Rezension: Andreas Seifert: Bildgeschichten für Chinas Massen

Rezension zu: Andreas Seifert: Bildgeschichten für Chinas Massen. Comic und Comicproduktion im 20. Jahrhundert. Köln: Böhlau Verlag 2008. 309 S., zahlreiche Ill. € 44,90.

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Das hochgesteckte Ziel des Autors ist es, den Comics in China von ihren Wurzeln bis in die Gegenwart nachzuspüren und dabei verschiedene Spielarten und deren Exponenten zu präsentieren. Von der Frage ausgehend, wie Comics in gesellschaftliche Entwicklungen eingebettet waren und welche gesellschaftlichen Kräfte von ihnen Gebrauch machten, will er klären, warum die originären Formen chinesischer Comics zum Ende des 20. Jahrhunderts fast völlig durch ausländische Formen wie den japanischen Manga-Stil verdrängt wurden. Dabei geht er von der Grundannahme aus, daß Comics zeitweise ein „kulturell konstituierendes Medium“ in dem Sinn waren, daß sie – wie andere massenhaft gedruckte Publikationen seit 1950 – spezifische Funktionen im Bereich der Identitätsbildung sowie der politischen und gesellschaftlichen Anleitung übernahmen (2).

Die Werkeinteilung ist seltsam unausgeglichen. Die Einleitung mit 18 Seiten und der sieben Seiten lange Schluß bilden die Kapitel 1 und 4. Auf Kapitel 2 mit 41 Seiten, das die Entwicklung des Comic bis 1949 zum Gegenstand hat, folgt ein Kapitel mit 191 Seiten zum „Comic“ in der Volksrepublik China. Dieses 3. Kapitel ist wiederum in zwei Teile mit chronologischem bzw. thematischem Zugang geteilt. Weshalb Seifert die Teile nicht als separate Kapitel anführt, erschließt sich mir nicht, zumal die Arbeit dem üblichen Muster aus Einleitung, historischer Herleitung und Forschungsgegenstand als Hauptteil folgt. Neben vier Farbtafeln enthält der Band zahlreiche gut gewählte Bildbeispiele. Im Anhang finden sich zusätzlich eine nützliche Aufstellung von 34 Kurzbiographien von Autoren und Zeichnern, die in den meisten Fällen mit einem Werkverzeichnis kombiniert ist, sowie eine Liste der unterschiedlichen Comic-Formate.

Seiferts Darstellung der Quellenlage im Rahmen seiner Einleitung unterstreicht die Notwendigkeit, sich in umfassenderer Form mit dem Gegenstand zu beschäftigen. Er weist auch auf Probleme hin, die sich hinsichtlich grauer Literatur bzw. Gebrauchsliteratur ergeben, die kaum von Bibliotheken gesammelt wurde oder gar aufgrund ihrer ideologischen Ausrichtung wiederholten Versuchen völliger Vernichtung einzelner Ausgaben ausgesetzt war. Der anschließenden Auseinandersetzung mit den verschiedenen Begriffen für „Comics“ in China fehlt hingegen eine Klarstellung, was er unter dem Terminus „Comic“ selbst versteht. Dies hat Folgen: Zwar grenzt er die „Kettenbilder“ oder „Bildgeschichten“ (lianhuanhua) formal, begriffshistorisch und inhaltlich von Karikaturen (manhua) und Cartoons (katong) ab (13f.), weicht seine eigene Unterscheidung jedoch anschließend durch die gleichzeitige Verwendung der Bezeichnungen Comic und lianhuanhua (im Folgenden: LHH) wieder auf. Diese schon im Titel und Untertitel des Buches zum Ausdruck kommende Unschärfe ist um so bedauerlicher, als der Autor an verschiedenen Stellen seiner Darstellung unterstreicht, daß LHH im Aufbau (pro Seite ein Bild mit darunter gestelltem Text) sowie der nur höchst marginalen Verwendung von Sprechblasen eine eigenständige Form der Bildergeschichte repräsentieren, die zumindest ähnliche Vorläufer in Ming- und Qing-zeitlichen Romanausgaben hat.

