Roundtable zum Unzuverlässigen Erzählen 2
Dass Bildgeschichten – in allen ihren Variationen – etwas vermitteln, entspricht ihrer Aufgabe und begründet ihre Existenz. Ob das mit „Erzählen“, wie es in der Erzählforschung verstanden und umschrieben wird, übereinstimmt, ist damit nicht selbstverständlich gegeben und muss vom Gegenstand aus (Bildgeschichte im Vermittlungsprozess) weiterhin geklärt werden.
Erzählen, ahd. arzellan, irzellan, mhd. erzeln, erzellen (Grimmsches Wörterbuch, Bd. 3, Sp. 1077), bezieht sich auf das mündliche Erzählen, meint sowohl die Mitteilung im Gespräch als auch den Vortrag. Der mündliche Erzähler berichtet, schildert, beschreibt und sucht möglichst anschaulich bei seinen lauschenden Zuhörern Vorstellungsbilder im Kopf entstehen zu lassen. Er kann sich dabei von Bildern (Illustrationen) unterstützen lassen, die die Wirkung und Lebendigkeit des Erzählten verstärken aber auch verändern oder gar mindern können, wie das Rafik Schami und Peter Knorr in Der Wunderkasten (1990) trefflich gezeigt haben. Wesentlich scheint mir: der Erzähler gibt eine Rückschau, berichtet von einem Geschehen, das er erlebt hat, von dem er vorgibt, es erlebt zu haben, von dem er gehört hat (er berichtet also einen selbst gehörten Bericht), das den Anspruch auf Wahrheit erhebt, das tatsächlich wahr (wenngleich aus subjektiver Sicht berichtet) ist, das fiktiv ist (und auch so von den Zuhörern wahrgenommen wird).
Während der mündliche Erzähler auf Reaktionen seiner Zuhörer spontan eingehen kann, ist die schriftliche Fixation einer Erzählung ein starres, gegebenes Angebot. Aus dem Hörer wird der Leser, dem damit die Distanz zum Erzählten (Zeit, Ort, Akteure) medial spürbar wird. Die Rezeptionssituation ist eine andere. Bis auf wenige Beispiele, die eine Geschichte im Präsens präsentisch schildern (z. B. aktuell: Petros Makaris: Zahltag, 2012), wird im Präteritum erzählt, das die Rückschau auf das Geschehen signalisiert. Der Erzähler, der zum Schreiber wird, kann sich selbst (als Autor) als Erzähler ausgeben, kann die Erzählerrolle übertragen, kann aus der Ich-Perspektive erzählen (wobei das Ich den Autor, einen fiktiven Erzähler, einen Akteur meinen kann), kann auktorial mit Kommentaren und Leserhinwendung, kann aus wechselnden Erzählperspektiven erzählen. Der Leser weiß, dass es sich um eine subjektiv berichtete Erzählung handelt, die er konsumieren, die er (kontextbezogen) interpretieren und werten kann. Während das Erzählte (das berichtete Geschehen) selbst vom Text unveränderbar und verfolgbar präsentiert wird, ist seine Deutung (Assoziationen, Schlussfolgerungen, emotionale Reaktion etc.) eine aktive Reaktion des Lesers, die von der Art des Textes wie vom „Resonanzboden“ (Vorwissen, Interesse etc.) des Lesers, geprägt sind. „Der Leser setzt de Accent willkürlich – er macht eigentlich aus einem Buche, was er will. […] Ist nicht jeder Leser ein Philolog?“ So definiert Novalis den Anteil des Lesers. (Schriften, Bd. 2, Das philosophische Werk I, S. 609).
