Stephan Packard: „Yes. I’m Peter Parker.“

Roundtable zum Unzuverlässigen Erzählen 5

Überlegungen zur historischen Transmedialität von unzuverlässigem Erzählen und unzuverlässigem Erzähler in Amazing Spider-Man 698

Vorsicht, Spoiler: Peter Parker, der unglaubliche Spider-Man, ist gar nicht mehr Peter Parker. Doctor Octopus, einer seiner erzschurkischen Widersacher, hat Peters Körper übernommen, lebt in ihm und führt unerkannt dessen private sowie dessen Superheldenidentität fort, eine secret identity hinter der secret identity. In der erzählten Welt ist der Austausch vor den ersten Ereignissen in Amazing Spider-Man 698 geschehen; der Leser erfährt erst kurz vor Ende des Hefts davon. Bis dahin wird er wie die anderen Figuren in Peters Umfeld getäuscht. Die Erzählung erweist sich damit als unzuverlässig, weil revisionsbedürftig. Aber gibt es mit der unzuverlässigen Erzählung auch einen unzuverlässigen Erzähler? Und ist es überhaupt legitim, narratologische Begriffe von Erzählung, Erzähler und Unzuverlässigkeit, die an schriftsprachlicher Narration gebildet wurden, an Comics anzulegen?

Ich meine: ja. Und zwar nicht etwa deshalb, weil diese narratologischen Konzepte zeit- und formübergreifende Universalien a priori wären, die sich transmedial auf verschiedenste Kunstformen anwenden ließen; sondern im Gegenteil, weil sich diese Transmedialität historisch in gegenwärtigen Comics aktiv vollzieht, weil künstlerische Verfahren in der einen Gattung Konventionen der anderen gezielt aufgreifen und damit überhaupt erst, fallweise und induktiv, übergreifende Begriffe konstruieren. (Zu diesem Entwurf von Transmedialität vgl. allgemeiner Packard 2013.) Die Übertragung traditioneller Erzähltheorie auf Comics ist spannungsreich und problematisch. Sie findet jedoch keineswegs erst in der Folge einer etwaigen Schieflage in der Forschung zwischen Narratologen und Comicforschern statt; so eng ist die Rechtfertigung einer Comicnarratologie nicht begrenzt. Die Frage nach strukturellen Ähnlichkeiten zwischen schriftsprachlichen Erzählungen und Bildgeschichten charakterisiert vielmehr die Gegenwart des Erzählens in den damit berührten verschiedenen Medien: Der Vergleich mit den Gewohnheiten der schriftsprachlichen Erzählung gehört nicht erst zur Forschung, sondern bereits zur gelungenen Lektüre avancierter Comics und ist notwendige Voraussetzung bestimmter kreativer Verfahren in Bildgeschichten.

Kurz: Nicht erst der Comicforscher, sondern bereits der Comic weiß nicht genau, wie weit die Konzeption des Erzählens auf ihn paßt; und nicht selten verwenden Comics diese Unsicherheit gezielt und mit erheblichem ästhetischen Gewinn. Das Spiel mit unzuverlässigem Erzählen und unzuverlässigem Erzähler in Amazing Spider-Man 698 wäre unmöglich, wenn es nicht präzise Erzählweisen aus schriftsprachlicher Gewohnheit übernähme; und es würde ebensowenig gelingen, wenn diese Übernahme glatt vor sich ginge und die Adaption nicht besondere Spuren hinterließe, die sich in speziellen ästhetischen Möglichkeiten im Comic niederschlagen.

Was also geschieht hier? Es handelt sich um jene besondere Spielart der Unzuverlässigkeit, die nicht auf generelle und unauflösbare Verunsicherung, sondern auf eine exakt benennbare spätere Revision zielt: Wir dachten zunächst, es handele sich um Peter Parker; es handelt sich aber in Wirklichkeit um Otto Octavius. Die Neubewertung legt unmittelbar eine nochmalige Lektüre nahe: Nach der Enthüllung entsteht sofort der Wunsch, den Comic ab der ersten Seite auf die Verfahren der Täuschung, auf Hinweise auf dieses Geheimnis und auf die Kohärenz der doppelbödigen Darstellung hin zu prüfen. Der ästhetische Erfolg stellt sich erst im Verlauf dieser Prüfung vollständig ein, wenn der Leser anerkennen muß, daß das ungeklärte Unbehagen plausibel aufgelöst wird und die Irreführungen im Rahmen implizit definierter Spielregeln fair erscheinen.

