Tagungsbericht „Comic – Manga – Graphic Novel“

Haus Hainstein in Eisenach, 25. – 27. November 2011

Unter dem Titel „Comic – Manga – Graphic Novel. Aktuelle Tendenzen in der grafischen Literatur für Kinder und Jugendliche“ lud der Arbeitskreis für Jugendliteratur e.V. (AKJ) vom 25. bis 27. November 2011 zu einem Seminar im Haus Hainstein in Eisenach. Die Tagung hatte sich nebst einer Einführung in die Thematik zum Ziel gesetzt, die drei Begrifflichkeiten zu definieren und voneinander abzugrenzen, die narrativen Strukturen von „grafischer Literatur für Kinder und Jugendliche“ zu ergründen und zur gegenwärtigen Kinder- und Jugendliteratur in Bezug zu setzen, aber auch über didaktische und berufspraktische Zugänge zugunsten einer potentiellen Leseförderung zu diskutieren. Überaus positiv zu bewerten ist die Organisation einer solchen Tagung nicht nur ob des Anstiegs der Popularität von Comics (insbesondere japanischer Herkunft), aber auch den „Comic-Romanen“ für Kinder und Jugendliche – wie beispielsweise „Gregs Tagebuch“ (Jeff Kinney) – in den vergangenen Jahren, sondern auch hinsichtlich der bisherigen beinahe vollständigen Exklusion grafischer Literatur in der Kinder- und Jugendliteraturforschung.

Tag 1
Nach einigen einleitenden Worten hinsichtlich der Thematik und ihrer Relevanz für den Bereich der Kinder- und Jugendmedien durch Dr. Mareile Oetken, die für die Organisation der Tagung verantwortlich zeichnete, bildete Dr. Bernd Dolle-Weinkauffs Vortrag zum Thema „Comic – Manga – Graphic Novel. Spielarten des Erzählens für Kinder und Jugendliche“ den Auftakt. Er skizzierte die Geschichte des Comics anhand dreier Stadien (die Entstehung in den USA, der vom US-Comic beeinflusste frankobelgische Comic sowie der vergleichsweise jüngst im Westen populär gewordene japanische Manga) und führte zugleich in eine klassische Problematik innerhalb der Comic-Wissenschaften ein: Die Versuche, eine klare Definition für Termini wie „Comic“ und „Graphic Novel“ festzulegen, welche auch in der anschließenden Diskussion (sowie im gesamten Rahmen der Tagung) zu keinem Ergebnis führen konnten. Erste Einblicke gab er zugleich in die sich vom westlichen Comic stark differenzierende Ästhetik und Darstellungskonventionen insbesondere des shôjo manga (Manga für adoleszente Mädchen und junge Frauen) und konnte beispielhaft die „Grammatik“ dieser Spielart des Comics aufzeigen, die für unerfahrene Leser zunächst irritierend anmuten kann. Dass das Comiclesen per se jedoch eine Kompetenz ist, die es vor dem genussvollen Lesen und Verstehen zu erlernen gilt, sollte sich auch im weiteren Verlauf der Tagung noch mehrfach zeigen.

Einem bedauerlicherweise überaus aktuellen Thema widmete sich Ralf Palandt mit seinem Beitrag „Kampf um die Köpfe: Comics von und gegen Rechts“. Anhand zahlreicher Bildbeispiele exemplifizierte er zunächst, dass der Missbrauch der Comic-Figur des Rosaroten Panthers durch die sogenannte „Braune Zelle“ des NSU kein Novum im Bereich rechtsradikaler Propaganda ist: Seit Jahren nutzten Neonazis in ihren Fanzines berühmte Comic-Helden wie Superman oder die Figuren aus Entenhausen, aber auch (zumeist dilettantisch) selbst gezeichnete Strips zum Aufbau bzw. zur Zementierung von Feindbildern (z. B. der Linken oder der Punks) und bestätigten ihre rassistischen und antisemitischen Ideologien mithilfe alter, stereotyper Visualisierungen. Anhand einiger Beispiele aus dem Bereich „Comics gegen Rechts“, die zumeist im Rahmen politischer Jugendbildungsarbeit entstanden sind, konnte jedoch gezeigt werden, dass diese Mittel zur Prävention (mit Ausnahmen) sowohl formal-ästhetisch und narrativ als auch hinsichtlich der vermittelten Botschaft nicht minder dilettantisch anmuten. Es bleibe daher fraglich, ob diese institutionell konzipierten Comics gegen Rechts tatsächlich eine aufklärende, präventive Wirkung auf Kinder und Jugendliche haben können.

