Gothams, Bruce Waynes Verstrickungen darin sowie der Einblick in Jokers Psyche. Mit Curse of the White Knight nimmt Murphy genau diese Fäden wieder auf, doch widmet er sich nun vor allem dem Ursprung der Stadt und damit einhergehend der Geschichte der Waynes. Die Basis für Batmans Abenteuer bildet erneut der im ersten Teil geschickt aufgebaute Populismus sowie die verwobene Beziehung zwischen Harley Quinn, Joker und Batman. Dass Murphy in seiner Fortsetzung jedoch den Joker in den Hintergrund rückt und Azrael die Bühne überlässt, ruft freudige Erinnerungen an die 1990er Reihe Knightfall hervor, ohne dabei repetitiv zu wirken. Das kantige, düstere Artwork, das ebenfalls von Murphy stammt und durch die Kolorierung Matt Hollingsworths ergänzt wird, zeichnet sich durch scharfe Schraffuren aus und konzentriert sich, trotz zeitweiligem Minimalismus, vor allem auf die Mimik der Figuren.
Obwohl Murphy bei seinem Charakter-Design Größen wie Tim Burton oder Frank Miller folgt und ebenfalls mit dem Bruch der für Batman typischen Regeln spielt, komponiert er den Batman-Mythos, der sein Finale 2021 im dritten Teil finden wird, doch neu.

 

Dietrich Grünewald
Max: König Kohle

Ein anthropomorpher Vogelakteur schreitet ins Bild, sieht eine Linie, nimmt sie hoch und wickelt sie auf. Der Knäuel wird dick und dicker und zieht dabei so etwas wie ein sehr reduziert gezeichnetes Bergmassiv heran. Die Linie reißt, die Bergwelt verselbständigt sich, wird zum Handlungsort einer Geschichte. Max (d.i. der spanische Comickünstler Francec Capdevila) hat uns mit seinem textfreien Bildroman ein subtiles, vielschichtiges Grafik-Spiel geschenkt, das selbstreferentiell mit der Kunst der Zeichnung und der Bildgeschichte umgeht. Die Linie mag den sprichwörtlichen Erzählfaden einer Geschichte andeuten, der dann zur zeichengebenden Kontur wird. Die Idee, mit einem Stück Kohle einen Schatten-Umriss an der Höhlenwand festzuhalten, referiert auf eigene Art die bekannte Entstehunglegende der Malerei nach Plinius und mag zugleich an Platons Höhlengleichnis erinnern. Bild für Bild, Seite für Seite präsentiert Max eine lieare Geschichte, die demonstriert, wie reich bereits die einfachste Zeichnung sein kann, bewegt, lebendig, abstrakt und überraschend, witzig und dramatisch – bis hin zur Papierpuppenbühne. Große Comickunst für ein genussvolles Seh-Vergnügen.

 

Isaac Wens (Z)/Sylvain Venayre (Sz): Auf der Suche nach Moby Dick

Melvilles weltberühmter und berührender Roman ist schon vielfach als Comic adaptiert wurden, vom Illustrierten Klassiker Nr. 17, dem illistrierten Bestseller von Pelikan (Xenos) bis zu Eisners Moby Dick (dt. Ehapa 1998). Selbst als Mischung von Comic und Pop-up-Buch gibt es die Geschichte (Sam Ita; dt. Knesebeck 2009). Und doch: was Wens und Venayre hier vorlegen, ist keine übersetzte Nacherzählung, sondern ein kongeniales Werk, das nicht nur Melvilles Geschichte neu und spannend zu verfolgen präsentiert, sondern auch den Blickpunkit verändert, den Roman und seine Geschichte selbst thematisiert, uns motiviert weit, tiefergehend, über die spannende Handlung hinaus zu sehen. Ein wahres Denkmal für Melville und für den Wal.

 

Andrea Serio: Rhapsodie in Blau

1938 – Mussolini erlässt für Italien die Rassengesetze, was dazu führt, dass der Ich-Erzähler Andrea Goldstein seine Schulbildung nicht abschließen kann, aus seinem Freundeskreis gerissen wird und von seiner Familie in Sicherheit, in die Obhut einer Tante nach New York verschifft wird. Denn Andrea ist Jude. Er nennt sich jetzt Andrew, gewinnt in den USA ein neues Zuhause; aber er meldet sich zur Armee und kommt im Dezember 1944 mit einem Truppentransporter zurück nach Italien. Er ist Sanitäter – und bei dem Versuch, einen Kameraden zu retten, wird er erschossen. Serios Bildroman – eine freie Adaption des Romans Ci sarebbe bastato von Silvia Cuttin (Epika Editioni 2011) – erzählt die bedrückende Geschichte ruhig, ohne aufputschende Spannung, vielmehr besinnlich. Die wunderbaren Pastellzeichnungen wirken poetisch,  sind stimmungsvoll und lassen den Betrachter stets fühlen, was hinter dem äußeren Geschehen vorgeht. Die Geschichte ergreift durch diese Erzähl- und Darstellungweise auf besonders eindringliche Weise und wird so – vielleicht wirkungsvoller als manche pathetische Darstellung – zu einem ergreifenden Mahnmal.

 

Thomas Hausmanninger

Professor für christliche Sozialethik, Universität Augsburg

Jean Valhardi, l’intégrale 1-6, Dupuis 2015-2020

 Die Neuausgabe sämtlicher Geschichten von Valhardi – in Deutsch sind seinerzeit bei Carlsen nur die Geschichten ab Chateau maudit erschienen – glänzt durch zwei Leckerbissen: Bei den Comics sind nun auch die Geschichten aus den 1940er Jahren enthalten, die relativ gut aus den Vorlagen der Zeitschrift Spirou bzw. des Almanach Spirou reproduziert worden sind. Für das intellektuelle Publikum und die Comicforschung bieten die Bände zudem durch die sehr umfangreichen Dossiers v.a. des Ehepaars Pissavy-Ivernault hervorragende Hintergrundinformation. Dazu sind diese Dossiers mit seltenem Bildmaterial geradezu luxuriös ausgestattet. In diesem Jahr wurde die intégrale-Ausgabe mit dem 6. Band abgeschlossen, so dass sich die Anschaffung en bloc lohnt.

 

Lucky Luke: Nouvelle intégrale 1-2

Gegenüber der älteren französischen und bisherigen deutschen Gesamtausgabe glänzt auch diese Neuausgabe in Frankreich mit den hervorragenden Dossiers der Pissavy-Ivernaults. Leider ist Dupius hier recht zögerlich mit der Publikation, Band 3 ist derzeit zudem vergriffen und der 4. erst für 2022 angekündigt. Auf Deutsch liegt der 1. Band vor, der 2. ist für Juli 2021 angekündigt. Doch lohnen sich allein schon die ersten Bände wegen der genannten Dossiers – die französische Ausgabe ist zudem deutlich preisgünstiger als die deutsche.

 

Didier Convard, Denis Falque: Lacrima Christi 1-6

 In diesem Jahr ist diese Staffel um „Das Geheime Dreieck“ vollendet worden. Die Geschichte zählt zu den verschwörungstheoretischen Erzählungen, wählt mit einer schon im 17. Jahrhundert generierten Biowaffe und einer drohenden Pandemie ein derzeit unangenehm aktuelles Thema. Dennoch lohnt sich die Lektüre – und dies nicht nur wegen des routinierten Erzählers Convard, der einen gut verschachtelten Plot entwickelt, sondern vor allem wegen der extrem detaillierten und zugleich enorm filmischen Zeichnungen von Denis Falque. Befreit vom Produktionsdruck der ersten Staffel kann er nun seine ganze Zeichenkunst entfalten und erhält durch die stimmige, nuancierte Colorierung von Angélique Césano endlich auch eine dieser Kunst angemessene Farbgebung.

 

Kalina Kupczynska

Literaturwissenschaftlerin, Universität Lodz

Moa Romanova: Identikid

Kann man sich in seinem (gezeichneten) Körper verstecken und ihn zugleich entblößen? Moa Romanova zeigt in ihrem autobiografischen Comic so viel Körperlichkeit, dass die Panelrahmen für die weichen weißen, zuweilen rosa oder grau anlaufenden Beine, Rücken, Arme zu eng sind. Dies hat seine Logik: In den Panels wie auch in Moa Leben gibt es zu wenig safe space für das von Angstattacken geplagte weibliche Ich. Schon in den ersten Panels entblößt sich Moa, und zwar doppelt – sie zeichnet sich halbnackt, und sie zeichnet sich auf ihrem Bett liegend, am Handy, „faul und selbstgerecht“; in diesen Settings sieht man sie später oft. Der ausufernde Körper geht zu einer Therapie, auf Techno-Parties, trifft Freundinnen, die als Figuren ebenfalls zu groß und zu breit geraten sind. Viel Raum in den Panels nehmen auch Textnachrichten ein, Moa chattet viel mit einem viel älteren Fernseh-Promi, der angeblich ihre Kunst promoten möchte, aber eigentlich an ihr selbst interessiert ist. Und dann doch nicht. Es ist kompliziert; warum, das will ich nicht spoilern. Es ist auch nicht das Wichtigste in Identikid – der Comic ist vor allem visuell eine Attraktion. Flache, kalte Farben und kantige, urbane Landschaften erscheinen entwirklicht, künstlich und abweisend, kalt wie der Angstschweiß der Hauptfigur. Die raumgreifenden Körperformen erinnern in ihrer Überzeichnung an Figuren aus den US-amerikanischen Underground-Comics – auch diese hatten auffallend kleine Köpfe – bloß ist die Irritation der Körperproportionen hier nicht ein Selbstzweck. Der Comic bedient sich auch aus der Manga- und Funnies-Ästhetik, er ist zuweilen witzig und selbstironisch; Comics waren ein Teil der Sozialisation der schwedischen Autorin.

In Interviews sagt Romanova, sie wollte mit Identikid, der auf ihren Tagebucheinträgen basiert, vor allem eins erreichen – dass über Depressionen, Einsamkeitsgefühle mehr gesprochen wird, dass Betroffene in ihrer mentalen Isolation dennoch das Gefühl haben, sie sind nicht allein. Das Potential des Comics wurde schnell erkannt – er wurde bereits in sieben Sprachen übersetzt (u.a. Englisch, Französisch und Finnisch), in der deutschen Übersetzung begeistern vor allem die vielen jugendsprachlichen Bezeichnungen für Emojis.

COMFOR-LESEEMPFEHLUNGEN 2020 (Teil 1/3)

Die Redaktion der Gesellschaft für Comicforschung wünscht ihren Leser_innen  und Freund_innen einen guten Start ins neue Jahr!

Auch 2020 ist, ob man es glaubt oder nicht, vorbei. Ob wir neben allem anderen auch noch Zeit zum Lesen hatten, sei mal dahingestellt. Zumindest konnten wir aber den Blick zur Genüge über das heimische Bücherregal schweifen lassen – und wie jedes Jahr wollen wir den Leser_innen des ComFor-Blogs auch diesen Winter wieder aktuelle Leseempfehlungen von Comicforscher_innen präsentieren. (Die Leseempfehlungen der letzten Jahre finden sich hier.)

Auch dieses Jahr haben wir unsere Mitglieder unter der Redaktion von Robin-M. Aust und Michaela Schober um ganz subjektive Lektüretipps gebeten, die aus den vergangenen zwölf Monaten im Gedächtnis geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer.

Anders als in den letzten Jahren haben wir uns dieses Jahr entschieden, die Empfehlungen auf mehrere Posts aufzuteilen, um den einzelnen Beiträgen mehr Raum bieten zu können. Hier also nun der erste Teil – der zweite und dritte folgen in Kürze!

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Jörn Ahrens

Professor für Kultursoziologie, Justus Liebig Universität Giessen

 

Uli Oesterle: Vatermilch. Buch 1: Die Irrfahrten des Rufus Himmelstoß

Mit Vatermilch legt Uli Oesterle eine atemberaubende, auf vier Bände angelegte Autofiktion vor. Darin erzählt er die Geschichte seines Vaters und zugleich seine eigene und nennt dies im Nachwort eine „fiktive Biografie“. Dieses sehr persönliche Nachwort verleiht dem Buch das Air der Authentizität, was zweifellos zu dessen Faszination beiträgt. Zugleich fiktionalisiert Oesterle programmatisch und ganz offensichtlich, sodass nie wirklich unterscheidbar ist, wo die Erinnerung in Fiktion übergeht oder Fiktion zu Erinnerung wird. Wie er selbst über das von ihm Erdichtete schreibt: „Jedes einzelne Wort davon ist wahr“. Schöner wurde der Wahrheitsanspruch von Erinnerung selten dekonstruiert, in einer chronologischen und dennoch elliptischen Erzählung. Insbesondere ist dieser Comic auch eine Augenweide. Wo es um den Vater geht, in den 1970er Jahren angesiedelt, reicht die Ästhetik zurück bis in Designs der 1950er und 60er Jahre. Oesterle arbeitet im Grundsatz in schwarz-weiß, zumeist unterlegt mit einer Variation an Grautönen; mal löst er Panelstrukturen auf, mal lässt er Konturlinien weg, sodass die Bilder aussehen, wie Illustrationen aus Kinderbüchern jener Zeit. Erzählt er von der Gegenwart, markiert Oesterle diese Zeitspur mit einem Lilaton, der nichts schönt. Auch seinem Alter Ego schenkt er nichts. Ein großer Comic, auf dessen Fortsetzung man sehr gespannt sein darf.

