Roundtable zum Unzuverlässigen Erzählen 4
Soviel ist klar: Comics erzählen – mit wenigen Ausnahmen – Geschichten, und sie tun dies seit über einem Jahrhundert äußerst erfolgreich. Und auch wenn das Format des Zeitungscomics, das man als Geburtsstätte des modernen Comic Strip bezeichnen könnte, inzwischen vom Aussterben bedroht scheint, erfreuen sich neue Publikationsformate wie die Graphic Novel der wachsenden Beliebtheit immer heterogenerer Leserschichten. Comics, das kann man mit einiger Sicherheit feststellen, unterliegen seit geraumer Zeit immensen Kanonisierungsprozessen. Oder besser gesagt: sie nehmen an diesen Kanonisierungsprozessen Teil, indem sie sich in die Kulturgeschichten einzelner Länder sowie in unser Verständnis globaler Kulturproduktion einschreiben. In den USA werden Comics spätestens seit der Veröffentlichung von Art Spiegelmans zweibändiger Holocaust-Erzählung Maus (1986/1991) als wichtiger Bestandteil des nationalen Kulturerbes gehuldigt; in Frankreich und Belgien werden bande dessinées schon seit Jahrzehnten als neunte Kunst gehandelt. In Deutschland haben Feuilleton und Wissenschaft ihren Gefallen an der grafischen Literatur gefunden, und weltweit gehören die ursprünglich aus Japan stammenden und vermehrt global produzierten Manga zu den meistgelesenen Printpublikationen.
Weniger klar ist dagegen die Antwort auf die Frage, mit welchen erzählerischen Mitteln Comics erzählen. Zwar mangelt es nicht an populär- wie fachwissenschaftlichen Versuchen, die medienspezifischen Bausteine des Comics zu benennen und ihre Funktionsweisen zu beschreiben. Dennoch herrscht Unklarheit darüber, welche Erkenntnisse die Narratologie für die Comicforschung (und umgekehrt) liefern kann. Unbestritten scheint die Einsicht, dass literaturwissenschaftlich geprägte Modelle zur Autorschaft, Erzählinstanzen, Figurenzeichnung, fiktionaler storyworlds oder dem Rezeptionsakt nicht einfach eins zu eins auf Comics übertragen werden können. Auch wenn Comics mit literarischen Erzählformen verwandt sind, verfügen sie über ein ganz eigenes – man möchte sagen: einzigartiges – Instrumentarium an erzählerischen Mitteln, das in der Verschränkung von Schrift und Bild, der sequentiellen Staffelung von Erzählschritten und der häufig seriellen Taktung von Geschichten seine Vollendung findet.
Serielle erzählende amerikanische Superheldencomics stellen narratologische Zugriffe vor ganz besondere Herausforderungen. Die in der Literaturwissenschaft etablierte Instanz des unzuverlässigen Erzählers ist dafür ein gutes Beispiel. Im Kontext der Superheldencomics sollte man nicht von einem unzuverlässigen Erzähler, sondern vom unzuverlässigen Erzählen sprechen. Denn während die Vorstellung einer einheitlichen, anthropomorphischen Erzählerfigur selbst in literarischen Texten nicht unproblematisch ist, ist sie in Superheldencomics vollends irreführend. Das liegt zum einen daran, dass Comics Geschichten in Worte und Bilder fassen und das Erzählte in eine sprachliche Erzählebene und eine bildliche Erzählebene aufspalten, die zwar sehr eng miteinander verschränkt sind, aber in vielen Fällen von unterschiedlichen Autoren bzw. Autorenteams produziert werden und mit unterschiedlichen Gestaltungsmitteln arbeiten. Ich denke hier an die Marvel Comics aus den 1960er Jahren. Dort ist eine klare Grenzziehung zwischen einem sprachlich kommunizierenden Erzähler, den bildlich erzählten Figuren, Schauplätzen und Handlungssequenzen und den sprachlichen wie bildlichen Äußerungen uneindeutig identifizierbarer Autoren und Redakteuren in editorials und auf Leserbriefseiten weder möglich noch zielführend. Die Leser eines Spider-Man-Comics werden dort von ganz unterschiedlichen Erzählern und Bildgestaltern adressiert, und zwar nicht nur innerhalb der Seriengeschichten selbst, sondern in zahlreichen Peritexten, die neben den bereits genannten editorials und Leserbriefseiten auch Mitteilungen auf dem Cover, creator credits, Eigenwerbung für weitere Serien und vieles mehr umfassen. Mitunter vermischen sich Autor- und Leserrollen sogar, z. B. wenn Leser als Leserbriefautoren und später sogar als offizielle Autoren von Superheldenserien auftreten (Roy Thomas, Jim Shooter) oder wenn Autoren wie Gardner Fox und Otto Binder und Herausgeber wie Julius Schwartz Briefe an ihre Leser in einzelnen Fanzines veröffentlichen (Alter Ego). Daher ist es angebracht, die Vorstellung eines sprachlich kodierten Erzählers mit der Vorstellung eines multimodalen, multiautktorialen und multilokalen Erzählens zu ersetzen.