Auch die Bildgeschichte (ob Bildfries, narrativer Zyklus, Comic oder Graphic Novel …) vermittelt einen „Stoff“. Klammern wir den informierenden Sachcomic und die Handlungsanweisung einmal aus (auch wenn das natürlich ebenso spezielle Formen von „Erzählung“ sind), so handelt es sich um Stoffe, die ein Geschehen, einen Handlungsprozess beinhalten, der – wie oben – alle Möglichkeiten von fiktiv bis wahr (wirklichkeitsgetreu) umfassen kann. Dieser Stoff (oder: Plot, Szenarium) kann übernommen sein (Adaption), kann vom Zeichner (Maler, Fotografen – dem Bild-Gestalter) erfunden, entwickelt werden oder von einem Szenaristen arbeitsteilig geliefert werden. Wesentlich ist aber, dass dieser Stoff nun mit den künstlerischen und narrativen Möglichkeiten, die die Bildgeschichte umfasst, interpretiert und vermittlungsfähig gemacht wird. Alberto Breccia sagt das deutlich: auch wenn er dem Szenario immer große Bedeutung beigemessen habe, so habe er es nie sklavisch übernommen, sondern stets frei gehandhabt, verändert, gestreckt, gekürzt – so wie es ihm nötig erschien im Sinne eines Erzählens in Bildern (vgl. Michel Jans, in: Comic info 1/93, S. 40)
Bildgeschichten sind eine visuelle Kunst, wobei sie entweder textfrei (also ohne Schrift) oder in Synthese mit Text (Blocktexte, Untertexte, Sprech/ Denkblasen, Lautmalerei) produziert sind. Gehen wir zunächst vom Extrem der textfreien Bildgeschichte aus. Der Stoff realisiert sich in der Visualisierung von Handlungsorten, Akteuren, Requisiten. Der Prozess, also der zeitliche Ablauf von Geschehen, wird anders als im kontinuierlichen Bericht der mündlichen und schriftlichen Erzählung, anders als in der Wiedergabe von Theaterspiel und Film, nicht ganzheitlich und abgeschlossen präsentiert, sondern in einzelnen prägnanten „eingefroren“ fixierten Momenten gezeigt. In der komplexen Einheit der Darstellung von Akteur/ Akteuren (oder deren Spuren), Ort, Zeitverweisen (Indices wie z. B. Mode, Architektur, Technik für Epochen, Wetter, Helligkeit u.a. für Jahres- oder Tageszeit) und Requisiten, deren Positionierung im Panel mögliche Interaktionen nahelegt, wird der deutenden Fantasie des (individuellen) Betrachters nahegelegt, die starre und stumme Szene im Kopf zu verlebendigen, ein Davor und Danach assoziativ zu ergänzen, ggf. das Befinden der Akteure, ihr Verhalten, teilweise auch ihr Reden oder Denken aus dem Gezeigten schlussfolgernd im Kopf zu konstruieren. Erst der Anteil des Betrachters – wie das Duchamp hinsichtlich des Bildkunstwerkes postulierte – vollendet das Gezeigte, ja, wandelt das materielle Angebot erst zur eigentlichen Bildqualität mit informativem und ästhetischem Gehalt (Inhalt, Emotionen …). Dass hier der „Resonanzboden“ des Betrachters eine bedeutende, prägende Rolle spielt, liegt auf der Hand. Das Bild erzählt nicht im eigentlichen Sinne, es zeigt uns etwas, das wir im Kopf deutend verlebendigen.
Während das narrative Einzelbild nur eine kurze Zeitspanne assoziieren lässt (ich nenne das „ideelle Bildfolge“), wird ein längeres Geschehen durch die Bildfolge getragen. Dass es hier zu unterschiedlichen Anforderungen an die Deutungs- und Kombinationsfantasie des aktiven Betrachters kommt, ist offensichtlich und hängt von der Art der Bildfolge ab. Die weite Bildfolge, bei der im Grunde jedes Bild, vergleichbar einem Theaterakt, eine relativ autonome Szene präsentiert (Beispiel: Die Bildgeschichten von William Hogarth), fordert größere deutende Anstrengung, die Leerstellen zwischen den Bildern zu füllen und eine narrative (kausal akzeptierte) prozessuale, zeitliche Verbindung herzustellen, als die enge Bildfolge, die einen Bewegungsprozess resp. eine Handlung in kleinen dicht aufeinanderfolgenden Phasenbildern präsentiert. Hier wird die Leerstelle fast automatisch gefüllt, der Blick gleitet rasch von Bild zu Bild, die Zeitabfolge „fließt“. (Wobei man darauf