Der erste Abend schloss mit einer Präsentation des eigenen Werkes der Zeichnerin Nadia Budde, die für ihren Comic „Such dir was aus, aber beeil dich!“ (2010) mit dem Max- und Moritz-Preis ausgezeichnet wurde. Obgleich sie sich selbst nicht als Comic-Zeichnerin sieht und sich dem Medium Bilderbuch näher fühlt, zeigten sich anhand der zahlreichen Beispielbilder aus ihren Büchern, Illustrationen und Bilderrätseln für Zeitschriften (taz, Das Magazin, etc.), Plakaten und anderen Grafiken auch die Schnittstellen dieser beiden Bildformen sowie die in beiden Bereichen häufig diskutierte Visualität der Schrift, die durch ihre Gestaltung nicht selten selbst zum Bildelement (gemacht) wird.

Tag 2
Der zweite Tag begann erneut mit einer Diskussion hinsichtlich der Begrifflichkeit „Graphic Novel“, welche nicht selten von Verlagen als Label zur Aufwertung ihrer Produkte verwendet wird, jedoch wenig über den tatsächlichen Inhalt aussagt. Felix Giesa erläuterte in seinem Vortrag zum Thema „Kinder- und jugendliterarische Graphic Novels“ nach einem historischen Abriss die im öffentlichen Diskurs vermeintlich allgemeine Aufwertung des Comics für Kinder und Jugendliche sowohl durch das Label „Graphic Novel“ oder auch „Comic-Roman“, als auch durch die Adaption zahlreicher (kinder- und jugend-)literarischer Vorlagen (z. B. Isabel Kreitz’ „Pünktchen und Anton“, Anike Hages „Die Wolke“), welche nun aufgrund ihrer anspruchsvollen „Botschaft“ auch eine vermeintlich höhere Qualität aufwiesen. „Graphic Novels“ speziell für Jugendliche existieren allerdings bisher wenige, diese sind jedoch zuweilen von hoher Qualität hinsichtlich ihrer visuellen Inszenierung und der Konzeptualisierung der Figuren; so schloss der Vortrag schließlich mit einem Blick auf die jüngsten Entwicklungen in den USA und mit der Hoffnung, dass in den kommenden Jahren auch im deutschsprachigen Bereich eine höhere Dichte an qualitativ hochwertigen Werken der kinder- und jugendliterarischen Graphic Novels auch jenseits von Literaturadaptionen entstehen und publiziert werden.

Nach einem von der Tagungsleitung organisierten Besuch des historischen Weihnachtsmarktes sowie einer Führung durch die nahe gelegene Wartburg hielt der Nachmittag vier Arbeitsgruppen zu unterschiedlichen Themenbereichen der Konferenz bereit:

In Gruppe 1 diskutierte Dr. Bernd Dolle-Weinkauff mit den TeilnehmerInnen zum Thema „Grammatik von Comic und Manga verstehen“, wenngleich aufgrund der begrenzten Zeit und der hohen Komplexität des Themas der japanische Comic außen vor bleiben musste. Anhand zweier sowohl optisch als auch inhaltlich stark divergierender Comics – „Prinz Eisenherz“ und „Spawn“ – erarbeiteten die TeilnehmerInnen (darunter Comic-Neulinge, aber auch Fans) die formal-ästhetischen Darstellungskonventionen, derer sich die Zeichner bedienten, und dekodierten die einzelnen Bestandteile der Bildsprache, die die spezifische Narration und Figurencharakterisierung entstehen lassen. Das Ergebnis war ein höheres Verständnis der Inhalte der Geschichten und ihrer (im Falle von „Spawn“) indirekten Gesellschaftskritik, wenngleich die zuweilen blutige Darstellungsform nicht von allen TeilnehmerInnen gleichermaßen angenommen wurde.