Darüber hinaus ist eine grundlegende narratologische Unterscheidung zu treffen. Denn Comicforscher haben immer wieder, meist mit Verweis auf Scott McClouds Understanding Comics: The Invisible Art (1993), auf die essentielle Unvollständigkeit des sequentiellen Erzählens im Comic und die damit verbundene erhöhte Leserinvolvierung hingewiesen. Durch das Aneinanderreihen gerahmter Einzelbilder, die jeweils eine statische Momentaufnahme einer als fließend zu denkenden Handlungskette darstellen, fordern Comics ihre Leser dazu auf, die Lücken zwischen den Panels, die sogenannten gutters, imaginativ aufzufüllen. Jared Gardner hat dies kürzlich in seinem Buch Projections: Comics and the History of Twenty-First-Century Storytelling (2012) erörtert und dabei gezeigt, dass die Lücken zwischen den Panels, aber auch das Zusammenspiel von Bild und Schrift und die Zeit zwischen einzelnen Folgen einer Serie, Räume für Leserprojektionen eröffnen, die Comicleser in der Geschichte des Mediums immer wieder produktiv genutzt haben. Man kann die Einführung von Leserbriefseiten, die Gründung von Fanzines und die Entstehung aktiver Fankulturen seit den 1960er Jahren durchaus auf die kulturschaffende Dynamik dieser Projektionen zurückführen. Somit finden wir in Comics medienspezifische Leerstellen, die sich von den literarischen Leerstellen, die Wolfgang Iser in seinen rezeptionsästhetischen Arbeiten benannt hat, insofern unterscheiden, als dass sie vom Leser eine besonders aktive Form der Partizipation verlangen, die Einzelsequenzen erzählerisch vervollständigt und dabei sowohl sprachliche als auch bildliche Imaginationsarbeit leistet.
Doch was genau haben diese Überlegungen mit der Frage nach dem unzuverlässigen Erzählen in Comicserien zu tun? Nun, zum einen schärfen sie den Blick dafür, dass das Erzählen in seriellen Comics ganz grundsätzliche Unzuverlässigkeiten mit sich bringt. Die notwendigen Imaginationsleistungen, die Comicleser im regelmäßigen – weil serienmäßigen – Rezeptionsakt aufbringen müssen, haben eine Vielzahl an Autorisierungskonflikten zur Folge, z. B. darüber, welche Inhalte, Formen und Ästhetiken beibehalten werden sollen, was geändert werden soll und welche Fortsetzungsmöglichkeiten als legitim, d. h. dem bisher Erzählten angemessen, angesehen werden können. Zum anderen erlauben diese narratologischen Überlegungen uns, die Ausgestaltung dieses Interpretationsspielraums vom Akt des unzuverlässigen Erzählens zu unterscheiden. Zwar mag der erhöhte Bedarf an Partizipation und Projektionsleistungen durch den Leser bedeuten, dass die eigentliche Comicnarration erst im Rezeptionsakt (zumindest innerhalb eines durch die Text-Bild-Konstitution vorgeschlagenen Rahmens) fertiggestellt wird, doch damit kommen wir nicht um die narratologische Prämisse herum, dass unzuverlässige Erzähler in der Regel als solche markiert – und damit auch als solche erkannt – werden müssen.
