Burkhard Ihme: Der unzuverlässige Erzähler

Roundtable zum Unzuverlässigen Erzählen 1

Die Frage nach dem unzuverlässigen Erzähler begleitet mich schon seit Jahrzehnten, und meine langjährigen wissenschaftlichen Forschungen haben ergeben: Der Erzähler im Comic ist IMMER unzuverlässig. Hier der Beweis:

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Die Bilder lassen sich durch Anklicken vergrößern.

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Burkhard Ihme: Beitrag für die INC-Ausstellung „Die vierte Dimension“ 1998 in Hamburg. Was zwischen den Panels passiert, wird der Comicleser nie genau erfahren.

Da ZWISCHEN den Panels immer etwas passiert, das für den Leser nicht sichtbar ist, das Sichtbare aber völlig ad absurdum führen kann, ist das Erzählte und damit der Erzähler IMMER unzuverlässig.
Aber gehen wir doch einen Schritt zurück und betrachten den Comic durch die Brille der traditionellen Narratologie und ihrer Theorie zum unverlässigen Erzähler. Denn wir vermuten zwar, daß zwischen den Panels sich ungeahnte Welten auftun, könnes es aber nicht beweisen. Schauen wir deshalb erst einmal auf das Gegenteil: den zuverlässigen Erzähler.
Brain Miyuki. Kein Zweifel: Miyuki hat tatsächlich verschlafen und ist nun spät dran.

Brain Miyuki. Kein Zweifel: Miyuki hat tatsächlich verschlafen und ist nun spät dran.

Nicht nur in der Parodie, sondern auch in ernstgemeinten Werken zeigt sich die Zuverlässigkeit in der Redundanz. Das Bild oder der Dialog untermauert die Aussage des Erzähltextes. Nur: zumindest unter Comicmachern gilt dies nicht als Qualitätsmerkmal. Es gilt sogar als das genaue Gegenteil, nämlich als Beleg, daß da jemand sein Handwerk nicht beherrscht.
F.W. Richter-Johnson: Clever Stolz Bildgeschichte. Die Bildfolge ist allerdings vor Richter-Johnsons bedeutenderen Beiträgen zur deutschen Comicgeschichte (

F.W. Richter-Johnson: Clever Stolz Bildgeschichte. Die Bildfolge ist allerdings vor Richter-Johnsons bedeutenderen Beiträgen zur deutschen Comicgeschichte („Detektiv Schmidtchen“, „Taró“) entstanden.

Der Einsatz als bewußtes Stilmittel (in Kenntnis ihrer Lächerlichkeit) ist davon ausgenommen, allerdings ist mir kein ernstgemeintes Beispiel bekannt. Auf der unten abgebildeten Seite spielt Art Spiegelman zwar mit der Redundanz, durch die Verschiebung um ein Panel wird diese aber wieder aufgehoben. Text und Bild bestätigen sich und bestätigen sich gleichzeitig eben nicht.
Art Spiegelman:

Art Spiegelman: „Don’t get around much anymore“ (1973, nachgdruckt in „Breakdowns“ und „MetaMaus“).

Erzähltext, Bild und Dialog erzählen in einem gut gemachten Comic immer unterschiedliche Aspekte des Darzustellenden. Was im Umkehrschluß auch heißt: Weder der Erzähltext, noch das Bild, noch der Dialog erzählt in einem Panel ALLES. Jede Aussage für sich allein ist unvollständig und damit unzuverlässig. Erst im Zusammenspiel ergibt sich eine klare Geschichte, sofern sich die einzelnen Bausteine nicht widersprechen, einen Irrtum wiedergeben oder einfach gelogen sind, wobei das Bild noch die größte Zuverlässigkeit verspricht, aber schon durch die Begrenzung seiner Möglichkeiten bei der Darstellung verschiedener Sachverhalte (z. B.komplexe oder langsame Bewegungen wie Kopfschütteln, Nicken, Augenrollen, Zittern, Erröten * – zumindest bei realistischen Comics) Vertrauen einbüßt.
(* siehe Burkhard Ihme: „Bewegung im Comic“ (COMIC!-Jahrbuch 2005, S. 18–27)
Burkhard Ihme:

Burkhard Ihme: „Die chronologische Autobiographie. Letzter Teil“. Wem ist hier zu trauen? Dem Text, dem Bild, dem Titel?