Vieles, was uns zunächst wie eine verfehlte Darstellung der seit Jahrzehnten bekannten Figur vorkommen mußte, wirkt nun besonders elegant: Der bisweilen unpassende Tonfall von Peters vermeintlichen Äußerungen, sein plötzlich viel extrovertierteres und untreueres Verhalten gegenüber Frauen und eine ungewohnte Arroganz und Selbstverliebtheit waren zunächst vielleicht auf die unbeabsichtigte, unvermeidliche Unzuverlässigkeit in der Kontinuität seriell erzählter Welten bezogen worden. (Vergleiche Daniel Steins Beitrag zu diesem Roundtable.) Nun aber spricht sie vielmehr für eine genaue Kenntnis der Tonlagen beider Figuren, die in einer absichtlichen, auflösbaren Unzuverlässigkeit miteinander vertauscht wurden. Und wenn eine Polizistin am Rande über eine andere Figur sagt:

There’s a reason he was speaking that way … he’s a bluffer. (S. 9f.),

dann gewinnt der Satz nun mehrere zusätzliche Bedeutungen, die auf Octavius’ Rede und auch auf die Präsentation des ganzen Hefts bezogen sind: Beide bluffen von Anfang an, wie wir am Ende erfahren.

Wer über die Nähe von Comics und traditionell beschriebener Narration Buch führen wollte, könnte schon hier eine Minimaldefinition des Narrativen erfüllt sehen: Es liegt eine doppelte Zeitlichkeit vor, die die Erzählzeit des discours von der erzählten Zeit der histoire trennt und es erlaubt, daß die Verschiebung zwischen dem Geschehen (Dr. Octavius übernimmt Peters Körper bereits vor dem Beginn von ASM 698) und dem Zeitpunkt seiner Vermittlung (der Leser erfährt dies erst am Ende von ASM 698) für die Wirkung des Comics wesentlich wird. Die zusätzliche Schleife bei der Wiederlektüre verschärft diesen Effekt und lebt von ihm, führt ihn aber keineswegs erst herbei. (Müller 1948; Genette 1972: 77-182; Chatman 1990; für Comics vgl. Schüwer 2008: 23.) Martin Schüwer hat die Übertragung dieses Kriteriums auf Comics sehr einleuchtend kritisiert, da die strukturalistische Trennung zwischen Signifikant und Signifikat, also zwischen der Zeichenfolge, durch die erzählt wird, und dem vorgestellten Geschehen, von dem erzählt wird, durch ästhetische Verfahren vor allem in avancierten Comics oft unterlaufen werde: Immer dann, wenn die Zeichenstruktur selbst diegetischer Inhalt wird und Figuren ihre Umgebung neu zeichnen, einander in die Denkblasen blicken, in den gutter greifen, usw. Das ist wahr; aber auch eine Struktur, die unterlaufen wird, muß dafür zunächst einmal da sein; anders wäre der Übergriff auch gar nicht als besonderes Verfahren markiert. Comics mögen damit nach dem Kriterium der doppelten Zeitlichkeit insgesamt zwar mehr tun, als nur zu erzählen, aber dennoch wird in (sehr vielen von) ihnen erzählt.

Soweit die Minimaldefinition, nach der die Wirkung der Unzuverlässigkeit in ASM 698 bereits spezifisch erzählerisch heißen kann. Geht man über dieses Minimum hinaus und verlangt nach Erzählungen im engeren Sinne, so ist als nächstes die Forderung nach einer Erzählinstanz zu erheben. Dies ist in den allermeisten Diskussionen die Crux bei der transmedialen Ausweitung des Erzählbegriffs. Es ist kein Zufall, daß die nicht nur in Einführungen zur Narratologie und zu Recht immer wieder zitierte luzide Darstellung des Erzählerbegriffs am Eingang von Manfred Pfisters Darstellung über das Drama (61982: 18-22) gerade darauf abzielt, das Fehlen der Erzählerinstanz in dieser Gattung zu demonstrieren und diese damit von der Erzählgattung abzusetzen. Ebenso ist immer wieder für den Film (z. B. Mahler 2001) und für das Computerspiel (z. B. diskutiert in Backe 2008:118ff.) eine Erzählung dort verneint worden, wo keine Erzählerinstanz zu finden sei. Für die Forschung zu Comics erweist sich die Frage als ungeheuer produktiv, auch wenn eine akzeptierte Antwort aussteht. (Eine ausführliche und genaue Rekonstruktion und Evaluation von Positionen leistet Thon 2013.)