Die erste Hälfte des zweiten Kapitels über die Entwicklung des Comic bis zur Republikzeit ist problematisch. Seifert sagt ausdrücklich, daß er sich darin maßgeblich auf die Darstellung der Geschichte des chinesischen LHH durch chinesische Wissenschaftler stützt. Er bemerkt zudem, daß es sich bei ihren Darstellungen häufig um die „nachträgliche Vereinnahmung spezifischer bildlicher Vermittlungsmethoden“ (11) handelt. Im Kapitel selbst ist von dieser Distanzierung jedoch nur selten etwas zu spüren. Wichtig wäre es im Rahmen einer Herleitung der modernen LHH gewesen, auf die letztlich besondere Kombination von Bild und Text in China einzugehen, die im Gegensatz zur Behauptung des Autors (32) natürlich Lesekenntnisse oder zumindest Kenntnisse der verhandelten Geschichten voraussetzt, da die Bilder ohne Erläuterung nicht ausreichen, einen Erzählzusammenhang herzustellen. Während die von Seifert zitierten Autoren das Aufkommen einer „Reinform“ des LHH mit dem Erscheinen der Shanghaier Nachrichtenillustrierten Xinwen huabao (nicht „Bildnachrichten“!, 32) 1913, also praktisch mit dem Ende der Qing-Dynastie (1644-1911) festmachen, plädiert er selbst für einen inhaltlichen Übergang, den er an der graduellen „Verflechtung von Comics (!) mit aktuellen politischen und/oder gesellschaftlichen Ereignissen“ um die Jahrhundertwende festmacht (31). Der von Seifert konstatierte „inhaltliche Bruch“ (31 u. 33) fügt sich zwar sauber in seine These der ideologischen Funktion der LHH nach 1949, der Autor macht aber kaum den Versuch, diese These anhand von Vergleichen der von ihm angeführten frühen „Zeitschriften“ Dianshizhai huabao oder Shenbao mit Materialien aus der frühen Republikzeit zu erhärten. Für die Darstellung der Komplexität dieses Austauschprozesses zwischen bebilderten Texten westlichen und chinesischen Ursprungs reichen die wenigen Beobachtungen (31f.) aber gerade dort nicht aus, wo das Fundament der späteren Entwicklung und letztlich auch die Grundlage für Seiferts These behandelt wird.

Etwas klarer wird sein Verständnis des Wandels erst in der zweiten Hälfte des zweiten Kapitels, in der er die Auffassungen Lu Xuns zum künstlerischen Wert von Holzschnitten mit der Entwicklung der LHH jener Zeit kontrastiert und dann den Einmarsch der Japaner 1937 zum Ausgangspunkt für eine rasche Politisierung des Mediums nimmt. In diesem Teil hebt er deutlicher hervor, wie die chinesische Forschung Lu Xuns Äußerungen zur Holzschnittkunst als Erziehungsmedium illiterater Menschen zugunsten der LHH „verbiegt“. Entgegen seiner Vorbemerkung zu diesem Kapitelteil (19) stützt sich jedoch auch seine eigene Darstellung der Entwicklung des LHH während der Republikzeit maßgeblich auf chinesische Quellen (auch auf den angeblich nicht mehr verwendeten Bai Chunxi, Fußnoten 106, 111, 121 usw.). Am Ende des Kapitels werden diese Quellen zwar einer Bewertung unterzogen (57-60), nur wirklich kritisch ist die nicht, zumal Seifert konstatiert, daß diese „Sichtweise [chinesischer Wissenschaftler, M. S.] auf die jüngere Geschichte eine Menge gute Argumente auf ihrer Seite hat, die nicht von der Hand zu weisen sind“ (57). Seifert hätte sich das Oszillieren zwischen Kritik und Wiedergabe sparen können, wenn er zu Anfang die Eckpunkte der Sichtweise volksrepublikanischer Gelehrter dargestellt und kritisch bewertet hätte. Dann wäre ihm auch der evolutionäre Charakter seiner „eigenen“ Darstellung aufgefallen, die sich entwicklungsgeschichtlich bewegt – nämlich von den Neujahrsbildern und Illustrationen klassischer Romane über die Einführung von Sprechblasen bei Chen Guangsheng zu den „Zeichnern der vier großen Schulen Shanghais“[1] –, um dann in einem eigenen Abschnitt die angeblichen „Klassiker“ [2] zu behandeln, ohne sich zu fragen, wieso er sie selbst als Klassiker bezeichnet. Hier ist die alles vereinnahmende, historisierende Vorgehensweise von Chinas Historikern am Werk, wie auch deren vielsagende Gruppenbezeichnung für die drei letztgenannten Zeichner, „lianhuanhua von Künstlern, die keine lianhuanhua-Künstler sind“ (48), nahelegt. Immerhin fügt Seifert an, daß der Stil der Zeitungscomics von Zhang Leping und Ye Qianyu bis in die 1990er Jahre für dieses Genre prägend bleibt und faßt ihr Werk letztlich auch als „Comictradition neben den lianhuanhua“ (59) auf.