Auch der Dialog (gerade bei Comics selten im Zentrum narratologischer Analysen) dient häufig zur Konkretisierung der Handlung und ersetzt dabei den beschreibenden Erzähltext. Er kann sogar die führende Rolle bei der Beschreibung der Ereignisse einnehmen.
Burkhard Ihme: Unter der Totenkopfflagge (1992/ in

Burkhard Ihme: Unter der Totenkopfflagge (1992/ in „Um Kopf und Kragen, 2011 koloriert auf www.icom-blog.de)

Da der Dialog nur eine subjektive Einschätzung wiedergeben kann, ist er natürlich unzuverlässig, wenn auch in der Darstelung des Offensichtlichen meist zutreffend („Hurrah, die Kavallerie kommt. Die Indianer fliehen!“). Wenn räumliche Bezugspunkte fehlen (wie z. B. in einem Fliegercomic) kann das eine essentielle Information sein (denn einem Flugzeug sieht man selten an, woher oder wohin es nun fliegt). Gerade bei Sachverhalten, die durch das Bild nicht darstellbar sind („Sie haben Grippe, Herr Neumann!“) nimmt der Dialog die Rolle des im Comic eigentlich meist unnötigen Erzähltextes („Der Arzt diagnostiert bei Herrn Neumann eine Grippe“) ein. Er bleibt aber potentiell unzuverlässig (wie jeder regelmäßige Zuschauer von „Dr. House“ bestätigen kann).
Also auch nach einer eingehenderen Untersuchung der Eingangsfrage das Fazit: Der unzuverlässige Erzähler ist in Comics eher die Regel als die Ausnahme, auch wenn er meist nicht SEHR unzuverlässig ist. Auch der allwissende Comicautor verzichtet meist auf Erzähltexte und läßt Informationen in Bild und Dialog einfließen. Schon allein die Unzuverlässigkeit des Lesers, der diese Teilinformationen wieder zu einem Ganzen zusammenfügen muß, macht eine scharfe Trennung von zuverlässigem und unzuverlässigem Erzähler unmöglich.
Burkhard Ihme: Beitrag zu

Burkhard Ihme: Beitrag zu „Comics für alle!“ (Gratis Comic Tag 2011, ICOM). Wer räumt die Bücher um und reißt den Kalender ab?

Zum Ende noch eine Vermutung, die man mal verifizieren oder falsifizieren sollte: Sind Graphic Novelle vielleicht deshalb außerhalb dem traditionellen Comic-Leserschaft so erfolgreich, weil darin besonders viele Erzähltexte (captures) verwendet werden und so auch die Comic-Analphabeten damit zurechtkommen? Und dies ist hinsichtlich der kreativen Eigenleistung vieler Graphic-Novel-Autoren, die besonderes Augenmerk auf „Kameraführung“ und Pacing legen und dabei häufig neue Bildsprachen entwickeln, durchaus untersuchenswert.
Burkhard Ihme

3 Gedanken zu „Burkhard Ihme: Der unzuverlässige Erzähler“

  1. Ich würde schon einen Unterschied ziehen zwischen „unzuverlässig“ und „unvollständig“. Vollständig ist keine Erzählung, egal in welchem Medium. Immer wird in irgendeiner Form zu irgendeinem Zweck eine Auswahl getroffen. Comic-Paneling ist da eine Spielart, aber im Hinblick auf die Zuverlässigkeit des Erzählten keine wirkliche Besonderheit.

    Von einer unzuverlässigen Erzählung können wir erst dann sprechen, wenn es (mindestens) zwei Erzählinstanzen gibt: Eine, die wir ad hoc für „wahr“ (im Hinblick auf den Erzählraum) halten, und eine zweite, die diese Annahme hinterfragt. Unsere Wahrnehmung hält visuelle Eindrücke grundsätzlich für wahr (seeing ist believing). Daher halten wir auch das, was wir im Comic in den Bildern (meinen zu) sehen, zuerst einmal für wahr. Das hat der Comic mit dem Film gemeinsam. Man denke an das klassische Beispiel: Hitchcocks VERTIGO. Erst am Ende wird klar: Was wir zu Anfang sahen, war falsch, gelogen, inszeniert. Aber wir haben es geglaubt, weil wir es gesehen haben.