Gruppe 2 („Erzählen in Bild und Text kunstpraktisch erfahren“) wiederum setzte sich unmittelbar und praktisch mit dem Erzählen mit Text und Bild auseinander: Angeleitet von Nadia Budde entwarfen die TeilnehmerInnen eigene kleine Bücher, in welchen sie sich insbesondere mit ihrer Kindheit auseinander setzen sollten – darunter Selbstportraits, Zeichnungen von Orten, die sie mit Gerüchen aus der Erinnerung an ihre Kindheit verbinden, Stichpunkte mit Kindheitsbezug sowie die Zusammenstellung möglichst vieler Anagramme des eigenen Namens. Die Ergebnisse konnten sich sehen lassen und ließen darauf schließen, dass möglicherweise in jedem ein kleiner Künstler steckt.

In Gruppe 3 behandelte Prof. Dr. Dietrich Grünewald das weite Feld der „Bildgeschichten ohne Worte“, Comics ohne Text, die ihre Geschichten einzig auf der visuellen Ebene erzählen und sich dabei insbesondere auf die Körpersprache der Aktanten und „Beziehungen zwischen den visuell präsentierten Elementen“ konzentrieren. Das Ergebnis des Workshops zeigte, dass der Leser bei diesen stummen Bildgeschichten noch intensiver als bei den Bild-Text-Hybriden als Co-Autor fungieren, die Geschichte weiterdenken und entsprechende textliche Bestandteile selbst in seiner Phantasie entwickeln muss. Der Workshop schloss ebenfalls mit einer kunstpraktischen Übung zum besseren Verständnis des Gegenstandes: Alle TeilnehmerInnen sowie Prof. Dr. Grünewald selbst zeichneten kleine Comics ohne Worte.

Gruppe 4, angeleitet von Felix Giesa, schloss direkt an seinen Vortrag vom Vormittag an und setzte sich mit der „Darstellung von Jugend im Autorencomic“ auseinander. Auch hier bestand mehr Diskussionsbedarf, als die Zeit erlaubte, sodass einige der zuvor ausgewählten Beispielwerke nicht mit einbezogen werden konnten. Die TeilnehmerInnen diskutierten in diesem Workshop insbesondere die Nähe der Comics, die sich mit dem Thema Jugend auseinander setzten, zu ihrem literarischen Pendant: dem Jugend- und Poproman. Überschneidungen zeigten sich in der Behandlung ähnlicher Themen, darunter die Popkultur und insbesondere die Relevanz von Musik für die Adoleszenz.

Der zweite Abend mündete nun erstmals in die explizite Auseinandersetzung mit dem Thema Manga: Unter dem Titel „Manga-ron: Zum Manga-Diskurs in Japan“ erläuterte Japanologe Björn-Ole Kamm, wie in Japan in den vergangenen 20 Jahren über den Manga gesprochen und gedacht wurde. Gleich zu Beginn konstatierte er, dass auch die Begriffsdefinition für den japanischen Comic in seinem Ursprungsland selbst keineswegs eine einheitliche ist und in Deutschland nur ein Bruchteil der japanischen Werke publiziert wird, was hierzulande zu einer falschen Einschätzung des japanischen Marktes führen kann. Nach einer Aufarbeitung der Manga-Kritik seit den 1960ern und den sich wandelnden Perspektiven bzw. Schwerpunkten (von politisch/gesellschaftlich zu subjektiv und gemeinschaftsbildend orientiert und schließlich zur Akademisierung in Form der Manga Studies in den 2000ern) berichtete der Referent über den Slogan „Cool Japan“ und damit einhergehenden Aktionen der japanischen Regierung, um das eigene Land anhand seiner Popkultur – darunter auch Manga und Anime – attraktiver und „cool“ für das Ausland erscheinen zu lassen. Der Vortrag schloss mit einer Erläuterung der jüngsten Aktionen gegen Manga (unter dem Titel „Nicht-existierende Jugend“) hinsichtlich ihrer als solcher empfundenen problematischen Inhalte wie Gewalt und (Kinder-)Pornographie. Es konnte somit gezeigt werden, dass der Manga in seinem Heimatland mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatte und hat, wie auch der Comic auf der internationalen Ebene – der Manga-Diskurs ist ebenso hybrid wie der japanische Comic selbst.