 

Hub: Schlange und Speer. Teil 1: Schatten-Berg

Mit seiner neuen Serie entwirft Hub eine im Grunde klassisch angelegte Kriminalgeschichte im Reich der Azteken. Außerhalb der Hauptstadt werden Mumien offenbar ermordeter und verunstalteter Mädchen gefunden. Die Mumien und das dahinter stehende Verbrechen sind unheimlich und erschrecken den Vizekönig zutiefst, der einen skrupellosen Sonderermittler beauftragt, die Fälle zu klären. Zugleich ist ein Hohepriester aufgeschreckt von den Vorfällen und beauftragt seinerseits einen Vertrauten mit Ermittlungen. Erzählerisch wie auch in den Zeichnungen ist der Franzose Hub ein Routinier. Da gibt es keinen unnötigen Originalitätswillen. Die Zeichnungen dienen der Geschichte, die klassisch filmisch gebauten Panels unterstreichen die Spannung und den Verlauf der Geschichte. Die wiederum ist ebenso schnörkellos wie gekonnt erzählt. Spannung baut Hub gleich auf mehreren Ebenen auf. Nicht nur gilt es, das Geheimnis der Mumien aufzuklären, auch zwischen den drei Protagonisten gibt es eine Verbindung, die im ersten, voluminösen Band (von dreien) nur angedeutet wird. Die für die Azteken unbedeutende Jahreszahl 1454 zeigt an, dass die Erzählzeit noch deutlich vor Einsetzen der Invasion durch die Spanier liegt. Ein gelungener Band für eine unterhaltsame Abendlektüre.

 

Sylvain Runberg / Francois Miville-Deschenes: Zaroff

Da gab es 1932 die Verfilmung einer Kurzgeschichte von 1924, The Most Dangerous Game, worin Schiffbrüchige auf eine Insel geraten und dort von einem Lebemann wie Wild gejagt werden, dem exilierten russischen Aristokraten Zaroff. Sowohl das Buch als auch diese, scheinbar bekannteste, Filmadaption enden mit dem Tod des Übeltäters. Variationen gab es einige, ob man das alles kennen muss, ist fraglich. Nun folgt eine Variante für den Comic, die eine Fortsetzung entwirft, worin Zaroff überlebt und eine neue Insel bezogen hat. Darin verfolgt die Tochter eines der Opfer seiner Spur, bis sie nicht nur das Inselversteck aufspürt, sondern auch die Familie seiner Schwester. Zaroffs Unglück ist, dass jenes Opfer selbst ein Gangsterboss war, weshalb die Tochter über die nötigen Mittel verfügt, Zaroffs Schwester und ihre drei Kinder auf dessen Insel zu verfrachten und dort selbst zu Objekten eines Jagdspiels zu machen – entweder Zaroff findet sie zuerst oder die Männer der Tochter töten sie. Nun beginnt eine atemlose Jagd durch den Dschungel. Das ist spannend und geradlinig erzählt. Und auch wenn der Realismus der Figuren zuweilen etwas steif wirkt, ist das Dschungel-Ambiente grandios in Szene gesetzt. Zaroff ist ein klassischer Genre-Comic, der, um der stilistischen Geradlinigkeit willen, auch vor Klischees nicht zurückscheut. Gerade das macht ihn aber aufregend und angesichts des offenen Endes wünscht man sich gleich eine Fortsetzung.

 

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Romain Becker

 

Moreil, Roxanne; Pedrosa, Cyril, L’âge d’or. Volume 2, Aire Libre

Klar, L’Âge d’Or ist eine klassische, unterhaltsame Fantasy-Geschichte, in der es um Ritter, Kriege und Schätze geht; sie ist aber auch viel mehr. Einerseits ist da Cyril Pedrosas wundervoller und unvergesslicher Zeichenstil, der hervorragend zur Atmosphäre passt. Inspiriert von mittelalterlichen Wandteppichen und von klassischen Disney-Filmen (der Künstler hat übrigens eine Zeit lang bei Disney als Trickfilm-Animator gearbeitet), mit satten und teils surrealen Farben koloriert, sind die auf Doppelseiten dargestellten Landschaften und Schlachten wahrhaftig beeindruckend – das übergroße Format spielt hierbei auch eine Rolle. Hinzu kommt, dass Pedrosa hier – in mittelalterlicher Manier – im Allgemeinen wenig Panels verwendet und lieber seine Figuren auf ein- und derselben Seite mehrfach durchs Bild laufen lässt: So ist wirklich jede Seite des Comics ein Augenschmaus. Andererseits hinterlässt aber auch die Geschichte, für die Roxanne Moreil und Pedrosa zusammen verantwortlich sind, einen bleibenden Eindruck. Denn die an sich schon interessanten Intrigen rund um die Thronanwärterin Tilda sind eigentlich eine Metapher für die politische und soziale Situation Frankreichs (und anderer Länder): So kann man beispielsweise in den Bauern Gelbwesten und in Tildas Kontrahent*innen und Gefährt*innen verschiedene politische Parteien und Ideologien erkennen. Wie bereits der erste, ist dieser zweite Teil von L’Âge d’Or, der nächstes Jahr auch auf Deutsch (Das Goldene Zeitalter), nämlich bei Reprodukt, erscheinen soll, ein mitreißendes und zutiefst engagiertes Werk.

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Helene Bongers

Kunsthistorikerin, Freie Universität Berlin

 

Hannah Brinkmann: Gegen mein Gewissen

Brinkmann verarbeitet die eigene Familienhistorie und bettet die Biografie ihres Onkels in den gesellschaftlichen und politischen Diskurs um die Kriegsdienstverweigerung im Deutschland der 1960er und 1970er Jahre ein. Der 18-jährige Hermann ist Pazifist und verweigert den Kriegsdienst. Trotz der Verweigerung und eines erniedrigenden und laufenden Verfahrens wird er zum Wehrdienst eingezogen. In der Folge begeht er Suizid. Die Familie sieht in Hermanns Suizid das Versagen des gesellschaftspolitischen Systems. Brinkmanns Spurensuche drückt sich in der Darstellung von Dokumenten, Fotografien und Briefen aus, geht aber darüber hinaus. Sie lässt das bürgerliche Nachkriegsdeutschland anhand von Orten, wie die Kneipe Kehrwieder und das Haus der Großeltern, visuell auferstehen. Interieur- und Gegenstandsdarstellungen, beispielsweise die Libelle in Plexiglas, werden detailreich und wirklichkeitsnah ausgearbeitet. Dieses Abarbeiten an den Oberflächen wird durch die Ästhetik der Bilder unterstützt. Der monochrome Einsatz gedeckter Farben und die klaren schwarzen Konturen generieren eine Flachheit, die in einem spannungsreichen Kontrast zu den Darstellungen des Innenlebens des Protagonisten stehen. Besonders eindrucksvoll ist dabei die formal und inhaltlich zentrale Sequenz der gerichtlichen Anhörung: Die Angst und der Schmerz des Protagonisten werden durch psychedelische Kompositionen vermittelt. Der Schmerz wird körperlich und die Körperlichkeit wird visuell seziert. Am Ende bleibt die Wut über eine Zeit, in der Gesellschaft und politisches System noch eng mit der Nazivergangenheit verbunden waren und das Grundgesetz sich gegen die Menschen wendete. Ein erschütterndes Kapitel des jungen Nachkriegsdeutschlands, bildgewaltig umgesetzt.

 

Melanie Garanin: NILS. Von Tod und Wut. Und von Mut

NILS ist Garanins autobiografische Chronik über die Leukämieerkrankung und den Tod ihres jüngsten Sohnes. Sie umspannt mehrere Jahre und begleitet die Familie aus Sicht der Mutter und Künstlerin durch die Diagnose, den Krankheitsverlauf, den Tod und vor allem auch durch das erste Trauerjahr. Mitweilen humorvoll schafft die Künstlerin Zeichnungen, die eindrucksvoll den Schmerz, die Ohnmacht und den Kontrollverlust und gleichsam die gesellschaftliche ausgesparte Alltäglichkeit und Normalität von Krankheit und Tod vermitteln. Die Dokumentation des Krankheitsverlaufs beinhaltet auch die Krankenhausaufenthalte, die endlosen Gespräche mit den Ärzt*innen, die rechtlichen Folgen und die Friedhofsbesuche. Die Erzählung wird von einer fantastischen Kinderwelt überformt: die Ärzt*innen haben Namen wie Frau Antibiotika-Aber, Tiere und Gegenstände werden zum Leben erweckt und helfen der Protagonistin wie auch uns als Rezipient*innen, das Leid zu ertragen. Die humorvoll detaillierten lavierten Zeichnungen beinhalten kleine Vögel mit Ritterhelmen und Laserschwertern oder die diskutierende Schreibtischlampe, die für die Protagonistin einsteht. Sie erinnern an Sven Nordquists Illustrationen von Pettersson und Findus und greifen Nils‘ kindliche Perspektive innerhalb des ausgewachsenen Leids auf. Diesem fantastischen Realismus folgt auch das bewegende letzte Kapitel, in dem die Künstlerin zu einer Katharsis führt, die sie nur innerhalb ihrer Zeichnungen eigenständig konstruieren kann. Zeichnen fungiert bei Garanin als Trauerbewältigung und Tabubruch.

 

Bernd Kissel und Marc-Uwe Kling: Die Känguru-Comics

Seit Dezember durchbricht auf Zeit Online ein Webcomic in klassischer Comicstrip-Ästhetik das tägliche Doomscolling. Bernd Kissel gewährt dem prominentesten Beuteltier Deutschlands nach Buch, Radio und Film nun auch den Einzug in das Medium Comic. Mit subversiver Leichtigkeit gehen das Känguru und der befreundete Kleinkünstler durch den Corona-Alltag dieses Jahres. Die lakonischen Kommentare zu Kinderbetreuung, Verschwörungstheorien, einschlägigen Videokonferenzplattfomen, Schlangestehen vor dem Späti oder vollen U-Bahnen verpacken eine Prise erbauliche Gesellschaftskritik in kurze und kurzweilige Strips und Tableaus. Formal orientieren sich die Känguru-Comics nostalgisch an klassischen Formaten der Druckpresse: samstags erscheint ein farbiges Tableau im Stil einer ganzseitigen Wochenendbeilage, werktags ein einzeiliger Strip monochrom in Schwarzweiß und Grau. Erstere sind besonders gut für die Rezeption auf dem Smartphone geeignet, letztere für die Rezeption am PC. Kissels Umsetzung von Klings abgeschlossenen Kurzerzählungen zeichnen sich durch aufmerksamen Detailreichtum in Kombination mit reduzierter Strichführung aus, die an Calvin und Hobbes von Bill Watterson erinnert. Insgesamt sind die kurzen Reflexionen des tagesaktuellen großstädtischen Alltags erfrischend und eignen sich als humorvolle Abwechslung zur Lockdown-Depressivität am Ende des Jahres 2020.

 

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Ole Frahm

Literaturwissenschaftler, Arbeitsstelle für Graphische Literatur (ArGL) Hamburg

Rutu Modan: Tunnel

Wenige Tage vor Weihnachten trudelte Rutu Modans neue Graphic Novel ein. Sieben Jahre ist die Veröffentlichung von Das Erbe her, sieben Jahre hat sie an diesen 275 Seiten gearbeitet. Am Ende des Bandes ist eine Liste der Menschen, die für sie die vielen verschiedenen Figuren dargestellt haben – wen das an Hergé erinnert, liegt richtig, denn Zeichenstil, aber auch Figurenrepertoire orientieren sich an der ligne claire, nur dass in der komplexen Welt Israels alles nicht ganz so klar ist. Anders gesagt: 44 Jahre nach dem letzten Tim und Struppi-Album Tim und die Picaros schließt Modan da an. Es gibt verrückte Wissenschaftler, zwielichtige Händler und die karge Landschaft, wie sie aus Im Reiche des schwarzen Goldes oder auch Die Zigarren des Pharaos bekannt ist. Doch tritt auch der Islamische Staat auf, die Mauer, die Israel von der Westbank trennt, spielt ihre Rolle und die sagenumwobende, seit Jahrtausenden verschollene Bundeslade dient als Handlungstreiber. Kurzum: es ist die beste Graphic Novel, die ich seit langem gelesen habe.

 

Paul C. Tumey: Srewball. The Cartoonists who Made the Funnies Funny

Mit einiger Verzögerung ist bei mir wiederum dieser sehr schöne quadratische Band angekommen, der in die frühe Zeit der Comics zurückführt. Neben alten Bekannten wie Frederick Burr Opper oder E.C. Segar, gleichwohl mit Material aus dem Archiv, das wenig wahrgenommen wurde, gibt es tolle Zeichnende zu entdecken wie Clare Victor Dwiggins alias ‚Dwig’ oder George ‚Swan’ Swanson, der so tolle Titel wie Nonsense und $alesman $am gezeichnet hat. Tumeys Texte stehen in der Tradition von Coulton Waugh mit vielen unerlässlichen Informationen, kurzum ein Muß für alle, die sich entfernt für die Geschichte der Comics vor 1939 interessieren.