Für das Spiel mit der Unzuverlässigkeit in ASM 698 stellt sich damit die Frage nach dem Gegenspieler des Lesers: Von wem werden wir getäuscht, oder wessen geschicktes Täuschungsmanöver goutieren wir in der zweiten Lektüre? Da ist zum einen der Szenarist Dan Slott, dessen meisterhafte Beherrschung der Kunstform sich in dem gelungenen Comic durch die Eleganz der Täuschung beweist, oder die in der Vermittlung vor ihn tretende Instanz des idealen oder impliziten Autors, die anders als Slott alles in diesem Werk vollständig verantwortet und jede seiner gerechtfertigten Wirkungen beabsichtigt – und die im Comic zudem die Intentionen und Fähigkeiten des Autorenkollektivs bündelt, das hier auch noch den Zeichner Richard Elson, den Koloristen Antonio Fabela, den Letterer Chris Eliopoulos, und vielleicht auch die Redakteure Ellie Pyle, Stephan Wacker, Axel Alonso, Joe Quesada, Dan Buckley und Alan Fine umfaßt.  Zum anderen unternimmt die Figur des Otto Octavius offensichtlich ein Täuschungsmanöver, das sich freilich nicht an den Leser, auch nicht den idealen Leser richtet, der alle Elemente des Werks richtig wertet und versteht, sondern an die anderen Figuren der erzählten Welt.

Aber genau hier tritt nun eine Besonderheit auf, die den Reiz gerade dieses Täuschungsmanövers ausmacht: Denn wenn sich Dr. Octavius mit täuschender Absicht nur an die anderen Figuren und nicht an den Leser wendet, so nicht deshalb, weil sich seine Stimme überhaupt nicht an den Leser richtete. Das tut sie nämlich durchaus: Von Seite 7 bis 17 lesen wir in Textkästen Sätze, die von Dr. Octavius stammen und das Geschehen auf diesen elf Seiten präsentieren, kommentieren, interpretieren und vor allem auch arrangieren, also wie ein Erzähler zwischen ihnen überleiten und vermitteln. Der insgesamt also nicht eben kurze Text beginnt mit folgenden Worten:

My name is Peter Parker. I’m the amazing Spider-Man.

Und er endet mit dem Eingeständnis:

Still sounds wrong.

Diese beiden Stellen sind also für die Wiederlektüre in besonderer Weise sprechend, und das gilt auch für die meisten der anderen Sätze, die immer wieder nach der Identität des Sprechers tasten:

[…] what’s the point of being Spider-Man […]? (S. 8)

For a poor boy from Queens, who always wanted to be a scientist, this is definitely a dream job. (S. 13)

Me, of all people, on the world’s most renowned super hero team. (S. 17)

… und Selbstzweifel ausdrücken:

My God, who talks like that? (S. 9)

Really? I leap in and you say, „Spider-Man“? (Im direkten Dialog, zu einem kleinen Superschurken, S. 9.)

„Why aren’t we together?“ (Im Selbstgespräch vor dem Spiegel beim Abhören einer Nachricht von Peters Exfreundin Mary Jane Watson, S. 12.)