Wie sieht es nun mit dem Erzählen in Superheldencomics aus? Meine Grundannahme ist, dass serielles Erzählen in Superheldencomics prinzipiell unzuverlässig ist, und zwar auf eine besondere Art und Weise. Das Erzählen in Serie ist zumindest dann grundsätzlich kumulativ, wenn wir es mit „open-ended serial narratives“ (Gardner) zu tun haben, also mit langlaufenden Serien mit offenem Ausgang. Um Leser dauerhalft binden und begeistern zu können, müssen solche Fortsetzungsgeschichten die von Umberto Eco postulierte Seriendialektik aus Wiederholung und Variation/ Innovation beherrschen. Die natürliche Folge dieser Dialektik sind Figuren, Schauplätze und Handlungen, die im Laufe der Zeit an Komplexität gewinnen. Dies bedeutet aber auch, dass Figuren, Schauplätze und Handlungsentwicklungen wandelbar bleiben müssen: Batman und Gotham sind nach einigen Jahren erzählter Seriengeschichte längst nicht mehr mit der ursprünglichen Figur und ihrem Setting identisch. Die Vorstellung eines unzuverlässigen Erzählens bekommt hier eine signifikante Wendung. Nur solche Erzählungen, die den Drahtseilakt zwischen zuverlässiger Wiederholung (und damit auch: der Etablierung und Konservierung von Genrekonventionen) und potenziell unzuverlässiger Innovation (über deren Legitimität immer wieder neu verhandelt werden muss) hinbekommen, werden dauerhaft Anklang finden.
Zudem sind Serien, wollen sie kommerziell erfolgreich sein, auf das Feedback ihrer Leser und die Einbindung von Leservorschlägen angewiesen. Zusammen mit dem Variationsdruck, den der Serienmodus von sich aus ausübt, führt dies u. a. zur Entstehung alternativer Szenarien, die sich nicht in die offizielle Seriengeschichte (continuity) eingliedern. Man denke an die What If-Geschichten aus dem Marvel Verlag (seit den 1970er Jahren) oder an die Imaginary Stories (ab den 1940er Jahren) und späteren Elseworld-Formate (ab den späten 1980er Jahren) von DC Comics. Bei diesen Geschichten ist natürlich klar, dass ihre Erzählung nicht im herkömmlichen Sinn unzuverlässig ist, denn sie treten explizit als alternative Szenarien in Erscheinung. Doch gerade weil sie uns entgegen der etablierten Figurengenese vor Augen führen, wie Superman in der Sowjetunion landet und zum kommunistischen Superhelden wird (Mark Millar et al., Superman: Red Son, 2003) oder wie Batman im viktorianischen Zeitalter auf Ganovenjagt geht (Brian Augustyn und Mike Mignola, Batman: Gotham by Gaslight, 1989), zeigen sie eine ganze Bandbreite möglicher Variationen und potenzieller Serienveränderungen auf und destabilisieren damit die Zuverlässigkeit laufender Serien: das Unerwartete wird plötzlich nicht nur erwartbar, sondern tatsächlich greifbar, indem es sich in Form einer Comicserie manifestiert.
Aus einer höheren Prespektive betrachtet, können wir die heutige Erzählsituation des Genres insgesamt als „era of multiplicity“ (Henry Jenkins) bezeichnen, als Zeitalter, in dem die unterschiedlichsten Versionen eines Superhelden gleichzeitig präsent sind. Spider-Man ist in manchen Serien verheiratet, in anderen wiederum nicht; Aunt May weiß von seiner Rolle als Spider-Man, oder auch nicht; Peter Parker ist meist ein weißer Teenager, aber in den neusten Heften ein Held afroamerikanisch-hispanischer Herkunft; meistens spielt die Serie in den USA, aber manchmal auch in Japan oder sogar in Indien. Darüber hinaus können wir feststellen: es herrscht eine Vielfalt von diffus legitimierten Erzähl- und Zeichenstilen, die mal kulturindustriell autorisiert, mal von den Branchenriesen geduldet und oft auch nicht offiziell autorisiert sind und die sich nur noch schwerlich überschauen, geschweige denn kontrollieren lassen. Ja selbst die augenscheinlich einfache Frage, wer welchen Comic zeichnet und/ oder schreibt, war bis in die 1960er Jahre nicht immer eindeutig zu beantworten. Bei DCs Batman war es lange das Autorenlabel „Bob Kane“, hinter dem sich neben Kane Akteure wie Bill Finger, Gardner Fox, Jerry Robinson, Carmine Infantino und viele andere versteckten (oder verstecken mussten). Ob bestimmte Autoren und Zeichner eine Serie fortsetzen durften, blieb hier letztlich ebenso unsicher wie die Frage, welche Erzählinstanz zu den Lesern in bestimmten Heften sprach bzw. wer sich für die Bilder, die man ‚lesen‘ konnte, im wahrsten Sinne verantwortlich zeichnete.