 

Linda Berry: Making Comics.

Dieser Band wurde mir in dem Hamburger Comic-Laden meines Vertrauens empfohlen und ich habe das nicht bereut. Linda Berry ist eh großartig und hier faßt sie ihre Lehre als Comic-Zeichnerin an der University of Wisconsin-Madison in wunderbare Text-Bild-Seiten zusammen. Ihre Aufgaben für die angehenden Zeichner*innen sind auch ohne Ergebnisse unterhaltsam zu lesen, weil sie die Möglichkeiten der Comics elegant nebenher aufzeigen. „My way of teaching comics is not about developing characters, it’s about waiting to see who shows up in certain circumstances“. Und entsprechend wartet die Sektion über Monster mit sehr lustigen Gefährten auf – um dann auf Batman zu kommen. Für Comic-Forschende eine, wie ich meine, notwendige Ergänzung für jeden Blick auf dieses seltsame Medium.

COMFOR-LESEEMPFEHLUNGEN 2019

Die Redaktion der Gesellschaft für Comicforschung wünscht ihren Leser_innen  und Freund_innen einen guten Start ins neue Jahrzehnt. Wie immer gilt: kein Jahreswechsel ohne Best Ofs – höchste Zeit also, auch in diesem Jahr wieder mit einer Liste von Leseempfehlungen aufzuwarten. (Die Leseempfehlungen der letzten Jahre finden sich hier.)

Entsprechend haben wir unsere Mitglieder unter sanfter Redaktion von Katharina Serles um ganz subjektive Lektüretipps gebeten, die aus den vergangenen zwölf Monaten im Gedächtnis geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer. Die Bandbreite reicht dabei nun etwa von Jodie Bellaires Buffy über Fumettibruttis P. La mia adolescenza trans bis zu Regina Hofers und Leopold Maurers Insekten

In diesem Sinn wünscht die ComFor inspirierende Lektüren ebenso wie produktive Diskussionen über Kanonisierungen und Diversität in der Comicwelt – und freut sich auf ein spannendes Comicjahr 2020!

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Julian Auringer

Comicforscher, www.bilderbogenforschung.de

Brian Augstyn, Mark Waid, Peter Krause, Kelly Fitzpatrick: Archie 1941
Was wäre wenn Archie & Co in jener Zeit gelebt hätten, als ihre ersten Comics erschienen? Erschuf man die Comics ursprünglich, um die daheimgebliebenen Kinder während des Zweiten Weltkriegs von der Abwesenheit ihrer Väter und dem Krieg an sich abzulenken, spielten ernste Themen folglich für die Comics keine Rolle. Doch inzwischen geht der Verlag neue Wege. Obschon es in den 70er Jahren einige düstere Experimente gab, widmete man sich erst in den letzten Jahren intensiv dem Horrorgenre und experimentiert nun also auch mit Themen wie Krieg.
Archie und seine Freund_innen stehen kurz vor dem Highschoolabschluss und wissen nicht, was sie mit ihrer Zukunft anstellen sollen, was Archie dazu inspiriert, sich beim Militär zu verpflichten und gegen die Nationalsozialisten zu kämpfen. Archie 1941 fokussiert dabei nicht nur die innere Zerrissenheit seines Protagonisten, sondern widmet sich vor allem denen, die nicht in den Krieg zogen und dennoch unter seinen Auswirkungen leiden. Das Artwork soll dabei besonders hervorgehoben werden und fängt den Geist der 1940er Jahre perfekt ein. Leider haben viele abgeschlossene Archie-Serien ein großes Manko: Im letzen Band (so etwa beim ebenso schönen Blossoms 666 – bei dem allerdings der Spannungsbogen plötzlich rasant abfällt und die Erwartungen nicht erfüllt werden) wird alles überhastet und teils sehr unprofessionell ins Gute verkehrt, was besonders bei diesem Thema leider den Gesamteindruck schmälert.

Jim: Eine Nacht in Rom (Band 3)
Wer hätte das gedacht? Nachdem die Story um Marie und Raphael bereits in den ersten beiden Bänden perfekt abgeschlossen zu sein schien, wird sie nun um zwei finale Bände erweitert. Beide Protagonist_innen gehen inzwischen auf die 50 zu – und sie stecken erneut in einer Sinnkrise. Einmal noch wollen sie sich treffen und Raphaels 50. Geburtstag in Rom feiern, doch sehen werden sie sich nur kurz.
Nachdem Jim mit Die Erektion mehr (Band 1) bzw. weniger (Band 2) gut mit den Erzählmöglichkeiten des Theaters experimentierte, widmet er sich nun endlich wieder Marie und Raphael. Und obwohl Marie wieder einmal viel zu jung aussieht (wie auch Jim im Nachwort zugibt) transportiert er erneut jene Melancholie, die bereits die ersten beiden Bände auszeichnete. Wieder einmal steht die Frage im Raum, was einen jetzt noch erwartet. Hat man bereits alles erlebt oder wartet die große Liebe noch? Wie mit den Alterserscheinungen umgehen? Wie mit Verlust? All das verpackt der Autor/Zeichner in wunderbare Bilder mit der für Jim typischen Farbpalette Delphines, deren Kolorierung den Geist des Comics perfekt einfängt.

Andreas Eikenroth: Woyzeck
Woyzeck wurde bereits vor einigen Jahren von Dino Battaglia als Comic adaptiert, bot schöne Bilder zu überhasteten Szenen sowie einen sehr ausführlichen Anhang mit einer sehr detaillierten Fassungsgeschichte des Dramentextes.
Obschon mir die Bilder Eikenroths nicht so zusagen wie die von Battaglia, der Stil zwar in die richtige Richtung tendiert (orientiert an Schiele, Liebermann und Co), m. E. jedoch nicht extrem genug ausfällt, überzeugt der Comic durch eine sehr eigene Erzählweise. Eikenroth verwendet einzig Metapanels, also ganzseitige Einzelbilder, die mehrere Handlungssegmente miteinander vereinen. Auf diese Weise gelingt es ihm, die kleine Welt Woyzecks und den Wahnsinn derselben in erdrückender Intensität zu fokussieren.
Unter der Vielzahl an zumeist schlechten Adaptionen bereits bestehender Texte hebt sich Woyzeck ab und zeigt, wie man mit dem Urtext umgehen kann, wenn man sich selbst die nötigen Freiheiten nimmt.

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Robin-M. Aust

Literaturwissenschaftler, Heinrich Heine Universität Düsseldorf

Lucas Harrari: Der Magnet
Der junge Architekturstudent Pierre ist fasziniert von der Therme des Architekten Peter Zumthor und macht sich auf den Weg ins schweizerische Vals, um das Gebäude zu zeichnen. Was vorerst nach einer eher trockenen Story klingt, wird in Lucas Harraris Der Magnet zu einem spannenden Thriller: Die Bewohner_innen von Vals und die anderen Gäste in der Therme verhalten sich seltsam, auch mit Pierre selbst scheint etwas nicht so ganz zu stimmen – und letztlich scheint auch die Therme ein Geheimnis zu bergen, das im Aberglauben der Einheimischen verwurzelt ist.
Harraris erste Graphic Novel ist gleichermaßen eine Hommage an die Architektur der Therme Vals als auch eine spannende Mystery-Geschichte mit metafiktionalen Anleihen. Dabei macht nicht nur die Geschichte den Reiz dieses Comics aus: Harraris rot-blau gehaltene Bilder versprühen einen wunderschönen Retro-Chic und erinnern an die ligne claire oder Werbeillustrationen der Jahrhundertmitte; sie sind gleichzeitig eigentümlich kühl und labyrinthisch, sodass die Leser_innen sich zwischen den organischen Formen der Schweizer Berge und den harten Kanten der Therme teils genauso desorientiert fühlen können wie Pierre auf seiner Suche nach
dem Geheimnis der Therme.

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Tillmann Courth

Comicjournalist und Blogger (COMIXENE, Comicoskop, tillmanncourth.de)

Darko Macan , Igor Kordey: Marshal Bass
Frei nach Eddie Murphys Ausspruch aus Nur 48 Stunden („Es ist ein neuer Sheriff in der Stadt – und er ist schwarz!“) tischen uns die kroatischen Kreativen Darko Macan (Text) und Igor Kordey (Zeichnungen) einen Western auf, wie es noch keinen gab.
Hilfsmarshal River Bass ist Afroamerikaner, alles andere als ein Held und nur ein Mann, der seine Vision von Gerechtigkeit durchzusetzen versucht. Da niemand ihn respektiert, selbst die eigene Frau nicht, muss Bass oft zu rabiaten Mitteln greifen.
Es wird viel gestorben in Marshal Bass, aber es tut immer weh. Dies ist jedoch kein Ballerwestern mit Guten und Bösen, sondern die womöglich realistischste Version des Westens, die uns Comics bis dato präsentiert haben.
Die Handlungsstränge sind erschütternd banal, aber sorgen ihrer Bodenständigkeit wegen für glaubwürdige und nachvollziehbare Entwicklungen. Bass unterwandert eine Bande marodierender Sklaven und gerät in die Bredouille. Bass verfolgt eine Siedlerfamilie, die Reisende ausplündert und umbringt. Bass läuft die Tochter weg und sein unehelicher Sohn will mit ihm abrechnen. Bass geht undercover in den Knast, um einen korrupten Politiker zur Strecke zu bringen.
Kordeys klumpige, fiebrige Illustrationen erinnern an Richard Corben, was dieser Serie einen unbequemen, plastischen Look verleiht. Ein Pseudorealismus, der uns Distanz zum Geschehen bewahren lässt. Noch dazu glänzt dieser Comic mit lebendigen Figuren, einem trockenen Humor und lakonischen Dialogen.
In bisher vier Alben kann River Bass alle Herausforderungen meistern. Denn er ist zäh, entschlossen, bauernschlau und clever genug, einfach mal zu überleben (auch wenn  er dafür anderen das Leben nehmen muss).
Die Geschichte der Comics ist mit Westernstoffen reichlich gesegnet. Für mich jedoch haben die Klassiker Leutnant Blueberry und Comanche erst mit Marshal Bass einen dritten, würdigen Vertreter dieses Genres gefunden.
Hier noch der Link zur Besprechung des ersten Bandes.

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Dietrich Grünewald

Kunstdidaktiker, Emeritus Universität Koblenz-Landau, ehem. 1. Vorsitzender der ComFor

Alain Ayroles, Juanjo Guarnido: Der große Indienschwindel
Das barocke Spanien hat uns den Schelmenroman geschenkt. Die Historia de la vida del Buscón von de Quevedo ist eines seiner Hauptwerke und schildert darin das Leben des Taugenichts Pablos. Der grandiose Comic von Ayroles und Guranido ist nun keine Adaption, sondern führt den Textroman fort, erzählt, wie Pablos, nachdem er in Spanien gescheitert ist, in den südamerikanischen Kolonien sein Glück machen will. Das 160 seitige Werk (Hardcover, 34 x 25 cm) ist wunderbar gezeichnet und koloriert. (Guardino hat seine Kunst ja u.a. schon in Blacksad, Carlsen, bewiesen). Es besticht ebenso durch die spannende, witzig-satirische und groteske Geschichte. Die begeistert vor allem durch die überraschende Dramaturgie. Das fängt schon mit dem zweiseitigen Prolog an. Wer sich ein wenig in der Kunstgeschichte auskennt, wird das gezeigte Personal wiedererkennen: Es entstammt dem berühmten Gemälde von Velazquez, auf dem er sich zeigt, wie er den spanischen König Philipp IV (genannt „König der Welt“, wenngleich mit ihm der Niedergang der spanisch-habsburgischen Weltmachtstellung einhergeht) und seine Gemahlin porträtiert, während die Infantin mit zwei Ehrenjungfern ins Atelier kommt. Eine Zwergin und ein Zwerg, der den Hund neckt, sind auch vertreten. Auf den Prologseiten wird das Bild gewissermaßen lebendig – ohne dass die Betrachter_innen wissen, worum es eigentlich geht, denn der Ich-Erzähler der eingeschobenen Textfahnen nimmt auf das Gezeigte keinen Bezug, sondern begründet seinen Entschluss, nach Indien (als was man damals fälschlicherweise Amerika verstand) aufzubrechen. Drei große Kapitel erzählen nun, wie Pablos auf der Suche nach dem sagenhaften El Dorado zwar nicht das Goldland findet, aber einen großen Betrugscoup startet, um in den Besitz von Silber zu kommen. Das soll per Schiff nach Madrid gebracht werden. Im ersten Kapitel wird aus der Sicht Pablos‘ erzählt, der auf der Streckbank liegend dem Kommandanten, der für den Silbertransport verantwortlich ist, berichtet. Der Ich-Erzähler Pablo spricht in den Textkommentaren; die Bildfolge zeigt das Geschehen in stimmungsvollen Szenerien, wunderbaren Typen, faszinierender Landschaft. Und wo das spannende Geschehen keiner Worte bedarf und ganz aus der Anschauung lebt, so kann über längere Seiten hinweg ganz auf Schrift verzichtet werden. Im 2. Kapitel berichtet dann der Kommandant seinem Vorgesetzten, im 3. Kapitel erzählt wieder Pablo, diesmal direkt dem_der angesprochenen Betrachter_in. Es macht Spaß, der Subjektivität der Erzählpositionen zu folgen, wie sie in modifizierten Wiederholungen den tatsächlichen Handlungsstrang allmählich in der Geschehensfolge freigeben. Der Epilog des Buches führt zurück in Velazquez‘ Atelier – und löst nun in überraschend erstaunlicher Weise auch dieses verblüffende Geheimnis. Um das zu lüften, sei die Lektüre dieses Comics dringend empfohlen. Es lohnt sich.