Nun zum Kern der Arbeit, dem dritten Kapitel: Sein (chronologischer) erster Teil besteht aus einer zwar in bezug auf einzelne LHH-Werke und deren Zeichner durchaus kenntnisreichen, hinsichtlich der historischen und ideologischen Einbettung aber konventionellen bis arglosen Darstellung, zumindest für die Zeit bis zum Ende der Kulturrevolution. Seifert unternimmt den Versuch, mittels der drei Entwicklungsstränge des Stils, der Thematik und der Institutionen die Entwicklung des LHH in der Volksrepublik darzustellen. Er eröffnet mit den ideologischen Vorgaben in Form der Yan’aner Gespräche über Literatur, gefolgt von einem Exkurs zu den propagandistischen Vorgaben bzw. Funktionen der LHH, um dann deren Entwicklung in den Momenten ihres Aufbaus (1949-57), ihrer Etablierung (1957-64) und ihrer Ideologisierung und Politisierung (1964-76) nachzuzeichnen (72–116).

Seiferts Schilderungen (Organisation der LHH-Produktion, Reorganisation bzw. Neuerschaffung des Verlagswesens außerhalb Shanghais nach 1949, Zurückdrängung privater Produktion zugunsten eines staatlich gelenkten Vertriebs, kombiniert mit einer graduellen Politisierung der Werke, Entwicklung im Verlauf des großen Sprungs) sind aufschlußreich. Noch aufschlußreicher, zugleich Beleg für des Autors Kenntnisse sind die Beispiele von LHH jener Zeit sowie Erläuterungen zu deren Inhalt und zeichnerischer Stilistik. Im Vorfeld der Kulturrevolution vermag Seifert sogar an einem Beispiel zu verdeutlichen, wie sich die Darstellung scheinbar in Antizipation kommender politisch-gefahrvollerer Zeiten veränderte (100f.). Aber in Kenntnis des Sachverhalts, daß LHH im genannten Zeitraum letztlich kaum anderen Entwicklungen unterworfen waren als andere künstlerische Ausdrucksformen – für Seifert scheint dies eine neue Entdeckung zu sein (99) – , hätte der Autor einen Zugang wählen können, der nicht nur seine Werkkenntnis weit besser zum Ausdruck gebracht hätte, sondern auch einen tatsächlichen Beitrag zur eigenständigen LHH-Entwicklung in dem Sinn geleistet hätte, daß chinesische wie westliche Forschungsstereotypen über diese Entwicklung in Frage gestellt worden wären.

Zudem zeigt sich in diesem Teil leider auch, daß gute Kenntnisse in nur einem, zugegebenermaßen großen, Gebiet für die Bewältigung eines Komplexes, wie diese Arbeit ihn sich vorgenommen hat, nicht ausreichen. Nicht allein die von Seifert herangezogenen Quellen zur Entwicklung der Volksrepublik, sondern zum Beispiel auch seine kaum reflektierten Aussagen über den Einfluß, den die marxistische Ideologie bzw. die materialistische Geschichtsschreibung auf die Behandlung traditioneller Themen in LHH ausgeübt hat, zeigen, auf welch schmalem Grad sich der Autor bewegt. Wichtig wären hier unter anderem tiefere Kenntnisse über die ideologischen Meilensteine volksrepublikanischer Literatur, da ein ausschließlicher Blick auf die Veränderung von Thematiken und bildlichen Stilmitteln nicht genügt, um sich aus dem Korsett der bekannten Kampagnen-Geschichtsschreibung zu lösen.