Tag 3
Nachdem der Comic-Zeichner Flix aus Krankheitsgründen kurzfristig absagen musste und daher nicht referieren konnte, wurde der Vortrag von Prof. Dr. Dietrich Grünewald, „Vom kritischen zum genießenden Blick. Comics im Deutsch- und Kunstunterricht“ vorgezogen. Anhand eines in einer vierten Klasse in Koblenz durchgeführten Projektes in den beiden genannten Fächern konnte aufgezeigt werden, inwiefern man das Thema „Comic“ bzw. Bildergeschichten im Allgemeinen in den schulischen Kontext mit aufnehmen, die SchülerInnen zu kreativen Eigenleistungen ermutigen, erste Auseinandersetzungen mit Erzählstrukturen und Figurencharakterisierung vermitteln und sie für das „Prinzip Bildgeschichte“ sensibilisieren kann: Im Rahmen mehrerer Unterrichtsstunden konzipierten die SchülerInnen in mehreren Stadien eine eigene Bildgeschichte und erlernten dabei auch das Deuten von Körpersprache und Stereotypen durch Nachspielen der Szenen, Fotografien und Beispiele aus der Kunsthistorik. Wie bereits zuvor hat sich auch hier erneut bestätigt, dass die Rezeption von Bildgeschichten aller Couleur eine zu erlernende Kulturpraktik darstellt, die dann auch das genussvolle Lesen ermöglicht.

Den Abschluss der Tagung bildete schließlich eine Panel-Diskussion mit dem Schwerpunkt „Literatur-Adaptionen im Comic“, mit besonderem Blick auf die „Pünktchen und Anton“-Adaption von Isabel Kreitz sowie Flix’ Comic-Parodie „Faust“, die bereits verdeutlichen, dass es innerhalb der literarischen Stoffe keine Begrenzungen gibt – alles kann in Comic-Form wiedergegeben werden. Dennoch kristallisierte sich während der Diskussion heraus, dass eine Kenntnis des Originalwerkes in der Regel von Vorteil ist, um die Adaption bzw. Parodie aufgrund ihrer Intertextualität in Gänze verstehen und genießen zu können. Offen blieb die Frage, ob Comic-Adaptionen tatsächlich der Leseförderung dienen und Kinder/Jugendliche an die Originalwerke heranführen könnten; heftig diskutiert wurde auch die Frage, ob Werke wie Kästners „Pünktchen und Anton“ ob ihrer hohen Literarizität und des hochgelobten Schreibstils denn überhaupt als Comic funktionieren können oder sie (und ihre Botschaft) durch den Medienwandel nicht trivialisiert würden. Eine abschließende Antwort konnte letztlich nicht gefunden werden.

In Retrospektive auf die Zielsetzung sind auch nach der Tagung viele Fragen offen geblieben und neue hinzugekommen – nicht geklärt werden konnte beispielsweise die eindeutige Definition verschiedener Termini wie der des Graphic Novel oder aber des Comics im Allgemeinen sowie die Abgrenzungen der verschiedenen Formen der Bildergeschichten untereinander. Dennoch konnten viele der TeilnehmerInnen, die beruflich oder auf anderer Ebene mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, an die ihnen zuvor meist gänzlich unbekannten, fremden Medienformen wie Comic-Heft, Graphic Novel und Manga und deren auf eine jugendliche RezipientInnenschaft zugeschnittenen Inhalte und Motive herangeführt werden und haben anhand der theoretischen aber auch praktischen Arbeit mit den Bildgeschichten einen Einblick bekommen in die Funktionsweisen, aber auch in die Faszination, die mit der Comic-Rezeption einher gehen kann. Es ist somit zu begrüßen, dass auf der Tagung erstmals eine explizite Thematisierung dieses zuvor meist außen vor gelassenen Gegenstandes in der Kinder- und Jugendliteraturforschung stattgefunden hat, und es bleibt zu hoffen, dass sich der Comic in seinen variablen Formen weiter im Kontext der KJL-Forschung etablieren kann. Eine engere Verzahnung von KJL- und Comic-Forschung wäre hierfür wünschenswert und sicherlich förderlich und fruchtbar für beide Disziplinen.

Kristin Eckstein (Nienburg/ Weser)

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