Da sich Superheldencomics seit ihren Anfängen in einem transmedialen Umfeld bewegen, das sich durch die fortlaufende Transposition von Figuren, Inhalten und Ästhetiken in Fernsehserien, Kinofilme, Computerspiele (ganz zu schweigen von der materiellen Kultur des Merchandising) kontinuierlich ausweitet, stehen Comicserien zusätzlich in stetem Austausch mit Erzählungen in anderen Medien, der unvorhersehbare Auswirkungen auf die Seriengestaltung haben und Erzählprozesse weiter destabilisieren (und damit unzuverlässig machen) kann. Superman, Batman, Wonder Woman, Captain America, Spider-Man, die X-Men und viele andere sind nie einfach nur Comic-Superhelden, sondern immer auch Fernsehfigur, Kinoattraktion und/ oder Computeranimation. Damit sind sie für den Rezipienten per se unzuverlässig; jedes Medium hat seine eigenen Gesetze, muss neue Publika mobilisieren und darf sich der Seriengeschichte der Comics nur äußerst selten verpflichtet fühlen. Tim Burtons erster Batman Film von 1989 ist nur ein Beispiel dafür, wie sicher geglaubte Grundfeste eines Comics wie Batmans geheime Identität als Bruce Wayne aus den Angeln gehoben werden können. Hollywood Blockbuster brauchen nun einmal eine Portion Romantik, und so ist es durchaus plausibel, dass die Reporterin Vicky Vale (Kim Basinger) Einblicke hinter die Fassade des Batmans erhält, indem sie Batman als Bruce Wayne (Michael Keaton) kennenlernt und Zutritt zur eigentlich streng geheimen Batcave erhält. Die wütenden Fanreaktionen auf diese als Verrat an den Comics wahrgenommenen Änderungen untermauern die Annahme, dass serielles Erzählen in Superheldencomics zumindest immer latent und oft sogar manifest unzuverlässig ist, sobald es sich in einem transmedialen Umfeld bewegt.
Doch damit nicht genug. Superheldencomics haben zwei extrem einflussreiche – weil weitreichende – Mechanismen des unzuverlässigen Erzählens entwickelt: die retrospective continuity (retcon) und das reboot. Beide Mechanismen sind für den Fortbestand langlaufender Serien von essentieller Bedeutung. Denn ja länger eine Serie Geschichten erzählt, desto länger wird ihre Seriengeschichte. Das bedeutet: Serien, die nicht an eine strenge Episodenstruktur gebunden sind (d. h. die nicht mit jeder neuen Folge zum Ursprungszustand zurückkehren), häufen über die Jahre ein immenses Archiv an zwangsläufig komplexer werdenden Figuren, Settings, Handlungssträngen, Erzählkonventionen und Bildästhetiken an, die sich ab einem bestimmten Punkt kaum noch, oder überhaupt nicht mehr, kontrollieren lassen. Reboots wie DCs 12-teiliges Crisis on Infinite Earths (Marv Wolfman und George Pérez, 1985), Frank Millers Batman: The Dark Knight Returns (1986) oder auch die kürzlich vorgenommenen Neuordnungen von Seriengeschichten bei DC und Marvel („The New 52“ und „Ultimate Comics Universe Reborn“) sind Versuche, ausufernde Serien neu zu fokussieren und sie für neue Lesergenerationen zugänglich zu machen. Allerdings bedeutet das für langjährige Leser, die sich naturgemäß oft besonders stark mit einer Figur oder einer bestimmten Serie identifizieren, dass sie auf die Fortführung dieser Figuren und Serien keine Garantie haben und jede Leseerwartung schon mit dem nächsten Heft enttäuscht werden kann. Diese strukturelle Unzuverlässigkeit ist ein wichtiger Faktor für die Entstehung von Fankulturen und der von ihnen oft vehement betriebenen Lobbyarbeit, durch die über die Legitimität von Serienfortsetzungen jeglicher Art öffentlich verhandelt werden soll.