    Da Comics mit Bild und Text erzählen, haben sie die Möglichkeit, beides in Widerspruch zu stellen. Dadurch wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf die verschiedenen Erzählinstanzen gelenkt; er muss für sich entscheiden, welcher Teil der Darstellung wessen Erzählperspektive repräsentiert (einschließlich der des Autors). Das ist einer der Punkte, an denen Comcs am spezifischsten und naheliegensten unzuverlässig erzählen können.

    Die Inszenierung widersprüchlicher Erzählinstanzen ist natürlich auch auf anderen Ebenen möglich. Dazu hat die Narratologie ja ausreichend geforscht. Aber durch die Gleichzeitigkeit von Bild und Text im Comic besteht eben auch die Möglichkeit dazu, diese Unzuverlässigkeit sofort darzustellen, nicht retrospektiv wie im VERTIGO-Beispiel. Eine Untersuchung zu Unzuverlässigkeit im Comic sollte da ansetzen.

  2. Eigentlich ist die Form des unzuverlässigen Erzählers eine Vereinbarung zwischen Autor und Leser. Gilt der Erzähler als zuverlässig, dann gibt es eben Zauberer, Trolle, Drachen, Elben und Androiden oder Pinguine am Nordpol (wie in „Jo, Jette und Jocko“ und „Buck Danny“). Ist der Erzähler dagegen ein Kind oder erkennbar parteiisch, ist das nicht mehr so sicher.
    Diese Vereinbarung gibt es im Comic erstmal nicht, denn in der überwiegenden Zahl der Comics gibt es keinen erkennbaren Erzähler, ja nicht einmal nur einen Autor.

    Während ein Text eine klare Aussage macht, gibt der Comic nur Hinweise, die der Leser erst interpretieren muß. Meist geschieht dies in einem verläßlichen Kanon, es bleibt aber eine Interpretation.

    Text:
    Hein geht ins Büro.

    Comic:
    Beispiel 1

    Die Interpretation sagt uns: Ja, Hein geht ins Büro. Ob er aber geht, können wir nur vermuten, denn sehen können wir es nicht.

    Es kann auch anders sein:
    Beispiel 2

    Auch wenn die im Beispiel gezeigten Ereignisse zwischen den Panels ein Scherz sind, bleibt die Unzuverlässigkeit Fakt. Denn die Unvollständigkeit ist im Vergleich zu anderen Erzählformen (Bellestristik oder Film) extrem. Eigentlich wird ja nur etwa 1 Tausendstel gezeigt, im Film doch immer ein Vierundzwanzigstel. Bewegungen und Geräusche werden durch Symbole angedeutet, Regieanweisungen (wie im Theater) fehlen. Dabei ist der Comic aber immer noch weit konkreter als die reine Bildgeschichte, wo Erzähltexte, Dialoge, Soundwörter und Speedlines fehlen und die Bildfolgen oft weiter sind.

  3. Nichtsdestotrotz sprechen die beiden Beispiele gerade DAFÜR, dass es im Comic sehr wohl eine Erzählinstanz gibt, die bewusst täuschen kann – und darum geht es doch bei der Frage nach „Unzuverlässigkeit“ (vielleicht ist der Ausdruck da auch einfach etwas unglücklich, da er eine Art ‚Laissez-faire-Schuldlosigkeit‘ suggeriert, die zumindest bei den kanonischen Beispielen keinesfalls gegeben ist).

    Als Leser bastele ich mir immer anhand der (unvollständigen) Cues, die ich zur Verfügung habe, eine kohärente Welt zusammen. Anhand des ersten Beispiel-Bilds würde wohl jeder davon ausgehen, dass Hein ins Büro geht. Stellt sich dies hinterher als falsch heraus, dann hat mich Herr Ihme bewusst aufs Glatteis geführt, da ihm meine naheliegende Interpretation sehr wohl bewusst war. Und das ist doch im Text nicht substantiell anders, denn ein kontextfreies „Hein geht ins Büro“ kann (wie ein alleinstehendes Bild) ebenfalls ganz viel auslassen, was naheliegenden Schlüssen über die im Satz dargestellte Situation drastisch zuwiderläuft, z.B. dass „Hein“ bereits ein Untoter ist, der im Büro ein ordentliches Massaker veranstalten wird oder dass Hein tatsächlich aus Tokyo nach Hamburg los-„gegangen“ ist und noch einige Jahre später unterwegs sein wird; zugegeben, absurde Beispiele, aber das ist im zweiten Bild ja nicht anders.

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