In der erneuten Lektüre ist der Comic voller Hinweise auf die fragliche Identität Peters. Er ist zudem reich an erst jetzt verständlichen Witzen, die Dr. Octavius in die Rolle eines Kommentators von Peters Biographie setzen: seine Bewertungen ähneln dann dem Fandiskurs, wenn  er etwa die erst vor wenigen Jahren in einem aufwendigen Retcon aufgelöste Beziehung zu Mary Jane Watson kritisiert. Und von besonderem Interesse sind jene Stellen, die durch die veränderte Sprecherrolle neu interpretiert werden müssen: Daß Peters Anstellung als Mitarbeiter in einem Forschungslabor eine Traumstelle für den armen Jungen aus Queens ist, der immer Wissenschaftler werden wollte, verwandelt sich von einem Triumph in eine Abwertung, wenn die Feststellung von dem arrivierten Wissenschaftler Dr. Octavius stammt, der mit diesem Status unzufrieden ist.

Der höchste Grad an sprachlicher Subtilität ist dort verwirklicht, wo ein eindeutig täuschender Wortlaut: „My name is Peter Parker.“ nicht mit der Absicht der Täuschung formuliert wird. Im Kontext der ersten Lektüre beginnt damit in nicht ungewohnter Weise eine neue Erzählung aus Peters Leben. Im Deutungshorizont der zweiten Lektüre bejubelt Dr. Octavius, daß er jetzt Peter ist und sein darf, er macht sich seine Position selbst bewußt und konstruiert nicht etwa eine Lüge; der Satz ist an niemanden gerichtet, den es zu belügen gilt. Ja selbst die ausdrückliche Beteuerung im Dialog: „Yes. I’m Peter Parker.“ (S. 19) hat nicht die Absicht zu täuschen. Diese Worte nämlich richtet Octavius in Peters Körper erst im Moment der Enthüllung an die einzige Figur, die sich dadurch nicht täuschen lassen kann: An den tatsächlichen Peter Parker, der in Octavius’ sterbendem Körper gefangen ist. Er weiß Bescheid. Er wird hier verhöhnt – aber nicht belogen.

Der besondere Ort dieser reizvoll vieldeutigen Sätze ist also einerseits von dem Auftreten der Figur in der erzählten Welt und ihrer Kommunikation mit deren restlichem Personal verschieden, andererseits auch nicht identisch mit der Präsentation, die dem idealen oder konkreten Autor zuzuschreiben wäre, der seinen Leser elf Seiten lang bewußt täuscht. Diese Vermittlerposition zwischen Figur und implizitem Autor heißt traditionell Erzähler. Dies ist auch stilistisch entscheidend: Denn gerade für die aus schriftsprachlichen Erzählungen gewohnten personalisierten Erzählerstimmen ist es typisch, daß sie ihren Gedankeninhalt in ausformulierten Sätzen präsentieren, die zudem das Erzählte deiktisch referenzieren, kommentieren und in Überleitungen verbinden: Die Form dieses Gedankenberichts wird wohl kaum als realistisches Abbild mentaler Vorgänge, sondern viel eher als Konvention von Erzählern akzeptiert.

Es wird also in ASM 698 erzählt, und es gibt eine Instanz, die dem traditionellen schriftsprachlichen Erzähler gleich positioniert und gestaltet ist. Die Wirkung der inszenierten Unzuverlässigkeit ist zudem mit diesen narrativen Strukturen unlösbar verbunden. Gäbe es diese Strukturen und ihre eingeführten Konventionen nicht, schlügen die Kunstgriffe des komplizierten Täuschungsmanövers fehl. Die Präsenz von klassischen narrativen Verfahren ließe sich nicht leugnen, ohne die Funktionsweise dieses Comics undurchschaubar zu machen.

Fraglich ist aber dennoch, ob der als personalisierter, homodiegetischer Erzähler präsentierte Otto Octavius auch tatsächlich die Funktion eines Erzählers für den Comic übernimmt. Ist seine vermeintliche Erzählerstimme nicht eine nur sekundär inszenierte, während das entscheidende Gegenüber des Rezipienten der Erzählung vielmehr der Inszenator, der Zeiger sein muß, dessen Konventionen gerade über jene des schriftsprachlich etablierten Erzählers hinausgehen? (Vgl. dazu die Erklärung des Zeigers in Dietrich Grünewalds Beitrag zu diesem Roundtable.) Dem entspräche Jan-Noël Thons These, daß der Comic intradiegetische Erzähler ohne extradiegetische Erzähler präsentieren kann: das hießt, es gibt eine Vermittlungsebene der Erzählung oberhalb dieser Erzählerstimme, auf der höheren Ebene jedoch zwar vielleicht einen Erzähler, aber keine Erzählerstimme (Thon 2013) und damit keine unmittelbare Vergleichbarkeit mehr zur sprachlichen Erzählung im engeren traditionellen Sinne.