Alexander Braun: George Herriman’s Krazy Kat.  The Complete Color Sundays 1935–1944
Da hat man was zu schleppen: 44,5 x 35 cm groß, 5 cm dick. Das voluminöse Werk bietet 632 großformatige Seiten: die surreal-philosophisch witzigen, unterhaltsamen, nachdenkenswerten, überraschenden Episoden um den/die verliebte(n) Krazy Kat, den backsteinwerfenden Mäuserich und den Hüter des Gesetzes, Officer Pupp. Ich gebe zu: Ich habe zu tun, das riesige Werk auf den Knien zu balancieren, wenn ich in meinem Lesesessel sitze – aber die Anstrengung lohnt sich! Sie lohnt sich vor allem, weil Alexander Braun dem Buch eine hervorragende Einleitung vorangestellt hat. Sie würdigt nicht nur Herrimans Leben und Schaffen, stellt nicht nur in Text und opulenten Bildern (Fotomaterial, verweisende Comic-Belege und Dokumente) die ganze Comic-Zeichner-Welt dieser Zeit vor. Sie macht vor allem mit klugen Analysen diese besondere, herausragende Comic-Serie ein großes Stück verständlicher, ohne ihr den geheimnisvollen Reiz und ihre Offenheit zu nehmen. Das ironische Papierschauspiel, das Herriman inszeniert und seinen autonomen Beitrag zur Kunstavantgarde des frühen 20. Jahrhunderts, wird vertrauter – und der Blick für all die Feinheiten und Besonderheiten, das freie Spiel mit den Komponenten Akteur, Handlungsort, Zeit, geschärft. Diese gesammelten farbigen großformatigen Sonntagsseiten demonstrieren nachhaltig, welch hohen Stellenwert Comics als Kunst- und Kulturform haben können. Gut – der Sammelband ist mit 150€ nicht gerade billig. Aber er ist sein Geld wert – ein Weihnachtsgeschenk, das einen lang anhaltenden und wiederkehrenden Genuss bietet.

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Thomas Hausmanninger

Christliche Sozialethik, Universität Augsburg

Michel Rouge, Christophe Bec:
Gunfighter 1
Christophe Bec hat mit diesem Comic einmal keine SciFi-Horrorgeschichte geschrieben, sondern beteiligt sich an dem – bis zu einem gewissen Grad – in letzter Zeit bei den französischen Comics feststellbaren kleinen Western-Boom. Seine Erzählung ist klassisch am amerikanischen Western der 1950er bis 1970er Jahre orientiert, nimmt die wachsende soziale Ungleichheit am Beispiel der Rinderzüchter auf und verwebt dies mit einer vielschichtigen Story, die in mehreren Strängen aufbereitet ist. Dabei fehlt auch der titelgebende Gunfighter nicht, dessen Backstory wohl erst in kommenden Alben erschlossen werden wird. Bec gelingen schon mit der Exposition ungemein packende dramatische Momente, die Michel Rouge meisterhaft in Szene setzt. Sein Artwork bietet exzellente, hoch detaillierte und filmisch angelegte Zeichnungen, variiert geradezu virtuos die Panelgrößen und setzt auch das Layout gekonnt dramaturgisch ein. In der französischen Ausgabe genießt man dies im Überformat, das wie ein Cinemascope-Kinoerlebnis wirkt (Splitter wird es wohl ähnlich großformatig veröffentlichen). Der Detailreichtum lädt dazu ein, das Album zu studieren; das dramatische Tempo wird dadurch ein wenig gebremst. Insgesamt ergibt das jedoch ein Leseerlebnis, das haften bleibt.

Laurent-Frédéric Bollée, Philippe Aymond: Les nouvelles aventures de Bruno Brazil 1: Black Program
Mit Bruno Brazil hatte der Texter Michel Régnier alias Greg in den späten 1960er und den 1970er Jahren eine vor allem den Älteren unter uns vertrauten Agentencomic geschrieben, dessen Abschluss die Leser_innenschaft nachhaltig geschockt hatte – eine nicht geringe Zahl der Protagonist_innen wird in der vorletzten und letzten Mission getötet oder mit bleibenden Schäden verletzt; die Titelfigur verfällt in eine Depression. Heute kennt man den schonungslosen Umgang mit Hauptfiguren freilich hinreichend etwa aus den amerikanischen romanartigen TV-Serien und Filmen. Gerade für die ältere Leser_innengemeinde bietet jedoch eben dieser Hintergrund der Originalserie den eigentlichen Point of interest für eine Fortsetzung. Das dürfte Bollée bewusst gewesen sein, als er den Auftakt zu den nouvelles aventures geschrieben hat. So siedelt er klugerweise die neue Story in den 1970er Jahren an – ein period piece, das für sich genommen schon einen Reiz hat und ein wenig an die britische TV-Serie Life on Mars erinnert. Die Geschichte setzt kurz nach dem Fiasko der letzten Mission ein und knüpft direkt an die ursprüngliche Serie an. Das ist ein gelungener erzählerischer Coup – für eben die ältere Leser_innengemeinde. Neuleser_innen hingegen wird man empfehlen müssen, zunächst diese alte Serie zu lesen, um in die Story einsteigen zu können. Philippe Aymond kennt man vor allem als Zeichner von Lady S. Er legt hier nun einen davon abweichenden, recht kraftvollen und mitunter etwas grob wirkenden Tuschestrich an den Tag. Das bricht mit den feinen Linien von William Vance, obschon Aymond in den Rückblenden dessen Panels zitiert. Gleichwohl ist die Neuinszenierung des Klassikers eine gelungene Fortsetzung, die schmutziger als das Original erscheint und dennoch letztlich so dessen Drastik in den letzten Alben in Erinnerung ruft.

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Linda-Rabea Heyden

Literaturwissenschaftlerin, Universität Jena

Shigeru Mizuki: Tante NonNon
Mit Tante NonNon bringt Reprodukt dieses Jahr eine weitere, längst überfällige, deutschsprachige Übersetzung von Mizuki heraus. Der Manga ist vor allem deshalb eine so große Freude für mich dieses Jahr, weil mein Interesse an Mizuki durch seine Darstellungen der japanischen Dämonen und Geisterwesen, den Yokai, geweckt wurde. In Tante NonNon erzählt Mizuki in episodenhaft aneinandergereihten Kapiteln aus seiner Kindheit mit der titelgebenden Ersatzgroßmutter, deren Geschichten und Wissen den Grundstein für Mizukis langjährige Befassung mit den Yokai legen. Von diesen begegnet im Manga ein ganzer Reigen mit oft verblüffend spezifischen Zuständigkeiten und Erscheinungsweisen – z. B. Nurunuru-Bozu, „die sich auf Menschen lehnen, die nachts am Strand sind.“ Die Yokai-Erscheinungen sind eingebettet in Geschichten über Shigerus Freund_innen und Familie, die einem mit ihren Eigenheiten und nicht zuletzt durch den cartoonhaft reduzierten Stil Mizukis ans Herz wachsen. Durch ihre Geschichten, z.B. über die Eröffnung eines Kinos im Ort, die Schul- und Arbeitssituation der Familie, die kindlichen Kriegsspiele, aber auch lebensbedrohliche Krankheiten und Menschenhandel, bietet der Manga nebenbei Einblicke in Japan in den 1930ern und damit verbundene größere Themenkomplexe. Insgesamt ergibt sich eine sowohl informative als auch facettenreiche Lektüre, die auf weitere Mizuki-Übersetzungen hoffen macht.

Jodie Bellaire, Dan Mora: Buffy, Vol. 1
Bis heute gilt die Fernsehserie Buffy für mich als das Beste, was das Fernsehen je hervorgebracht hat. Mit der Weitererzählung der Story in den damaligen Comics bin ich jedoch nie richtig warm geworden. Was für ein großer Spaß und was für eine Überraschung war da der erste Sammelband von Boom! Studios dieses Jahr, der ein Reboot der Serie im Comic darstellt und in der heutigen Zeit spielt. Dabei bleiben die Eckpunkte bestehen, aber werden eben nicht eins zu eins wiederholt. Perfekt schafft es Bellaire, dass Handlung und Figuren gleichzeitig vertraut wirken und doch neu. So ist Cordelia zwar immer noch Prom-Queen, aber weitaus sympathischer. Willow tritt direkt selbstbewusst und mutig auf und lebt offen in einer festen lesbischen Beziehung. Ebenso beginnt Xanders Handlungsbogen vielversprechend und deutet einen größeren an. Dass auch Spike und Drusilla von Anfang an dabei sind, erfreut sehr. Die Charakterisierungen und Storyführung verraten insgesamt eine große Vertrautheit mit den Figuren. Moras Zeichnungen unterstützen diesen Eindruck. Nicht zuletzt sind ganz besonders die Figurendialoge hervorzuheben, die genau den Whedon-esken Wortwitz einfangen und auch außerhalb der unterhaltsamen Actionszenen viel zum Lesespaß beitragen. Der Sammelband macht Lust auf den zweiten und bevor dieser im nächsten Jahr erscheint, möchte man direkt nochmal einen Buffy Re-watch starten.

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Kalina Kupczynska

Literaturwissenschaftlerin, Universität Lodz

Regina Hofer, Leopold Maurer: Insekten
2008 am Jahrestag der Novemberpogrome 1938 zerbricht in einer Wiener Wohnung ein Glas, auf einem Tisch, der von den früheren Bewohner_innen zurückgelassen wurde. Die früheren Bewohner_innen waren Juden, deren Schicksal in der Graphic Novel von Hofer und Maurer immer wieder mit Splittern, mit deformierten Hakenkreuzen, SS-Emblemen ins Abstrakte übertragen wird. Viele Split-Panels lassen die schwarz-weißen Formen, die diverse Tötungsarten als Kriegsrealität von Waffen-SS-Kommandos darstellen, zu beunruhigenden Puzzlebildern einer individuellen Vergangenheit werden, die den Angehörigen lange als unzumutbar erschien. 2004 hat das Wiener Zeichner_innenpaar Maurers Großvater, überzeugten Nationalsozialisten, von seinen Kriegserlebnissen erzählen lassen, die Aufnahmen wurden zur Grundlage der Graphic Novel. Großvaters Erinnerungen wechseln sich ab mit autobiografischen Szenen aus Leopold Maurers Jugend, eingestreut werden u. a. Zeugenaussagen der Überlebenden der Massaker im ukrainischen Babyn Jar sowie Aussagen der Kriegsverbrecher.
Insekten – Fliegen, Mücken – kreisen durch manche Panels, was harmlos wäre, würden sich nicht Panels mit Gräbern voller Leichen dazwischen schieben, und gäbe es da nicht geradezu reflexhaft eine Assoziation mit Art Spiegelman in der Maus-Maske am Zeichentisch, umschwirrt von Fliegen, die die Leichen zu seinen Füßen als organische Realität erkennen lassen. Surreal-rätselhaft wird es, wenn bei Hofer/Maurer menschengroße Insekten Rad fahren, am Tisch sitzen, in einem Blasorchester spielen und so eine Verwandlung suggerieren, die seit Kafka als Sinnbild der (Selbst)Entfremdung gelesen wird. Zwei Zeichenstile erzählen hier zwei Geschichten – Hofers reduzierte Abstraktion lässt den nüchternen Bericht des Großvaters ins Unheimliche steigern, Maurers skizzenhafter Strich verortet das Leben des Nazi-Opas in einer Normalität der österreichischen Provinz. Das Gesicht des Täters wird nicht gezeigt.

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Jennifer Neidhardt

Vergleichende Literaturwissenschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Maia Kobabe: Gender Queer. A Memoir
„I don’t want to be a girl. I don’t want to be a boy either. I just want to be myself.” – Aus Maia Kobabes Tagebuch, 2005
In dem autobiografischen Comic Gender Queer: A Memoir erzählt Maia Kobabe aus eirem* Leben als nichtbinäre Person. Bereits in eirer frühen Schulzeit scheitert Kobabe daran, sich einer binären Identität zuzuordnen und findet stattdessen Halt in der Welt homoerotischer Fanfictions und der Musik von David Bowie. Die Episoden aus eirem Alltag reichen von humorvollen Anekdoten zu gescheiterten Frisörbesuchen bis hin zu beklemmenden Darstellungen von Albträumen über Menstruationsblut. Kobabe zeigt sich stets selbstreflektiert und stellt sich selbst die Frage: Wo ist die Grenze zwischen Geschlechtsdysphorie und internalisiertem Sexismus? Wer definiert überhaupt, was „männlich“ und „weiblich“ ist? E findet Antworten in der biologischen Geschlechterforschung und schlussfolgert: „So Lady Gaga was right – I was born this way.“ In einer Zeit, in der sich Medien über „Transtrender“ zerreißen, ohne diese Personen selbst zu Wort kommen zu lassen, bietet dieser Comic einen wichtigen Einblick in den Alltag queerer Personen und schenkt ihnen eine Stimme, die ihnen sonst oft verwehrt bleibt.
* Kobabe benutzt in der englischen Originalversion geschlechtsneutrale e/em/eir-Pronomen, die bisher kein deutsches Equivalent besitzen.