Retcons sind, ähnlich wie reboots, ein fortwährender Unsicherheitsfaktor, denn sie erlauben die nachträgliche Korrektur sowie das Ausfüllen bereits erzählter Seriendiegese. So wird Batmans Ursprungsgeschichte erst Monate nach seinem ersten Auftreten in Detective Comics #27 (1939) in Batman #1 (1940) nachliefert, über die Jahre mit weiteren Details angereichert und dabei immer weiter ausdifferenziert. Was in Batman #1 in nur 12 Panels erzählt wird, umfasst in „The Man Who Falls“ (Denny O’Neil und Dick Giordano, 1989) schon ganze 16 Seiten; in Frank Miller und David Mazzucchellis Year One (1987) erstreckt sich die Erzählung sogar auf vier komplette Comichefte (Batman 404-407). Für die Leser bedeuten diese Ausdifferenzierungsprozesse: sie können sich nie sicher sein, dass sich das bereits Gelesene und vielleicht schon seit Jahrzehnten als sicher Geglaubte nicht schrittweise ändert oder sogar komplett auf den Kopf gestellt wird. In dem bereits genannten Crisis on Infinite Earths erfährt der Leser, dass die komplette Seriengeschichte vor dieser Publikation nie wirklich stattgefunden habe. Serien beginnen in diesem Sinn immer in medias res; Ereignisse, die vor dem in der ersten Folge erzählten Inhalt stattgefunden haben, können nachträglich hinzugefügt oder umgedeutet werden, und was lange als kanonisches Serienwissen galt, kann ruckartig als (zumindest offiziell) obsolet erklärt werden.
Sind Serienanfänge grundsätzlich unzuverlässig, trifft dies auch für das Ende von Serien zu. Superhelden können sterben – und tun dies auch fast schon regelmäßig – ohne jemals endgültig tot zu sein. Superman, Batman, Spider-Man: alle großen Comic Superhelden sind bereits gestorben und danach wieder auferstanden. Auf Supermans offiziellen Tod (Dan Jurgens et al., The Death of Superman, 1992) folgt logischerweise die Wiederkehr, und zwar in vierfacher Ausführung (Dan Jurgens et al., Reign of the Supermen, 1993). Diese Beispiele zeigen, dass selbst die ultima ratio des Heldentotes in Seriengeschichten kein Ende der Handlung darstellt. Selbst formal abgeschlossene Serien finden selten ein Ende. Denn Verlage können einfach entscheiden, tot geglaubte oder inaktive Figuren wiederzubeleben, wie es z. B. mit Captain America, Miracleman und Sandman geschehen ist; ebenso können offiziell beendete Serien von nicht-offiziellen Autoren und/ oder Zeichnern fortgeschrieben werden. Das Feld der Fan Fiction und der Fan Art bzw. Fan Comics ist gerade in Zeiten des Internets so vielfältig wie nie zuvor.
Damit stellt sich abschließend die Frage, ob sich literarturwissenschaftliche Konzepte aus dem Kontext bildungskultureller Werkproduktion ohne weiteres auf den Bereich kommerzieller Serienproduktion anwenden lassen. Ich würde behaupten, dass der unzuverlässige Erzähler in literarischen Texten auf die Fähigkeit des Lesers setzt, die auktorial gesetzte Markierung der Unzuverlässigkeit zu erkennen und den Erzählerdiskurs kritisch, d. h. im vollen Bewusstsein möglicher Täuschungsversuche und den daraus entstehenden Ambiguitäten zu dekodieren. Dies ist im Feld der Superheldencomics nicht grundsätzlich anders, doch haben wir es hier mit einer deutlich gesteigerten medien- und genrespezifischen Form zu tun. Der kompetente Comicleser muss sich der komplexen Seriengeschichte, der gegenwärtigen Multiplizität von Serien, Formaten und Medien (inklusive ihrer inhaltlichen, formalen und medialen Überschneidungen und Widersprüchen) sowie des in diesem Essay beschriebenen Grundzustands immanenter Unsicherheit bewusst sein, um einzelne Serien mit vollem Gewinn lesen zu können. Die latente und manifeste Unzuverlässigkeit solcher Serienerzählungen – die sich ihrer eigenen Unzuverlässigkeit übrigens bewusst sind und dieses Bewusstsein narrativ nutzen – kann somit als Steigerung des Leservergnügens verstanden werden, das Rezipienten und Produzenten in einen besonders intensiven Austausch bringt und auf diese Weise zum Fortbestand der Superheldencomics als populärkulturelles Genre beiträgt.
Daniel Stein