Betrachten wir das Verhältnis zwischen diesen beiden Instanzen also noch einmal genauer. Die Täuschung gelingt, indem wir zwar Zugang zu Otto Octavius’ Gedanken erhalten, aber dennoch nicht erfahren, was dieser von der ersten Seite an weiß: Daß er nämlich Octavius und nicht Peter Parker ist. Die Information ist nicht verfälscht, sondern ausgelassen, was als Spannung zwischen misreporting und underreporting (vgl. Phelan 2005: 34ff., 49ff.) die Möglichkeit eröffnet, der höheren Instanz eine absichtlich irreführende Selektion aus dem Material der tieferen Instanz vorzuwerfen. Diese Vorstellung von einer präexistenten Menge an für die Erzählwelt wahren Informationen, aus denen nun einige für die Darstellung ausgewählt werden könnten, verstärkt freilich den Bezug auf eine Doppelung von histoire und discours ebenso wie die Referenz auf die Editoren- und Redakteursrollen von gedruckten sprachlichen Werken, was für eine Comicanalyse kaum befriedigen kann: Die erzählte Welt erscheint in der Erzählung geradezu redigiert.

Der klassische Fall des unzuverlässigen Erzählers in Agatha Christies The Murder of Roger Ackroyd (1926) scheint zunächst parallel zu verlaufen: Der homodiegetische Erzähler Dr. Sheppard berichtet wahrheitsgemäß, aber mit Auslassungen von einer Ermittlung, an deren Ende die Figur des Detektivs Poirot beweist, was Sheppard von Anfang an wußte, dem Rezipienten der Erzählung aber zunächst nicht verriet: Daß Sheppard der Mörder ist. Aber der Erzähler Sheppard ist nicht intradiegetisch, keiner weiteren Vermittlungsebene außer jener der Autorschaft untergeordnet; er bekennt sich im Epilog zu seinen Auslassungen als Erzählverfahren und bewußte Täuschungsmanöver, und er kennt den Rezipienten der Erzählung als sein adressiertes Publikum. Dagegen brilliert die Täuschung des Lesers in ASM 698 dadurch, daß sie eben nicht Dr. Octavius, sondern der ihn präsentierenden Instanz angelastet werden muß, und daß Octavius’ Worte zwar nur dem Leser zugänglich, aber von Octavius nicht für diesen bestimmt sind.

Aber die mediale Grenzüberschreitung findet hier nicht erst zwischen Roman und Comic statt. Die entscheidende mediale Grenze verläuft vielmehr bereits innerhalb der schriftsprachlichen Erzählkonzeptionen des 20. Jahrhunderts: Sie betrifft die Unterscheidung zwischen visueller Information und sprachlicher Vermittlung. Denn gerade die Analyse des oberflächlich monomedialen schriftsprachlichen Erzählens bedient sich in der Narratologie einer medialen Differenz zwischen Sagen und Zeigen. Viel wesentlicher als die Vorstellung vom redigierenden Editor sorgt sie für die konzeptuelle Trennung der erzählten Welt, die es zu sehen gibt, und der erzählenden Darstellung, die jene sprachlich vermittelt. (Genette 1972: 67ff.)

Das Problem des Status von Dr. Octavius’ Stimme kann entweder als reiner Gedankenbericht aufgelöst werden, der dann von einer anderen Instanz erzählt oder präsentiert wird, oder als Erzählerstimme, die intradiegetisch mit einer extradiegetischen, womöglich nicht erzählenden Instanz konkurriert. Im ersten Fall wäre Octavius Fokalisator der Erzählung, nur im zweiten Fall Erzählerstimme: Im ersten Fall antwortet Octavius auf Genettes Frage nach dem wer sieht?, nur im zweiten Fall auf das wer spricht? Entscheidend ist, daß Octavius ebensowenig ein unzuverlässiger Fokalisator wie ein unzuverlässiger Erzähler ist. Auch unzuverlässige Fokalisatoren gibt es zwar, wenn etwa minderjährige, debile oder schlecht informierte Figuren die Grenzen des ausdrücklich vermittelten Wissens definieren, die Absicht des Erzählers aber zur Spekulation oder gar zur präzisen Erschließung einer dahinterliegenden Wirklichkeit einlädt. Octavius ist zwar größenwahnsinnig, aber nicht debil, er kennt die Wahrheit genau, und seine Gedanken verheimlichen sie nicht. Es ist allein die Auswahl aus seinen Gedanken, die uns täuscht: Nicht die Grenzen seines Wissens, sondern die Grenzen unseres Zugangs zu diesem Wissen.