hinweisen muss, dass der Film eigentlich eine Extremform der engen Bildfolge ist: hier kann unser Auge nur zwischen den existenten Einzelbildern nicht mehr differenzieren.) Dennoch: in beiden Fällen wird kein Geschehen, kein Ablauf erzählt, sondern es werden Situationen gezeigt, die erst der Betrachter im Prozess der deutenden Aneignung im Kopf zu einem Prozess verbindet. Wenn Burkhard Ihme darauf verweist, dass z. B. der Zeitabstand zwischen den Panel auch ganz anders sein kann (enge Bildfolge: 1 – ein Glas in einer Hand ist voll, 2 – das Glas in der Hand ist leer: Schlussfolgerung: jemand hat das Glas ausgetrunken) und Bild 1 ein Glas im Jahr 1920, Bild 2 ein Glas 2013 zeigt, so ändert das nichts an der Suggestion der kombinierten Aktion. Eine solche Zeitdifferenz kann spezifische narrative Gründe haben (das würde dann im weiteren Kontext deutlich), wenn nicht, spielt es keine Rolle. Wir sehr der Betrachter suggestiv eine Bildfolge als Handlungsfolge, als Zeitfolge, als Prozess begreift, macht deutlich, dass wir mitspielen, sogar unterschiedlichste Bilder (in Stil, Technik etc.) kreativ in einen narrativen Prozess zu fügen, wenn sie in einer Folge präsentiert werden. Dass der zeitliche Prozess auf differenzierteste Weise präsentiert werden kann, ist aufgrund der zahlreichen Beispiel bewusst: als chronologisch-fortschreitender Prozess, als Rückblende, in parallelen Handlungsprozessen, in eine Rahmenhandlung eingebunden etc. Wesentlich ist: das Geschehen wird von der Bildgeschichte nur partiell, nur in stehenden Einzelbildern präsentiert, es wird gezeigt: und der Betrachter muss das Gezeigte kombinierend im Kopf zu einer Erzählung fügen, er ist also ein aktiver Co-Autor. (Dass darüber hinaus das Gezeigte auch noch ikonografisch, ikonologisch, kontextbezogen deutbar ist, ist ein zweiter Schritt.)
Diese nötige Deutungsanforderung wird von Bildgeschichten, die Text einbeziehen, oft erleichtert. Texte können Deutungshilfe sein, können die Verbindung zwischen den Paneln sprachlich (begrifflich) klären, können die Körpersprache wie den Prozess des Geschehens durch Untertexte, durch Denk-/ Sprachblasen konkretisieren und oft erst verständlich machen. Während der Bänkelsänger, auf die textfreie Bildgeschichte deutend, das Präsentierte kommentiert und eigentlich die Arbeit verbal leistet, die der Betrachter selbst leisten sollte, ist der lesbare Text in der Bildgeschichte als Element der Bildgeschichte präsent. Damit wird die Bilddeutung eingeschränkt (positiv ausgedrückt: eindeutiger, klarer), die aktive Leistung des Rezipienten in eine gewollte Richtung gebracht. Die reine Bildinformation kann oft missverständlich, mehrdeutig sein; daher ist die Kontexteinbindung (meint: die Einbindung des Einzelbildes in die Folge) so wichtig.
Anders als in der Texterzählung ist die Bild-Erzählung kein Bericht von etwas Vergangenem, sondern sie ist direkt präsent – selbst wenn sie aus der Historie berichtet. Sie ist vor Augen und entwickelt sich in der Folge. Die Rolle des Rezipienten ist die des Zeugen eines Geschehens, das er mit mehr oder weniger innerer Anteilnahme sieht und deutet. Zugespitzt: der Betrachter ist – außerhalb der gezeigten Welt der Bildgeschichte positioniert – der Voyeur, der heimlich von außen hineinblickt. Er kann dabei i. d. R. auf das Geschehen keinen Einfluss nehmen. Brian Ralph spielt in Daybreak (2011) immerhin damit: sein Akteur spricht den Rezipienten direkt an, bindet ihn aktiv in das Geschehen ein. Möglicherweise werden neue Formen wie interaktive Webcomics die konkrete Einflussnahme des Rezipienten tatsächlich zulassen. Die Zeugenrolle dagegen wird uns in zahlreichen Bildgeschichten direkt erkenntlich. Wenn z. B. Stefan Atzenhofer den heimlichen Beobachter einer Liebesszene zeigt, so wird dem Rezipienten klar, dass er selbst in der gleichen Lage ist. (Eine schöne Frau, 1999.)