Freier und auch sicherer wird die Darstellung Seiferts erst mit seiner Schilderung der Entwicklung ab 1978 (117ff.). Hier zeigt er die vielfältigen inhaltlichen, aber auch stilistischen Neuerungen innerhalb der LHH auf, die von präzisen Milieustudien über Kampfsport und Detektivgeschichten bis hin zu kritischen Gesellschaftsstudien reichen. Jedoch kann, so Seiferts Feststellung, selbst diese neue Vielfalt, die noch um ausländische Produkte erweitert wird, aufgrund sich verändernder Medienlandschaften, Geschmacksrichtungen, Zielgruppen, aber auch des Unvermögens der Verlage mit ihren überkommenen personellen Strukturen den Niedergang des Mediums nicht verhindern. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist sein Hinweis auf einen massiven Einbruch der LHH-Produktion im Jahr 1985, nachdem die Produktionsmenge noch in den Jahren zuvor die Zahlen des Großen Sprungs bereits übertroffen hatte (203). Leider fehlen hier Angaben über Verkaufszahlen. Ebenso bemerkenswert ist Seiferts Erwähnung von LHH, die im Anschluß an die gewaltsame Niederschlagung der Proteste von 1989 veröffentlicht wurden und durch Schilderungen der heroischen Taten von Soldaten bei der „Befriedung“ den letzten Versuch darstellen, das Medium wie in der Kulturrevolution für plumpe propagandistische Zwecke zu mißbrauchen – damit der Gattung sozusagen den endgültigen Todesstoß versetzend (136f.). Dies bedeutet aber zumindest, daß die politische Führung im Verbund mit der Propagandaabteilung auch noch nach 1990 der Auffassung war, daß LHH ihre erzieherische Funktion nicht gänzlich eingebüßt hatten.

Der (thematische) zweite Teil des dritten Kapitels behandelt u. a. Aspekte wie den Weg von der literarischen Vorlage zum LHH, die Frage der verlegerischen Themenwahl und den Umgang von Zeichnern und Verlagen mit dem Erbe der Kulturrevolution.

Der Weg von der Romanvorlage zum LHH wird am Beispiel des Revolutionsdramas Roter Fels (Hong yan) von 1961 untersucht, wobei Seifert zwei LHH-Ausgaben aus Shanghai und aus Harbin im Nordosten Chinas vergleicht, die 1964 und 1965 erschienen sind. Der Vergleich, der von den gewählten Vorlagen her durchaus vielversprechend ist, führt auf der Mikroebene lediglich zu dem Ergebnis, daß die LHH die Romanhandlung raffen, daß hierzu Dialoge aus dem Roman gekürzt und die Hauptpersonen verflacht und heroisiert werden, daß bestimmte Aspekte der Geschichte und bestimmte Personen in den Vordergrund gestellt, andere weggelassen werden und neue Spannungsbögen durch Ergänzungen erzeugt werden müssen. Daneben konstatiert Seifert, daß die beiden LHH-Ausgaben sich einer unterschiedlichen Graphik bedienen, die Shanghaier Ausgabe detailliert die Figuren nachzeichnet, während die Version aus Harbin zu einer groben, holzschnittartigen Ästhetik frührevolutionärer Propaganda greift (162-182). Kaum tiefere Einblicke bietet Seiferts Makroebene, in der z. B. über einen prozentualen Vergleich des Auftauchens guter, böser und indifferenter Figuren in den drei Werken festgestellt wird, daß „Shanghai im Vergleich zu Heilongjiang seine Bilder mit Personen geradezu vollstopft“ (181). Zusätzlich zeichnet sich Seiferts gesamte Darstellung durch eine auffällige Vernachlässigung der die Bilder begleitenden Texte aus, die bei dieser wie auch bei einer weiteren Analyse des Weißhaarigen Mädchens (Baimao nü) nur in Form von Inhaltsangaben wiedergegeben werden. Selbst wenn es Seifert bei dieser Analyse mehr darauf ankommt zu zeigen, daß zwei fast gleichzeitig produzierte LHH-Versionen eines Romans sehr unterschiedlich ausfallen, was dann der Auffassung einer zentral gelenkten LHH-Produktion in gewisser Weise widerspräche, sind die Ergebnisse des Vergleichs dürftig. Aufgrund von Seiferts fast exklusiver Konzentration auf die Bilder verwundert dieses Ergebnis auch nicht. Gerade die selektive Verwendung von Zitaten aus dem Roman und ihre Beziehung zur jeweiligen Darstellung wäre ein Schlüssel gewesen, um hier auf ein weit höheres analytisches Niveau zu gelangen. Hierzu fehlt Seifert jedoch das allgemeine und spezielle literaturwissenschaftliche Rüstzeug.