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Hanspeter Reiter

Comicoskop-Redakteur

Kren Krimstein: Die drei Leben der Hannah Arendt
Eine starke Comic-Biografie hat hier ein Verlag (in Übersetzung) vorgelegt, der eben ein Literatur-Verlag ist: dtv. Als Graphic Novel konzipiert, also als gebundenes Buch (Softcover, fast 250 Seiten), strikt in Schwarz-Weiß (und Grau natürlich), nur der Protagonistin „ihr Grün“ gönnend, wie schon auf dem Cover angedeutet, mit vielerlei Zitaten und viel Einblick in jüdisches Leben unterschiedlichster Einstellungen und Lokationen: „Am Leben zu sein und zu denken ist ein und dasselbe… Hannah Arendt: streitbare Jahrhundertdenkerin, zu früh, zu wütend, auf so einschüchternde Weise klug, zu jüdisch, nicht jüdisch genug. 1933 floh sie aus Nazi-Deutschland ins Exil, über Tschechien, Italien und die Schweiz zunächst nach Paris. Später dann in die USA. Von dort aus avancierte sie zu einer der großen Ikonen unserer Zeit. Die drei Leben der Hannah Arendt skizziert rasant und liebevoll ihren Lebensweg. Mit einem Nachwort von Ken Krimstein.“ Der auf S. 234 seine Gedanken präsentiert, etwa diese: „Ich bin der Meinung, dass die Philosophie – das Denken – etwas sein sollte, womit sich jedermann auseinander setzen kann. Die G.N. mit ihrer einzigartigen Eigenschaft, Worte und Bilder gemeinsam wirken zu lassen, ist ein Medium, das sich besonders gut eignet, komplexe Themen zugänglich zu machen.“ Was er übrigens bestens (aus)nutzt, indem er Hannah Arendt und viele ihre Zeitgenoss_innen ausgiebig mit Worten ins Bild setzt (Walter Benjamin „Der Flaneur“ S. 98), teils auch grafisch aufbereitet, à la MindMap z. B. (siehe die Vielfalt ihres Netzwerks, wie wir heute sagen würden, S. 52f.: Maler_innen, Musiker_innen, Theoretiker_innen, Regisseur_innen) – oder als Podium intellektueller Diskutant_innen, Arendt inklusive (S. 162). Wieder kehrend und über weitere Strecken kommen private Beziehung und inhaltliches Auseinandersetzen mit Martin Heidegger ins Spiel (siehe „Die Jüdin und der Nazi“ u. a. rund um S. 207) – oder auch ihr Umgehen mit dem Eichmann-Prozess (eben „Die Banalität des Bösen“, rund um S. 225). Welch eine Fülle an Gedanken-Austausch, quasi interdisziplinär, Berühmtheiten wie Albert Einstein inkludierend: So geht Geist! Jedenfalls damals… Was ein eigenes Personenverzeichnis sinnvoll macht, das volle sechs Seiten umfasst (S. 238ff.)! Mehrfach entkommt Hannah nur knapp den Nazi-Schergen, mehrfach muss sie wieder weiter, deshalb auch die „drei Leben“, die die Leser_innen miterleben und -erdulden: Zu Anfang „Die Sorgen der kleinen Hannah“ (bis zur Studentin), danach „Hannahs erste Flucht“ (Berlin, S. 49ff.), dann die zweite Flucht (Paris, S. 89ff.), die dritte (New York, S. 149ff.), quasi erweitert final zu „Denken ohne Geländer“ (Jerusalem und danach, S. 213ff.). H. A. natürlich immer qualmend, seien es Zigaretten, seien es Havannas – andere Zeiten, andere Sitten. Ein wildes Denkerinnen-Leben, exzellent „eingefangen“ in Wort und Bild! Verarbeitet sind zudem Original-Texte, wieder eine Form der Adaption (siehe ComFor-Jahrestagung 2019)!

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Janek Scholz

Literaturwissenschaftler, ZPW an der Universität zu Köln

Fumettibrutti: P. La mia adolescenza trans
P. La mia adolescenza trans ist für mich das absolute Comic-Highlight des Jahres 2019. Fumettibrutti zeichnet darin ihre Geschichte als transsexueller Teenager nach, von Selbstzweifeln, die sie über sexuelle Begegnungen zu kompensieren versucht, über Beleidigungen und Gewalterfahrungen, bis hin zu ihrem Mut, die Erwartungen der Gesellschaft zu enttäuschen und sich selbst so zu lieben, wie sie ist – ein klares Plädoyer für mehr Toleranz jenseits der Binarität, was jedoch an keiner Stelle vorwurfsvoll, kitschig oder pathetisch daherkommt.
Es wird erzählt, wie brutal das Heranwachsen sein kann, wenn man „anders“ ist, aber auch, welche enorme Wirkung kleine Momente von Menschlichkeit haben. Der Zeichenstil ist schnörkellos, nichts wird beschönigt. Die Gesichter und die Umgebung werden stark reduziert dargestellt und die Kolorierung beschränkt sich auf gelb, schwarz und weiß – nur P.’s Erinnerungen sind in ein tiefes Lila gehüllt. Im Laufe der Erzählung nimmt P. immer weniger Raum ein, gemeint ist damit jedoch nicht nur der männliche Vorname der Protagonistin, sondern auch das Zeichen der Sünde auf ihrer Stirn (eine Anspielung auf das Purgatorio in Dantes Göttlicher Komödie). P. La mia adolescenza trans ist ein herausragender Comic, der schleunigst ins Deutsche übersetzt werden sollte.

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Véronique Sina

Medienwissenschaftlerin und Genderforscherin, Universität zu Köln,
2. Vorsitzende der ComFor

Helen Blejerman: Lulu la sensationelle
In ihrem autobiografischen Debütwerk Lulu la sensationelle (2014) inszeniert die in Großbritannien ansässige Künstlerin Helen Blejerman mit viel Feingefühl und zeichnerischem Geschick die Geschichte ihres Alter Egos Lulu, einem siebenjährigen Mädchen, das mit seinen Eltern in einem unbekannten Wohngebiet lebt. Eines Tages erleidet Lulus Mutter einen Nervenzusammenbruch, der sie dazu bringt, sich ohne weitere Erklärung in der heimischen Toilette einzuschließen und fortan dort zu leben. Um die emotionale Leere zu füllen, die die Abwesenheit ihrer Mutter hinterlässt, entwickelt Lulu eine Essstörung und beginnt, in ihrem Kleiderschrank zu schlafen. Ihre kulinarische Überkompensation bringt ihr jedoch keine Erleichterung und als Lulu nach den großen Ferien zur Schule zurückkehren muss, wird sie von ihren Mitschüler_innen aufgrund ihrer starken Gewichtszunahme schikaniert. Das Einzige, was Lulu noch bleibt, ist Trost in ihrer Fantasie zu suchen, in dem Traum, ‚Lulu la sensationelle’ zu werden.
Trotz der eher pessimistischen Grundstimmung und des düsteren Inhalts der Geschichte wird der Comic selbst von leuchtenden Pastellfarben dominiert und spielt so gekonnt mit der Erwartungshaltung der Leser_innen, die durch die Aufmachung der Bande Bessinée und Blejermans persönlicher Neuinterpretation der berühmten Ligne Claire an ‚leichte Unterhaltung’ und das Genre des Kinderbuchs erinnert werden. Durch den Verzicht auf Schraffuren oder Schattierungen und die Repräsentation geometrischer Formen sowie körperloser Bilder, kreiert Blejerman eine wunderschöne dichromatische Welt, die scheinbar keinen visuellen Raum für Zwischenräume oder -töne lässt und so das Gefühl von Verlust, Abwesenheit und Einsamkeit verstärkt, welches das Hauptmotiv des Comics bildet.

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Lukas R.A. Wilde

Medienwissenschaftler, Universität Tübingen

Jérôme Tubiana, Alexandre Franc: Guantanamo Kid: Die wahre Geschichte des Mohammed El Gharani
Verlangen verstörende Ereignisse nach verstörenden Darstellungen, um sich nicht der Verharmlosung zu verschuldigen? Jérôme Tubiana und Alexandre Franc werfen einen ganz anderen Blick auf die bis heute anhaltenden illegalen Inhaftierungen, die Menschenrechtsverletzungen und die alltäglichen Folterpraxen in Guantanamo Bay, als man es je in einem engagierten Dokumentarfilm gesehen hätte. Sie übersetzen dafür die Perspektive von Mohammed el Gharani, der nach 9/11 unschuldig an die US-amerikanische Regierung verkauft wurde – im Alter von 13 Jahren. Sie erzählen in simplen Cartoon-Strips von seinen langen Jahren in der Hölle, um gleichzeitig auch zu vermenschlichen: nicht nur eines der jüngsten Opfer der US-Amerikaner im „War on Terror“ und seine Mitgefangenen, sondern auch die „guten Wärter“, und, ja, irgendwie auch die rassistischen Bestien. Doch die naiv-hoffnungsvolle Trotzigkeit, mit der El Gharani heranwächst und dabei trotz allem erst langsam vom Kind zum Jugendlichen wird, motiviert eine Darstellung von Misshandlungen in Comic-Piktogrammen, nicht in graphischen Schockeffekten. Ja, selbst die grausamsten Monster erscheinen so irgendwo menschlich, und genau darin liegt die eigentliche Provokation der Lektüre: In der Alltäglichkeit und Routine, in der jeder nur seinen Job macht, wo doch alle wissen, dass „Nummer 269“ einfach nur unglücklich in die Räder einer ungerechten Maschine gekommen ist, die niemand aufhalten kann oder will.

David Füleki (hg. v. Adrian vom Baur): The Best (and Worst) of David Füleki. Jazam!
Ich habe aus meiner Füleki-Faszination noch nie einen Hehl gemacht, und 2019 wäre ein schlechter Zeitpunkt, damit zu beginnen. Nicht nur, dass Demon Mind Game (Tokyopop) endlich weitergeht; mit dieser wundervollen Jazam!-Werksausgabe ist auch ein Stück deutsche Comic- und Manga-Geschichte erschienen. Das Format Kurzgeschichte so zu meistern ist definitiv ein Ritterschlag, jede Seite vibriert geradezu vor aberwitzigen Ideen und Assoziationen. Und selbst, wenn man einiges schon kennt, wurde ein Großteil der Stories doch erweitert oder stark überarbeitet. Eigentlich fällt keine Geschichte richtig ab, der Ausschlag nach oben bleibt aber für mich „Beppo Biber“: eine Art Persiflage auf lustige Tiercomics aus der Wendy, die auf nur 12 Seiten eine ganze Klaviatur an überraschenden Wendungen formvollendet durchdekliniert. Wie gehabt und bekannt führt Fülekis beliebter Avatar ‚Def‘ durch den Band und schwatzt seinen Leser_innen allerhand Anekdoten und Hintergründe zu jedem Beitrag auf. Meist drehen sich diese um das rahmende Def-Multiversum, das alle Episoden (weit, weit im Hintergrund) irgendwie miteinander verknüpft. Gleichzeitig faltet sich aber auch ein Panorama der deutschen Comic- und Manga-Szenen 2010 bis 2017 vor dem geistigen Auge auf, denn tatsächlich verbindet Füleki beide wie kaum ein anderer…

Nadja Hermann: Erzähl mir nix
https://twitter.com/erzaehlmirnix?lang=de, https://www.facebook.com/erzaehlmirnix/Es wäre geradezu frevelhaft, in einer Liste der (für mich) wichtigsten Comics 2019 Nadja Hermann nicht zu erwähnen, denn: Wir haben sie gerade so bitter nötig! Erzählmirnix ist in diesem Jahr (2019) zum ersten mal vom Blog runter und exklusiv auf Twitter und Facebook, wo ihre Comics vielleicht auch einfach hin gehören, um ihren kleinen Sturm in der Filterblase loszutreten. Ihre „hässlichen, linksgrünversifften Paint-Comics“ (Selbstbeschreibung) sind unsere letzte, beste Chance, allen Familienmitgliedern mit Fremdschäm-Meinungen vielleicht doch irgendwann klar zu machen, was an unserer Kommunikation gerade alles schiefläuft. Kondensiert auf Standardszenen und Archetype, ohne mit all dem abzulenken, was Comics sonst offenbar brauchen: keine Bildhintergründe oder Figurenmerkmale, dafür die ganze szenischen Magie des silent panels und der ungefilterten Affektsemiotik. Dank Nadja Hermann ist der Webcomic gerade wichtiger denn je!