Die Präsenz wie die nötige aktive Deutungsarbeit führen zu einer engen Bindung zwischen Rezipienten und dem Gezeigten, kann Identifikationen fördern, ohne freilich dass das Bewusstsein, eine „gemachte“ also subjektiv erzählte, fiktive Geschichte (ein Artefakt) vor Augen zu haben, verloren ginge. Das wird vom Autor – so er eine „wahre“ Geschichte präsentieren will – oft umspielt, indem er auf Präsentationsformen zurückgreift (z. B. Fotografie als Verfahren, Realistik als Stil), die das Gezeigte „real“, dokumentarisch wirken lassen. Hier wird angesprochen, wie und dass sich der Autor als „Erzähler“ bemerkbar macht. Während der mündliche Erzähler in dieser Rolle tatsächlich präsent ist, der Schreiber nachfühlbar und durch seine fixierten Worte als Erzähler agiert, ist der Produzent der Bildgeschichte eigentlich kein Erzähler, sondern ein Zeiger – ein Zeiger von Bildern, die sich von ihm völlig gelöst haben und darauf angewiesen sind, als autonomes visuelles Angebot von einem Betrachter als Impuls für die Konstruktion einer Erzählung genutzt zu werden. Abgesehen davon, dass sich natürlich durch den Stoff (also den Inhalt des Gezeigten) die prägende Einflussnahme des Autors als Erzähler zeigt (wobei, s. o., das oft arbeitsteilig geleistet wird), hat der Bildgestalter aber doch zahlreiche Möglichkeiten, sich wirkungsintendiert einzubringen. Wird die Bildfolge in Streifen entwickelt, wird sie in der Form ein Bild/ ein Blatt gezeigt (z. B. die Masereel-Bildromane), wird sie als Simultanbild präsentiert, bei dem der Betrachter bei seinem Weg durchs Bild z. B. einem Wegeverlauf folgt, oder muss der Betrachter auf der Bildseiten mit vielen, oft in Form und Größe differenten Paneln den Weg selbst erkunden? Gibt der Zeichner Orientierungshilfe mittels Pfeilen, Ziffern oder Zeichen, die suggestiv den Blick zum nächsten Panel weisen, die gar über den Panelrand zum nächsten reichen oder Metamorphosen wie konstant wiederkehrende Bildelemente als Mittel der Verknüpfung anbieten, wie z. B. Peter Kuper (The System, 1997), fordert er ihm die aufmerksame Anstrengung ab, den Reflexionen eines Lichtstrahles zu folgen, wie Marc-Antoine Mathieu in 3 Secondes (2011)? So hat er es in der Hand, wie er den Stoff dramatisiert, welche literarische Struktur er seiner Geschichte gibt, wie er Spannung aufbaut, wie er mit der Zeitfolge spielt.
Wie hier ist auch der Blick ins Bild wirkungsintentional. Wie blickt der Zeuge ins Geschehen? Nähe oder Ferne, Überblick oder Detail, Vogel- oder Froschperspektive lösen entsprechende Wirkungen aus – Aufmerksamkeit, Über- oder Unterlegenheit, neutrale Distanz o. ä. Der Bildautor kann uns aber auch einen personalisiert subjektiven Blick anbieten: wenn Hergé in Tim und Struppi oder Manfred Schmidt in Nick Knatterton mal diese, mal jene Protagonisten durch Ferngläser oder Schlüssellöcher schauen lassen, bedienen wir Rezipienten uns deren Blick, schlüpfen quasi in ihre Rolle. Konsequent hat Vivés den subjektiven Blick durchgehalten. In meinen Augen (2010) zeigt eine Geschichte (eine Entwicklung) ausschließlich aus den Augen eines (nicht gezeigten) Protagonisten, als der sich der Betrachter schnell selbst fühlt. Der subjektive Blick schafft die Möglichkeit, den Rezipienten in die Lage zu versetzen, nur so viel wie bestimmte Protagonisten zu wissen und damit z. B. weniger als andere, oder er zeigt ihm wiederum mehr, als die Protagonisten wahrnehmen.