Im Abschnitt über die verlegerische Themenwahl untersucht Seifert die wichtige Frage der Identifikation der Verlagsredaktionen mit politischen Vorgaben. Hier führt der Autor wichtige Tabellen an, die zum Beispiel den Grad der Identifikation der Verfasser und Herausgeber mit dem Grad der politischen Anleitung in bestimmten Phasen volksrepublikanischer Geschichte vergleichen. Eine weitere Tabelle zeigt die thematischen Schwerpunkte der LHH-Produktion zu bestimmten Zeiten. Was heißt es aber, wenn der Grad politischer Anleitung zwischen 1984 und 1989 „gering“ ist und der Grad der Identifikation als „hoch“ bezeichnet wird (196) oder wenn klassische Opernliteratur im selben Zeitraum häufig („viel“, 198) vertreten ist? Bei allen Problemen, die Seifert im darauf folgenden Abschnitt hinsichtlich der Publikationsangaben, ihrer Verläßlichkeit und Verifizierung berechtigterweise anführt (202-207), gibt es quantitative Darstellungsmöglichkeiten, die weit präziser als lediglich „auf den Beobachtungen des Autors und Selbsteinschätzungen“ zweier Redakteure beruhend (196) die thematische Gewichtung und letztlich auch den Grad der Identifikation mit politischen Vorgaben hätten veranschaulichen können, zumal der Autor selbst sich auf Kataloge stützt, die nach seiner Einschätzung mit 36 000 Titeln den Titelbestand in der VR recht umfassend wiedergeben. Die präzise Bearbeitung einer repräsentativen Auswahl hätte in diesem Fall genügt, um von Beobachtungen zu verläßlichen und aussagefähigen Daten zu gelangen.

Im letzten Teil versucht Seifert seine Behauptung vom Niedergang der LHH vor allem aufgrund des Umgangs der Künstler und Verlage mit dem Erbe der Kulturrevolution zu belegen. Hier findet er zum Beispiel Hinweise darauf, wie die Autoren ihre Beteiligung an der Erzeugung bestimmter Werke zu vertuschen suchten oder wie Funktionäre jener Zeit bruchlos Schlüsselpositionen in der LHH-Produktion der Reformära übernahmen. Jedoch können viele Aussagen innerhalb dieses Teils nicht über Seiferts mangelnde Fähigkeit zur Differenzierung komplexer ideologischer und politischer Zusammenhänge dieser Zeit hinwegtäuschen, die auf der Basis der von ihm angeführten Quellen auch kaum zu behandeln sind. So hätte er sich einmal die Frage stellen müssen, wie man sich eine Behandlung der Tragödie der Kulturrevolution im Sinne der Narbenliteratur in Form von LHH überhaupt vorzustellen hätte und wer denn dafür die Zielgruppe sein sollte, wenn die Mehrzahl der Konsumenten Kinder und Jugendliche sind. Der Schwenk der LHH-Verlage hin zu unpolitischen Stoffen in den 1980er Jahren ist sicherlich eine Reaktion auf überideologisierte Zeiten, es treten aber so viele von Seifert kaum behandelte Faktoren hinzu – der Einfluß von Comics westlichen und japanischen Zuschnitts kommt zum Beispiel überhaupt nicht mehr zur Sprache –, daß die These eine These bleiben muß.