ComFor-Leseempfehlungen 2017

Die Redaktion der Gesellschaft für Comicforschung wünscht ihren Leser_innen  und Freund_innen nachträglich noch einmal einen guten Jahresstart. Auch zu diesem Jahreswechsel möchten wir uns an den Listen aus Leseempfehlungen beteiligen, die man zum Jahreswechsel allerorts finden kann (hier geht es zu Leseempfehlungen der Vorjahre 2014-2016). Unter der Redaktion von Lukas R.A. Wilde haben wir unsere Mitglieder um ganz und gar subjektive Lektüretipps gebeten, die aus den vergangenen zwölf Monaten im Gedächtnis geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer. Im Folgenden also einige Notizen zum Comicjahr 2017!

Juliane Blank

Literaturwissenschaftlerin (Germanistik), Universität des Saarlandes

D’Orsay-VariationenManuele Fior: D’Orsay-Variationen
Avant-Verlag

Auch wenn es sich um ein Auftragswerk des Musée d’Orsay handelt, erzählt der Comic nicht einfach die Geschichte des Museums. Stattdessen träumt sich Fior einen Streifzug durch die Kunstgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zusammen – und zwar ganz wörtlich. Die von den Besucher*innen und den Gemälden genervte Museumswärterin schläft während der Arbeit ein und sieht im Traum ‚ihre‘ Künstler, die sie so gut kennt: In Momentaufnahmen wird gezeigt, wie sich die impressionistischen Künstler*innen um Edgar Degas darüber streiten, ob Kunst in der Natur oder im Museum von den ‚Klassikern‘ gelernt wird. Was hier in Variationen durchgespielt wird, ist die Frage nach der Dynamik von Ablehnung und Verehrung, nach den Mechanismen der Zuschreibung von Kanon und Avantgarde. Die Anekdoten, die Fior erzählt, sind nicht immer belegt; aber der Band ist auch kein Lehrbuch der Kunstgeschichte. Er zeigt vielmehr, wieviel Bewegung in der Kunstgeschichte ist, die uns heute so fixiert und scheinbar unumstößlich entgegen tritt, zumal im Museum. Dabei sieht der Comic auch noch wunderschön aus. Fior demonstriert einmal mehr seine Spezialität, durch Variation des visuellen Stils zu erzählen. Die Überblendungen zwischen verschiedenen Bilderwelten lassen die Leser*innen abtauchen in den Traum von der Kunst, aber auch immer wieder in ihrer eigenen Welt aufwachen – vielleicht mit einem neuen Blick.
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Tillmann Courth

Comicjournalist und Blogger (COMIXENE, Comicoskop, tillmanncourth.de)

My Favorite Thing is MonstersEmil Ferris: My Favorite Thing is Monsters
Fantagraphics

Das ganze Jahr schon mache ich Propaganda für dieses US-amerikanische Werk, das aus dem Nichts kam. Mein Comic des Jahres 2017! Die Comicdebütantin Ferris legt einen 380-Seiten-Klotz vor, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat: ein höchst eigenwillig illustriertes Werk um ein Mädchen aus Chicago, das im Jahr 1968 mit ihrer sexuellen Identität ringt und ihre Umwelt wie einen düsteren Horror-Krimi wahrnimmt. Auf liniertem und gelochtem Schreibheftpapier (!) breitet Ferris mit feinem Buntstift ein Panoptikum der Zeit und ein Sittengemälde der Nachbarschaft aus. Protagonistin Karen fantasiert sich aus ihrem elenden Unterschichten-Alltag heraus, indem sie sich in Kunst flüchtet, Selbstermächtigung aus Horror-Trash gewinnt und als kecke Detektivin einem realen Mordfall nachgeht. Dabei kommen noch dunkle Geheimnisse zu Tage, die bis in ein deutsches Konzentrationslager zurückreichen. Das alles klingt wahnsinnig verblasen, therapeutisch und anspruchsvoll. Dank der Brille der Naivität, durch die Karen blickt, kann Ferris jedoch ihre Themen federleicht und mit viel trockenem Witz jonglieren. My Favorite Thing is Monsters bewältigt auf spielerische Weise, woran sich Dutzende Kunstcomicschaffende die Zähne ausgebissen haben: ein popkulturelles, genderbewusstes, zeitkritisches Familiendrama mit Humor! Für mich ist dieser Comic „the great American GRAPHIC novel“ (eine extensive Besprechung findet sich auf meinem Kulturblog).
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Weiterlesen: Empfehlungen von elf weiteren Comic-Expert_innen der ComFor

ComFor-Leseempfehlungen 2016

Die Redaktion der Gesellschaft für Comicforschung wünscht ihren Leser_Innen  und Freund_Innen nachträglich noch einmal einen guten Jahresstart. Auch zu diesem Jahreswechsel findet man sie überall, die Jahresbestenlisten. Die ComFor möchte sich erneut beteiligen (hier geht es zu Leseempfehlungen der Vorjahre). Wir haben unsere Mitglieder um ganz und gar subjektive Leseempfehlungen gebeten, die aus den vergangenen zwölf Monaten im Gedächtnis geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer. Hier also einige Notizen zum Comicjahr 2016:

Ole Frahm

Literaturwissenschaftler, Arbeitsstelle für Graphische Literatur (ArGL) Hamburg

van DrielGuido van Driel: Als wir gegen die Deutschen verloren haben

Sind Comics ein besonders geeignetes Medium für die Darstellung von Erfahrungen mit Gewalt? Nach der Lektüre von Als wir gegen die Deutschen verloren haben lässt sich sagen: ja, nicht zuletzt weil die gezeichnete, hier gemalte, pastose Bildserie als Tableaus eine Distanzierung erlaubt, in der Traum und Wirklichkeit, Projektion und Materialität seltsam gleichwertig und kritisierbar werden. Das Unwirkliche unserer Wirklichkeit und ihrer Geschichte wird erinnerbar – van Driel erzählt es berdrängend genau. Schon 2002 in den Niederlanden erschienen ist der Band in diesem Jahr endlich auf Deutsch veröffentlicht worden und wirkt so aktuell und überzeugend, als sei er gerade erst produziert.
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MeurisseCatherine Meurisse: Die Leichtigkeit

Sind Comics ein besonders geeignetes Medium für die Darstellung von Erfahrungen mit Gewalt? Nach der Lektüre von Catherine Meurisse Buch Die Leichtigkeit läßt sich sagen: ja, nicht zuletzt weil das gezeichnete Bild eine Distanzierung erlaubt, in der noch das grausamste Geschehen – wie das Massaker, bei dem ein großer Teil der Redaktion von Charlie Hébdo ermordet wurde – mit einem Witz in Rabelaischer Tradition tradiert werden kann. Das ist auch eine Strategie gegen den um sich greifenden identitären Wahn unserer Tage. Dabei ermäßigt Meurisse nichts, der Schrecken, der Schock, das Unwirkliche des Geschehens treten in ihren karikaturesken Zeichnungen deutlich hervor – und beweisen die Kraft der Karikatur und des seriellen Bildes, deren Wiederholungen nicht nur Bearbeitungen des Traumas erlauben, sondern auch manchen Scherz.
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GottfredsonFloyd Gottfredson: Mickey Mouse Vol. 5: ‚Outwits the Phantom Blot’

Sind Comics ein besonders geeignetes Medium für die Darstellung von Erfahrungen mit Gewalt? Nach der Lektüre von dem fünften Band der wiederveröffentlichten Tagesstrips von Mickey Mouse läßt sich sagen: nein. Zwar treten die Deformation der Menschen der kapitalistischen Gesellschaft in Floyd Gottfredsons Zeichnungen deutlich zu Tage, aber die Gewalt, die der Rassismus der 1930er in den Südstaaten bedeutet, wird kaum durch die Kannibalen mit gebrochenen Südstaatenakzent – oder wie Gottfredson schreibt: „cannibals who speak English with a colored accent“ – reflektiert. Da hilft es auch nicht, dass diese Darstellung gerahmt ist: sie findet als Film von Disney in einem Studio statt (und erinnert an den ersten Strip von Mickey Mouse, den Disney geschrieben hat und in dem es auch Kannibalen gibt). Diese Wiederveröffentlichung ist zwar eingeleitet, aber die Kommentare machen vor allem deutlich, wie wenig entwickelt die Comic-Wissenschaft hinsichtlich philologischer Editionen ist. Und so wird auch nur hagiographisch kommentiert, warum die Augen von Mickey am 22.12.1938 von einfachen schwarzen Pupillen in den beiden Rundungen ihres Gesichts zu kleineren Augen werden, wodurch die Rundungen ihre Bedeutung verlieren, und zwar genau in dem Strip, in dem der rassistische Film beginnt. Sehen wir Mickey seitdem nurmehr als Schauspieler, der – wie gegen den agilen Tintenfleck Phantom – alle möglichen Rollen annimmt?
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Dietrich Grünewald

Kunsthistoriker, Emeritus Universität Koblenz-Landau, ehem. 1. Vorsitzender der ComFor

Ich möchte auf zwei Comics hinweisen, die ich mit großem Vergnügen gelesen habe und die ich gerne empfehlen möchte. Beide legen neben der Geschichte besonderen Wert auf eine adäquate Visualisierung:
Smolderen Clerisse
Alexandre Clerisse und Thierry Smolderen: Ein diabolischer Sommer

In Ein diabolischer Sommer erzählt ein Icherzähler ein einschneidendes Erlebnis aus seiner Jugend, das damit endet, dass sein Vater spurlos verschwindet. 20 Jahre später publiziert er die Erinnerung, trifft seine alte Jugendliebe wieder und erhält durch sie Hinweise, die das mysteriöse Geschehen aufklären. Die Geschichte entpuppt sich als spannende Agentengeschichte mit überraschendem Ausgang. Der Reiz des Bildromans liegt in seiner Gestaltung. Das Jugenderlebnis spielt sich 1967 ab – und der Zeichenstil greift wunderbar die bunte Illustrationswelt dieser Zeit auf, wie wir sie z. B. aus Kaukas Münchhausen, aus Bilderbüchern und Zeitschriften kennen, eine bunte glatte Farbenwelt, die mit der Pop-Art und ihr verbundenen Comics wie Jodelle korrespondiert. Nicht nur Architektur, Einrichtung und Kleidung spiegeln die 1960er Jahre, so manche Szene erinnert an die Motive David Hockneys, wobei die Landschaftsdarstellungen mit ihren sich in die Bildtiefe windenden Straßenverläufe seine grandiose Bildwelt aus den 1990er Jahren zitiert und damit eine Brücke über die Zeit schlägt. Und dann ist da noch Diabolik- der maskierte Dunkelmann aus der italienischen Comicserie um den 1962 von Angela und Luciana Giussani erfundenen und von Luigi Marchesi gezeichneten Gentlemen-Verbrecher, der im Geschehen auftaucht… So ist die Geschichte mit ihrem Verweis auf Diabolik und auf das Magazin Pilote auch eine Hommage an frühe Comiclektüre.
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LehmannMatthias Lehmann: Die Favoritin

Lehmann erzählt aus der Perspektive der kleinen Constanze, die isoliert von der Außenwelt in einem Schloss aufwächst, unter der Fuchtel einer gewalttätigen Großmutter und eines passiv-erduldenden Großvaters. Doch Constanze ist tatsächlich ein Junge, dem die Großmutter die Mädchenrolle aufzwingt. Das erinnert an Rilke, den die Mutter im Verlustschmerz über die verstorbene Schwester in eine Mädchenrolle drängte; wie einst Rilke muss auch „Constance“ Mädchenkleidung und lange Haare tragen. Der historisierende Aspekt wird durch die Visualisierung aufgegriffen. Die Zeichnungen wirken ein wenig wie alte Holzstiche, ihr Schwarz-Weiß trägt den bedrückenden Charakter der Geschichte, was wiederum durch absurd-witzige Elemente und die cartoonhafte Darstellung der Akteure, gebrochen wird. Realität und Fantasie, Wunsch und Konstruktion greifen ineinander. Das zeigt sich in Dramaturgie und Layout, in zahlreichen Bildmetaphern und Bildzitaten (wie Ary Scheffers Tod Géricaults, 1824), in den ohnmächtigen Gewaltfantasien „Constances“, der Einbeziehung von Comic-, Film- und Literaturlektüre (Goethes Leiden des jungen Werther) ins Kinderspiel. Wenn „Constance“ den Kindern des portugiesischen Hausmeisterpaares mit einer Maske begegnet, so spielt das auf raffinierte Weise mit der Doppelbödigkeit der Situation, und ihre Demaskierung (was die getragene Maske wie die aufgezwungene Mädchenrolle betrifft) veranschaulicht Leid und Tragik „Constanzes“, die – wie sich dann zu Ende der Geschichte herausstellt – eigentlich Maxime heißt und als Zweieinhalbjähriger geraubt worden war…
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Thomas Hausmanninger:

Christliche Sozialethik, Universität Augsburg

Dorison Allart Xavier Dorison und Thomas Allart: HSE – Human Stock Exchange 1-3

Xavier Dorisons Comics sind bei uns vor allem durch den Erfolg von Das Dritte Testament bekannt geworden und daher häufig auch in Deutsch übersetzt. Bei diesem Dreiteiler fehlt leider (bislang?) die deutsche Ausgabe. Dorison präsentiert darin eine Art Social Science fiction, in der er die neoliberale Konzeption der Marktwirtschaft und die Konsequenzen eines deregulierten Börsenkapitalismus weiter denkt: Die Börse war einst eine Erfindung, die die Acquisitation von Kapital für Unternehmen durch Ausgabe von Anteilsscheinen ermöglichen sollte und in der Folge diese Anteilsscheine selbst als auf dem Markt handelbare Ware betreute. Ausgehend von einem realen Fall lässt Dorison, selbst Absolvent einer Elite-Wirtschaftsschule, nun einzelne Personen und ihre wirtschaftlichen Unternehmungen börsennotierbar werden. Seine Hauptfigur Felix Fox, tätig als Verkäufer im Call Center eines Automobilproduzenten, versucht diese Chance zu nutzen und muss erfahren, was es bedeutet. wenn der Mensch als Ganzer nur noch durch die ökonomische Brille betrachtet wird. Die französische Gesellschaft der Zukunft wird von Dorison als extreme Klassengesellschaft mit über 50% Arbeitslosigkeit gezeichnet, in der die Bürger*innen in ökonomisch aufgeteilten, von paramilitärischen Truppen bewachten Zonen leben. Treffend zerlegt der Autor dabei die Stereotypen neoliberaler Ideologie.
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Rodolphe MarchalBertrand Marchal und Rodolphe: Memphis 1-3

Durch die Zusammenarbeit mit Leo am Universum von Kenya und Namibia steht der Name Rodolphe in letzter Zeit mehr und mehr für phantastische period pieces, also in einer zurückliegenden Epoche mit recht authentischer Zeitgeschichte angesiedelter Erzählungen, die Historie und Phantastik miteinander verweben. Bertrand Marchal und sein ausgezeichneter Colorist Sebastien Bouet setzen mit Memphis nun eine Geschichte in scheinbar den 1960er Jahren in den USA um, bei der sich zunehmend zeigt, dass man sich mitnichten in dieser Region und Zeit befindet. Verschwörungstheoretische Elemente und eine an Rätseln orientierte Narration sorgen für Spannung in einer angenehm langsam und sorgfältig erzählten Geschichte, die als Krimi beginnt und als Science fiction endet. Sebastian Bouets Lichtführung in den Farben ist – wie schon in Namibia – erneut ein Augenschmaus.
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Philippe Richelle u.a.: Les mystères de la … republique

Richelle Philippe Richelle hat sich einen Namen gemacht durch seine beiden vorangehenden Serien Sectrets bancaire und Secrets bancaire USA, in denen er – ähnlich Dorison, aber in der aktuellen Zeitgeschichte platziert – die Folgen des Finanzkapitalismus durchbuchstabiert. Mit den drei parallel laufenden Serien Les mystéres de la – triosième, quatrième, cinquième – republique arbeitet er nun die Zeitgeschichte Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Alle drei Serien sind außerordentlich lesenswert, werden aber wegen ihrer ausschließlichen Konzentration auf die französische Geschichte kaum je übersetzt werden. Es handelt sich jeweils um Krimis, die fokalisiert auf jeweils einen Kommissar als Hauptfigur durcherzählt werden. Skandalöse politische Hintergründe werden dabei stets aufgedeckt, die die Hauptfiguren mit der politischen Zeitgeschichte konfrontieren. Richelle geht mit Frankreich sehr kritisch ins Gericht. Wer Es war einmal in Frankreich hierzulande geschätzt hat, wird mit diesen drei Serien gut und spannend bedient sein. Zeichnerisch leisten Pierre Wachs, der hier einen fließenden Pinselstrich pflegt, und François Ravard, der ähnlich arbeitet, in zwei der drei Serien detailreiche, atmosphärische Bilder. Alfio Buscaglia, der die mittlere Serie zeichnet, bleibt leider hinter den beiden anderen zurück.
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Stephan Packard

Juniorprofessor für Medienkulturwissenschaft in Freiburg, 1. Vorsitzender der ComFor
King Walta
Tom King, Gabriel Hernandez Walta und Jordie Bellaire: The Vision

Superheldencomics habe ich an dieser Stelle schon öfter empfohlen. Die Geschichte, die Tom King hier in 12 Episoden anspinnt und zu Ende bringt, ist auf den ersten und auf den dritten Blick auch einer. Auf den ersten, weil der Protagonist Marvels Superheld The Vision ist: ein vom bösartigen Ultron geschaffener und später zum Guten bekehrter Androide, Mitglied der Avenger, und bisher siebenunddreißigmal Retter der Welt, wie wir in der neuen Serie vorgerechnet bekommen.
Auf den zweiten Blick erweist sich die Erzählung als subtile und perfekt skandierte Tragödie. Ihre meisten Szenen spielen in dem amerikanischen Vorstadthaus, in dem die künstliche Familie, die der Androide sich gebaut hat, scheitert. Die empfindsame Komposition läuft ruhig und nachdenklich ab und raubt den Atem. Zugleich bietet sie beste Hard SF, die noch einmal präzise die bekannte und wieder aktuelle Frage nach dem künstlichen Menschen als Frage nach dem Menschen überhaupt stellt. Eine Antwort auf diese Frage kann ja Liebe lauten. Wie das unerbittlich schiefgeht, steht hier.
Mit Kings genialem Arrangement des Sujets und seinem Wort für Wort perfektem Text (unbedingt im Original lesen!) spielt die graphische Brillanz zusammen: Waltas scheinbar sachliche Zeichnungen treffen jeden emotionalen Ton exakt, und Bellaires gedämpfte Farben kehren die künstliche Pose der Androiden dort hervor, wo sie die verzweifelte Bemühung um authentische Affekte besonders menschlich macht. Dass es allen dreien in Plot, Wort und Bild dann gelingt, auf den dritten Blick auch noch der ganzen Vorgeschichte der Hauptfigur aus mehreren Jahrzehnten populärer Superheldencomics gerecht zu werden, kann man wahrscheinlich erst glauben, wenn man es selbst liest.
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Lukas R.A. Wilde

Medienwissenschaftler, Universität Tübingen

BaitingerMax Baitinger: Röhner

Meine erste Begegnung mit Max Baitingers gleichermaßen brachialer wie subtiler Befindlichkeitsstudie fand in der Erlanger Schuhstraße statt, in der Rotopol während des Comic-Salons eine hübsche kleine Ausstellung arrangiert hatte. Es war aber weniger der Vernissage-Sekt und nicht einmal die Anwesenheit des Künstlers, die mich hinein gelockt hat, sondern eine etwas grummelige Bemerkung eines Erlanger Passanten: „Jetzt stelle’se do schon Gebrauchsanweisungen aus!“ Der aufgeräumte Minimalismus in Baitingers zweitem längeren Werk (nach einer grandiosen Heimdall-Neuinterpretation) ist aber durchaus kein Selbstzweck. Es geht um die pedantischen Zwangsneurosen, die festgelegten Flächen und geordneten Abläufe einer Großstadtexistenz, in die eine Art Naturgewalt namens „Röhner“ einbricht – der „Freund von früher“, den man nicht mal seinem ärgsten Feind wünscht, obwohl er doch eine absolut nette Type ist. Und es gibt ja noch die Frau von Nebenan, und alle Dreiecks-Geometrien dazwischen. Von „unterkühlten Punchlines“ schrieb Oliver Ristau in seiner Kritik, das trifft es recht genau: aber nicht nur sprachlich so perfekt geschliffen, dass keine Silbe Verschleiß bleibt, sondern eben auch in der Bildersprache, die Räume und Gegenstände ständig mit aberwitzigen Metamorphosen bedroht. Das Alltägliche und das Surreale – am Ende ist man sich tatsächlich nicht mehr sicher, warum man beides je für Gegenpole hielt.
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BonhommeMatthieu Bonhomme: Der Mann, der Lucky Luke erschoss

Apropos Comic-Salon: Von all den wiederkehrenden Gesprächsthemen dieses Salon-Jahres ist mir ein etwas alberner Running Gag in besonders guter Erinnerung. „Also dieser Matthieu Bonhomme… Ein guter Mann!„, „Wirklich, ein guter Mann, muss man sagen!“ Scherz beiseite, Bonhomme ist sogar ein ganz großartiger Mann, dem hier etwas wirklich Wunderbares geglückt ist! Überzeugende Nebenfiguren, Italo-Western, kritische Mythen-Reflexion… zu all dem Lob, das dieser Überraschungs-Band bereits erhalten hat, lässt sich nichts hinzufügen. Besonders raffiniert fand ich, dass alles, was man über die Figur „Lucky Luke“ zu wissen glaubte, in Bonhommes Welt selbst Hörensagen-Status hat; quasi die Lagerfeuer-Folklore eines etwas romantisch-überschwänglichen Biographen. Bei Bonhomme zieht niemand schneller als ein Schatten, aber jeder möchte (natürlich!) weiter daran glauben. Und wenn keine Zigaretten mehr geraucht werden können, dann aufgrund von allzumenschlicher Ressourcenverknappung, gemeinen Regenschauern und plötzlichen Windstößen. Auf den Nikotinentzug folgt dann auch unvermeidlich der Zitterich, da ist es mit schnellem Ziehen ohnehin vorbei. Man liest unweigerlich ein wenig mit hinein, wie etwa Tim und Struppi unter einem Bonhomme’schen Weltfilter aussehen könnten…
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Millar QuitelyMark Millar und Frank Quitely: Jupiter’s Legacy

Apropos Dekonstruktion: Ich bin selbst sehr überrascht, dass ich mich noch einmal auf Mark Millars (gefühlt ca. 7000ten) Entwurf einer Superhelden-Entmantelung einlassen konnte. „Was, wenn Menschen in bunten Kostümen die Realpolitik der Gegenwart übernehmen und ein totalitäres Regime zur Weltenrettung errichten würden?“: Von Watchmen über Kingdom Come bis zu The Authority, eigentlich wäre kein Element dieser wilden, genre-reflexiven Collage nicht bereits in den 1990ern in den Tropen-Baukasten eingegangen und längst bekannt. Aber es liegt nicht nur an Frank Quitelys weiterhin atemberaubender Inszenierung, dass es sich hier – einmal mehr, diesmal wirklich, jetzt aber! –“larger than life“ anfühlt. Vielleicht paradoxerweise, weil Millar hier gar nicht größer schreiben will als das Leben. Es sind doch die ganz kleinen Geschichten der sorgfältig ausgearbeiteten Nebenfiguren, die sich am stimmigsten anfühlen. Der leider schon etwas gewohnte Zynismus des Autors lässt hier endlich wieder viel Platz für anderes, für das Licht am Ende des Tunnels, für eine Familien-Saga über drei Generationen, für leise Töne und unverhohlenes Mitfiebern! Endlich wieder mehr als eine Vorlage für actionreiche Verfilmungen (die paradoxerweise vermutlich genau darum auch einen großartigen Film abgeben könnte)! Man darf tatsächlich gespannt sein, ob die Schöpfer diese Töne länger durchhalten.
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ComFor-Leseempfehlungen 2015

Die Redaktion der Gesellschaft für Comicforschung wünscht ihren Leser_Innen  und Freund_Innen nachträglich noch einmal einen guten Jahresstart. Auch zu diesem Jahreswechsel findet man sie überall, die Jahresbestenlisten. Die ComFor möchte sich erneut beteiligen und hat ihre Mitglieder_Innen um ganz und gar subjektive Leseempfehlungen gebeten, die aus den vergangenen zwölf Monaten im Gedächtnis geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer. Hier also einige Notizen zum Comicjahr 2015:

Ole Frahm

Literaturwissenschaftler, Arbeitsstelle für Graphische Literatur (ArGL) Hamburg

Kus 23
Kus #23: Redrawing Stories from the Past
Zu diesem Band, das sei vorweg gewarnt, habe ich das Nachwort geschrieben. Weil die lettische, kleinformatige (A6), aber international vertriebene Comic-Zeitschrift aber wenig bekannt ist, erlaube ich mir dennoch hier den Hinweis. Der Band erscheint mir aus mindestens fünf Gründen lesenswert: 1. Weil er andere Perspektiven auf den Holocaust eröffnet – und auf das Verhältnis von Comic und Holocaust. 2. Weil die fünf Kurzgeschichten indirekt die seltsam selbstverständlich gewordene Notwendigkeit in Frage stellen, vom Holocaust als Graphic Novel zu erzählen. 3. Weil die fünf ZeichnerInnen sehr unterschiedliche ästhetische und narrative Entscheidungen getroffen haben. 4. Weil sie aus vier verschiedenen Ländern kommen: Paula Bulling and Max Baitinger aus Deutschland, Zosia Dzierżawska aus Polen, Vuc Palibrk aus Serbien und Mārtiņš Zutis aus Lettland und auch die den Diskurs interessant öffnet. 5. Paula Bulling an die vergessene Solidarität zwischen arabischen und jüdischen Franzosen erinnert. http://www.komikss.lv/

Golem's VoiceDavid G. Klein: The Golem’s Voice:
Diese Graphic Novel über den Holocaust wäre nicht der Rede wert, wenn sie nicht noch einmal auf den Punkt bringen würde, was seit siebzig Jahren viele Comics umtreibt, die geheime Verbindung zwischen dem Golem und den Comics, dem anorganischen Lehmwesen, das zugleich lebt und nicht lebt, nicht tot ist, aber auch nicht lebendig, und dem anorganischen, bedruckten Papier. Klein lässt wenig Klischees aus, die Geschichte lässt sich ohne weiteres als kitschig bezeichnen, aber wer, die oder der Comics gerne liest, würde das als Argument gegen einen Band verstehen wollen?