Aber auch über den Stil der Bildgeschichte nimmt der Autor als Erzähler Einfluss: er prägt den Charakter der Geschichte (lustig, satirisch, ernst, pathetisch, fantastisch, real etc.) und provoziert damit eine entsprechende Erwartungshaltung. Wie James Joyce in Jugendbildnis des Dichters (zit. 1967) so anschaulich demonstriert, kann der Sprachstil eines Textes wesentlich zur Narration beitragen, kann in der Entwicklung von der Kindersprache („kam eine Muhkuh über die Straße“) zur abstrakt reflexiven Sprache die Entwicklung eines Menschen spiegeln. Der Zeichner einer Bildgeschichte kann das ebenso nutzen: wenn David Mazzuchelli in Asterios Polyp (2011) seine Protagonisten charakterisierend durch differente Stile kennzeichnet, wenn Paul Hornschemeier in The three Paradoxes (2008) durch den Stil differente Handlungsebenen (fiktive Erzählung in der Erzählung, erinnerte Rückschau in die Vergangenheit, Präsenz des aktuellen Geschehens) markiert.
Wie der Textautor mit der Erzählerrolle spielen kann, als Ich-Autor, als auftretende Erzählfigur, so kann das auch der Autor der Bildgeschichte. So kann er die Erzählerfigur im Bild zeigen (und sie damit natürlich von sich selbst unterscheiden). Im Sigenot (um 1475, Codex Palatinus Germanicus 67, UB Heidelberg) wird zunächst der Barde im Bild gezeigt, der das nun Folgende berichtet; in Disneys Robin Hood ist es der Spielmann, der anthropomorphe Hahn Alan-A-Dale, der – eingangs im Tondo präsentiert – die Geschichte erzählen wird, mit Text in seiner Sprechblase beginnt und dann die Bildfolge zeigt (1983). Dabei wird nicht selten Text (Beitext oder in Sprechblase) als Mittel genutzt, um so zu zeigen: hier erzählt jemand (tatsächlich – nämlich in Worten). Dabei kann diese Wort-Erzählung die Bildfolge begleiten – z. B. kommentierend oder gewissermaßen neben dem gezeigten Prozess als Reflexion wie z. B. Seth in Eigentlich ist das Leben schön (2004), dessen Ich-Erzähler der fiktiven Geschichte visuell dem Autor Seth ähnelt, wie ein Foto im Anhang zeigt, oder – hier mit dem Impetus auf „Wahrheit“ – Chester Brown, der als gezeichneter Akteur durch die Ähnlichkeit mit dem Autor (Fotovergleich) wie durch kommentierenden Beitext als Ich-Erzähler in Ich bezahle für Sex (2012) ausgewiesen wird. Hergé zeigt uns in Das Geheimnis der Einhorn (1947, zit. 1971), wie Haddock als Erzähler auftritt – in Worten (Sprechblase), höchst anschaulich in lebendiger Körpersprache (die die Pose des Protagonisten, von dem er erzählt, aufnimmt) sowie im Bild, das nicht auf das Vorstellungsbild des Zuhörers vertraut, sondern das Geschehen selbst visuell präsentiert. Erzählperspektive wie Erzählerfigur können wechseln, was durch Beitexte, Sprechblasen oder eben durch die gezeigten (und im Rückblick erzählenden) Protagonisten vermittelt wird, wie das z. B. Stefani Kampmann in ihrer Adaption von Morton Rhues Die Welle (2007) spannungsvoll betreibt. Noch einen Schritt weiter geht Art Spiegelman, der bekanntlich in Maus (1989, 1992) als Autor, als Sohn eines Holocaustopfers erzählt, den Vater selbst erzählen lässt und dann die differenzierten Erzählhaltungen und -positionen wiederum reflektiert – z. B. wenn er sich mit Mausmaske vor dem Zeichenbrett ins Bild setzt.
Doch die Einführung von Erzählfiguren (sei es tatsächlich der Autor selbst, sei es nur ein Spiel mit seiner Person, sei es ein Außenstehender, sei es ein Protagonist) ändert nichts daran, dass das eigentliche Geschehen visuell präsentiert, gezeigt wird und damit ein aufforderndes Angebot an den Betrachter ist, als Co-Autor aktiv zu werden, aus dem Gezeigten und in Schrift Gesagten eine lebendige Handlung im Kopf zu konstruieren. So gibt der Bildgeschichten-Erzähler Impulse, steuert in vielfacher Weise den Rezeptionsprozess und sucht, bestimmte Wirkungen zu erreichen – aber was letztlich als Erzählung rezipiert wird, bedarf der Mitwirkung, bedarf des Anteils des Rezipienten. Und hierin ist die Bildgeschichte narratologisch etwas ganz eigenes – und mehr als „Literatur in Bildern“. Sie ist eine eigene Kunstform.
Dietrich Grünewald