Formal ist Seiferts Buch zudem ein Beleg dafür, daß nicht erst Bakkalaureats- und Masterstudiengänge zu einer Absenkung der Ansprüche gegenüber der handwerklichen Ausführung geisteswissenschaftlicher Dissertationen geführt haben. (Daß hier einiges eher den Betreuern der Arbeit anzulasten ist, gilt auch hinsichtlich der Überforderung eines Doktoranden, dem bei all seiner Kenntnis des Gegenstandes sowie seiner deutlichen Hingabe an sein Sujet die Bewältigung einer Aufgabe übertragen wurde, die ein angehender Wissenschaftler im Grunde gar nicht leisten kann.) Das Buch ist stilistisch, sprachlich sowie orthographisch eine Zumutung. Seiferts argumentativer Aufbau wirkt oft sehr umständlich. Gute Beispiele sind die Kapitelvorbemerkungen (19, 61f., 149f.). Der Stil erscheint nicht nur häufig holprig, aufgrund nachgeschobener Nebensätze entsteht zuweilen der Eindruck, eher ein Gedankenprotokoll als einen ausformulierten Buchtext vor sich zu haben: „Er versäumt es, die möglichen Konsequenzen daraus darzustellen, wenn es denn welche hatte“ (189). Der Text ist voll von falschen Metaphern, Anglizismen und Jargon: Die „selektiven Rezeptionsmuster der historischen Forschung“ werden „exemplarisch aufgebrochen“ (11), oder das „Übergewicht der Politik wird gebrochen“ (145), wo zuvor schon die „Geschichte der VR in kleinere, überschaubare Phasen aufgebrochen“ wurde (12). Da werden „Motive, die zur Behandlung anstehen, aufgegriffen und formuliert“ (12). Doktrinäre Anleitung wird „über Promotion bestimmter Persönlichkeiten“ (189) aus dem Personal bestritten. Da ist die Rede von der „massierten Umsetzung“ (192), vom „akzeptierten mainstream“ (193) bei den Comics der Kulturrevolutionsära. Es heißt: „Der Terminus ‚der Masse’ bleibt jedoch weitgehend unspezifisch formuliert“ (63), eine „grobe Unterteilung anhand des kulturellen Niveaus differenziert hier nicht“ (63), und ein Held wird zu einer „der stehenden Größen im optischen Inventar der VR“ (210). Zur Absonderlichkeit verkommt dieses verheerende Deutsch, wenn Seifert von jenen Zeichnern, die während der Kulturrevolution womöglich schlimmsten Torturen ausgesetzt waren, als von „abgestraften“ spricht (110).

Es lassen sich in dem Werk kaum einmal zehn zusammenhängende, fehlerfreie Seiten finden. Häufigste Fehler sind falsche Wortendungen („von […] 200 Artikel“, 5; „Dies gilt […] für beide sprachliche Seiten“, „Wie ‚das Comics‘ also benannt wird“, 13; „aus dem Bereich der Erzählungen, Romanen und Opern“, 25; „bis hin zu vollständigen fiktiven Geschichten“, 29; „Besonderem Platz räumen Bai und seine Koautoren“, 36 usw.), unklare oder mißverständliche Bezüge durch falsche oder nicht wieder aufgenommene Subjekte oder Objekte, eindeutige Tippfehler („gesehen“ statt richtig ‚geschehen‘, 4; „Volksrepublick“, „Choronologie“, 12 usw.) sowie ständige orthographische Fehler, deren hohe Quote wohl selbst die eigens in der Danksagung hervorgehobenen Helfer Hans und Birgit (VII) nicht beseitigen konnten.

Seiferts Buch schließt scheinbar eine Marktlücke, da es eine zusammenhängende Geschichte chinesischer Bildgeschichten und ihrer Erzeugung in deutscher Sprache bislang nicht gibt. Zugleich ist das Buch jedoch leider Beleg ökonomischer Kurzsichtigkeit, da es als ‚Grundlagenwerk‘ redigiert gehört hätte. Es wird sich daher zeigen müssen, ob mit einem Werk, bei dem sich der Leser über Seiten freut, auf denen er keine sprachlich verqueren Satzungetüme, falsche Metaphern oder orthographische Fehler findet, der relativ jungen und von anderen Gelehrten zuweilen leider belächelten Comic-Forschung nicht ein Bärendienst erwiesen wird, zumal dieser Gegenstand im Rahmen sinologischer Forschung zu jenen Bereichen gehört, denen aufgrund leichterer Vergleichbarkeit ein hohes Interesse von Forschern anderer Fachbereiche gewiß ist.

Michael Schimmelpfennig (Erlangen)

Gemeint sind Shen Manyun (1911-78), Zhao Hongben (1915-2000), Qian Xiaodai (1912-
1965) und Chen Guangyi (1919-1991). Zurück

Gemeint sind Herr Wang (Wang Xiansheng) von Ye Qianyu (1907-1995), Feng
Zikai und Dreihaar (Sanmao) von Zhang Leping (1910-1992). Zurück

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