LindberghAhndongshik: Lindbergh (8 Bände):
Lindbergh von Ahndonghik enthält alles, was das postmoderne Leser-Herz begehrt: eine Vielzahl von Charakteren, die weder gut noch böse sind; Figuren, die zugleich original wirken und zahllose Klischees zitieren; keine zentrale Erzählperspektive; die Gleichzeitigkeit verschiedener historischer Moden; eine Handlung aus noch mehr Versatzstücken: Ben Hur in den Lüften, Ritterromantik, Piratenabenteuer und moderne Kriegsführung, ein par force-Flug durch die Menschheitsgeschichte – kurzum ein völlig selbstreferentieller Kosmos, der gleichwohl einen entscheidenden bürgerlichen Mythos aufs Korn nimmt: die Beherrschung der Natur, ihre Maschinisierung. Und dies in interessanten Bildern und Verdichtungen, die daran erinnern, dass der Zeichenstift ganz andere Phantasien freizusetzen vermag als selbst das digitalisierte Filmbild.

Dietrich Grünewald

Kunsthistoriker, Emeritus Universität Koblenz-Landau, ehem. Vorsitzender der ComFor

Humboldts letzte ReiseFroissard & Le Roux: Humboldts letzte Reise, eine fantastische Geschichte in packenden und zugleich poetischen Bildern über die (fiktive) letzte Reise des großen Wissenschaftlers.

Ètienne Davadeau: Der schielende Hund – für alle, die Spaß an Kunst und Museen haben – eine amüsante Geschichte um und im Louvre.

Flurin von Salis: Der Mon Ventoux. Kein Comic im eigentlichen Sinne, eine Wort-Bild-Geschichte über den Berg in der Provence, der immer wieder die Fahrradfahrer anlockt – gerade in der etwas spröden Art der Zeichnung ein sehr poetisches Werk…

Und auf noch eine Bildgeschichte möchte ich verweisen, auch wenn sie bereits 2014 erschienen ist, aber wohl zu wenig Aufmerksamkeit bekommen hat:
Der FlussAlessandro Sanna: Der Fluss.
Eine textfreie Geschichte: Jede Jahreszeit wird mit einem seitenfüllenden Bild eingeleitet, um dann über zahlreiche Seiten textfreie Episoden in Registern, i. d. R. in vier untereinander geordneten Panorama-Bildstreifen, zu präsentieren. In einer Reise den Fluss entlang verfolgen wir, wie das Hochwasser im Herbst über die Ufer tritt, im Winter Nebel und Schnee Fluss und Ufer beherrschen und im Stall ein Kälbchen geboren wird, wie im Frühling Hochzeit gefeiert wird mit Tanz und Feuerwerk und im Sommer ein Tiger aus dem Zirkus ausbricht, den ein mutiger Maler im Bild festhält. In wunderbaren, stimmungsvollen Aquarellen, in zarten wie kräftigen Farben, die die Jahreszeiten atmosphärisch aufgreifen, lässt uns Sanna das Leben am Fluss erleben. Das braucht keine Worte; Bildstreifen für Bildstreifen taucht der Betrachter in die gezeigte Stimmung wie in den erzählten Prozess ein und wird vom Beobachter zu Mitspieler, zum Radler auf dem Damm, zum Bootsführer, zum Fluggast im Fesselballon. Die Bildgeschichte ist eine lyrisch-visuelle Ballade, eine Hymne auf den Fluss, nicht nur auf Norditaliens Po, der Sanna inspirierte, sondern übertragbar eine Liebeserklärung an alle Natur.

Max Höllen

Kulturwissenschaft und Kulturmanagement an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg
Der TrinkerJakob Hinrichs: Hans Fallada – Der Trinker.
Scott McCloud beschreibt in seinem Lehrbuch Comics machen vier verschiedene Typen von Comic-Künster_innen: Klassizisten, Animisten, Formalisten und Ikonoklasten. Wenn solche Archetypen auch oft einer universalen Anwendbarkeit entbehren und mit der Zeit überdacht werden müssen, so kann man sie doch zur Analyse der Dimensionen Schönheit, Erzählung, Originalität und Authentizität verwenden, wobei man feststellen muss, dass Hans Fallada – Der Trinker von Jakob Hinrichs an allen vier Lagerfeuern seinen Platz findet: Die expressionistischen Illustrationen mit ihren ständig wechselenden Farbkombinationen und –kompositionen lassen den Grafik-Design-Handwerker erkennen, doch reizt dieser damit das Medium Comic bis an seine Grenzen aus und experimentiert grafisch mit Figurengestaltung, Seitenarchitektur und Paneleinteilung was das Zeug hält. Die Geschichte ist dabei genial verschränkt und so vielschichtig, dass man in der Mitte bei einem Buch in einem Buch in einem Buch angekommen ist, nur damit die Ebenen am Ende auf verblüffende Weise zusammenkrachen. Das Farbenspiel hilft bei der Orientierung, wobei die bunte Welt, die Hinrichs erschafft, nicht über Dreck und Elend von Drogensucht, Gefängnis und nationalsozialistischer Unterdrückung hinwegtäuschen kann. So bekommt sogar die deutsche Comic-Koryphäe und Zeitgenosse Hans Falladas e.o.plauen seine Hommage. Wer nüchtern an die Sache herangeht, wird durch die komplexe Erzählung, die aufreizende Farbsymbolik und die psychedelischen Zeichnungen bald betrunken sein von diesem künstlerischen Hochgenuss – also bitte nicht zu viel auf einmal zu Gemüte führen, sondern in kleinen Dosen konsumieren.

Stephan Packard

Medienkulturwissenschaftler, Vertretungsprofessor für Theorien und Kulturen des Populären an der Universität zu Köln
Resist Comics
Can Yalçınkaya hat mit Resist Comics: Scenes from the Gezi Resistance eine bemerkenswerte, ästhetisch wie politisch widerständige Anthologie herausgegeben. Auf 110 Seiten finden sich fast 30 Comics: abstrakte und konkrete, Erzählungen und Impressionen, Einseiter und Fortsetzungsgeschichten, von bekannten Namen und pseudonymen sowie anonymen Künstler_innen. Alle beschäftigen sich mit der sog. „Occupy Gezi“-Bewegung in der Türkei im Sommer 2013. Am Protest gegen ein Bauprojekt im Gezi-Park in Istanbul hatte sich ein allgemeiner Widerstand gegen Erdogans Regierung gebildet; nach der gewaltsamen Räumung am 31. Mai wiederholten sich Proteste in anderen Städten. Die vorliegende Sammlung verhandelt die Möglichkeiten von Politik und Zeitgeschichte in Comics in verschiedensten Registern: Einige Beiträge sind unmittelbar engagierte Kunst, die zu spezifischem Handeln aufruft; andere reflektierten autobiographisch Erlebnisse bei den Protesten; etliche finden Bilder für die oft nur indirekt greifbare Hoffnung auf eine andere und anders politische Zukunft. Die Sammlung entstand auf sozialen Netzwerken; an #diren/#resist hängte sich #DirenCizgiRoman/#ResistComics an. Neben einer Kickstarter-finanzierten Druckausgabe hat sich die Anthologie nun vor allem digital über Comixology international verbreitet. „Gezi“ bedeutet Rundgang oder Spaziergang; die Comics in dieser spannenden Sammlung durchwandern persönliche Erinnerungen und politische Entwürfe und werfen ruhige oder aufgeregte Blicke in die jüngste Vergangenheit und auf mögliche Szenarien für die Zukunft.

Lukas R.A. Wilde

Medienwissenschaftler, Doktorand Universität Tübingen

Sousanis: UnflatteningNick Sousanis‘ Unflattening
hat nun wahrlich einiges an Aufmerksamkeit erhalten im vergangenen Jahr – eine Dissertation in Form eines Comics, eingereicht und angenommen an der ältesten erziehungswissenschaftlichen Graduiertenschule der USA, dem Teachers College der Columbia University, das hatte einiges an Spektakelwert! Dieser hat meines Erachtens leider ein wenig überschattet, was für ein inspirierender Lesestoff Unflattening vor Allem geworden ist! Entlang Edwin A. Abbotts phantastischer Novelle Flatland (1884), in der ein Bewohner eines 2D-Universums Ausflüge in die erste, dritte und schließlich sogar vierte Dimension unternimmt, lädt Sousanis ebenfalls auf eine Reise an die Grenzen der Vorstellungskraft und des Denkens ein – und zwar programmatisch entlang des Zusammenspiels von Textlichkeit und Bildlichkeit. Dass er dabei ohne gezeichnete Erzählerfiguren à la McCloud, aber auch ganz ohne Darstellungen raumzeitlicher „Storyworlds“ auskommt, stellt nebenbei eine interessante Herausforderung an solche „Comic“-Definitionen dar, die allzu sehr dem Narrativen verhaftet sind. Auf fast jeder Doppelseite darf man sich neu von den diskursiven, metaphorischen und epistemischen Funktionen von „Bildern“ überraschen lassen, die weitaus mehr (und immer wieder anderes) können, als die Wahrnehmbarkeit von physischen Einzeldingen abzubilden. Ob Unflatting wissenschaftlich anschlussfähig sein mag, dahingestellt – trotz unzähliger Fußnoten und weiter kulturgeschichtlicher Überblicke bleibt es doch vor Allem ein Lektürespaß, den man schon alleine aus diesem Grund zur Hand nehmen sollte.
Weiterlesen: Drei Bonus-Empfehlungen von Max Höllen aus dem Kalenderjahr 2014

ComFor-Leseempfehlungen 2014

Zu jedem Jahreswechsel findet man ihn überall, den geheimnisvollen Zauber der Liste. Auch die Gesellschaft für Comicforschung möchte sich beteiligen und hat ihre Mitglieder nach subjektiven Leseempfehlungen befragt, die aus den vergangenen zwölf Monaten im Gedächtnis geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer. Hier also einige Notizen zum vergangenen Comicjahr 2014:

Ole Frahm:

Medienwissenschaftler, Arbeitsstelle für Graphische Literatur Hamburg

2014_Burns_kleinCharles Burns: Sugar Skull
Es ist immer traurig, den dritten Band einer Trilogie zu lesen, der doch auch gerne der erst dritte Band einer unendlichen Serie werden könnte. Und dann lösen sich die verschiedenen Auslassungen, ausgemerzten Erinnerungen, mit denen der erste Band X’ed Out seine Leser verwirrte, bei einer ersten Lektüre vielleicht zu leicht auf, was immer einen Grund für eine Enttäuschung bietet. Doch Charles Burns gelingt es mit dieser scheinbaren Einfachheit überhaupt erst sein Argument über die Comics, insbesondere Tim und Struppi zu entfalten. Das alte Thema der Abwesenheit von Sexualität in Hergés Serie gewinnt hier in dieser graphischen Psychoanalyse eine neue, keineswegs einfach zu deutende Perspektive – nicht zuletzt in der Konstellation mit Romance Comics, dem New Wave-Aufbruch der frühen 1980er Jahre, Jugendkultur und der aktuellen Frage der Aneignung der Zeichen.

2014_tardi_kleinJacques Tardi: Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB
Ein merkwürdiger Comic. Der Zeichner als Jugendlicher geht in einem dauernden Verfremdungseffekt mit seinem Vater durch dessen Soldatenleben im 2. Weltkrieg, besonders dessen Gefangenschaft im Stalag. Die Penetranz, mit der Tardi als Junge unbeantwortete Fragen stellt – sein Vater ist schon lange tot, der Zeichner vermerkt im Vorwort, dass er eben versäumte, diese Fragen zu stellen, erzeugt eine ganz eigenartige, dichte Atmosphäre, in der die Geschichte als Konstruktion tatsächlich von der Jetztzeit erfüllt ist, wie sie nur im Comic zu haben ist: gespalten, aber auf einer Seite, in einem Buch. Und es macht deutlich, wie säumig die bundesdeutschen Comiczeichner sind.

2014_kichka_kleinMichel Kichka: Zweite Generation
Ein wirklich kluger und anrührender Versuch vom Leben der Generation zu erzählen, deren Eltern den Holocaust überlebt haben. Vor allem Kichkas am funny geschulter Zeichenstil vermag es, der Überlieferung des Holocaust in unseren Tagen einen bisher so nicht gekannten Aspekt abzugewinnen.

Weiterlesen: Zu drei mal drei weiteren Leseempfehlungen