Unzuverlässigkeit wird in der Moderne narratologisch an der unsicheren Übersetzung vom Sehen ins Sagen konzipiert, und zwar wie selbstverständlich auch dann, wenn die vollständige Information diegetisch nicht im engeren Sinne der Modalität nach sichtbar ist: Wenn die Gedanken einer Figur nicht zugänglich sind, sondern nur ihr Äußeres, ist dies bei Genette eine Begrenzung der Sicht. Aber auch dies ist nicht etwa eine mangelhafte Theorie, sondern zutreffende Wiedergabe der historisch kontingenten Funktionen einer Literatur, die The Murder of Roger Ackroyd möglich macht. Wie sehr diese Deutung von Modalitäten von einem Zeitalter einer konstitutiv audio-visuellen Disposition abhängig war, wird vielleicht erst mit neueren transmedialen Phänomenen wieder sichtbar. Das zeitgleiche photographische Dispositiv exemplifiziert dies, ist aber wohl nicht der Grund einer Division, die ästhetisch und epistemologisch tiefer und früher anzusiedeln ist (vgl. Rancière 2003).

In Wayne Booths einflußreicher Rhetoric of Fiction laufen 1961 die Traditionen des modernen Erzählerbegriffs, des unzuverlässigen Erzählers, und der medialen Disposition des Erzählers zusammen. Dort wird die Unzuverlässigkeit eines Erzählers, der etwa von einem Ehebruch berichtet, ohne ihn zu verdammen, moralisch durch den Verweis auf die bewußte Präsentation dieser Unzuverlässigkeit durch einen weiteren, einen implied author gerechtfertigt, der den Ehebruch zwar nicht explizit in Worten verurteilt, aber durch das Geschehen, von dem er berichtet, die unheilvollen Konsequenzen offensichtlich macht. Während in ASM 698 die Differenz zwischen der Täuschungsabsicht der idealen Vermittlungsinstanz zu Beginn und der von ihr ebenso intendierten Enthüllung am Ende besteht, sieht Booth sie eher zwischen einem getäuschten oder täuschenden, jedenfalls unzuverlässigen Erzähler und einem diese Unzuverlässigkeit durchwegs ausstellenden impliziten Autor. Beide aber entnehmen ihre Differenz einem medialen Dispositiv, das sich auf einer transmedialen Wanderschaft aus schriftsprachlichen Erzählungen in Comics befindet. Diese Differenz heißt bei Booth in bezeichnender Weise, obwohl sich seine Abhandlung allein mit schriftsprachlichem Erzählen beschäftigt, telling versus showing.

Im Sinne genau dieser historisch kontingenten Verteilung von Zeigen und Sagen ließe sich nun auch formulieren, daß uns gezeigt wird, wie Octavius dieses und jenes denkt, daß aber dabei nie gesagt wird, wie dieses Gedachte interpretiert werden muß. Dieses Zeigen und Sagen geht allein schon an der schriftlichen Kommunikation auseinander. Das heißt zugleich: die Grenze zwischen diesem narrativen Sagen und Zeigen verläuft in diesem Comic völlig schief zu jener zwischen oberflächlich schriftlichen und bildlichen Elementen der Kunstform.

Und tatsächlich zeigt sich die piktoriale Umsetzung ganz als Komplize der selektiv täuschenden Wiedergabe einer an der Täuschung des Lesers unbeteiligten Wahrnehmung der Figur Octavius. Am deutlichsten ist dies in der Konfrontation von Dr. Octavius und Peter, die in Amazing Spider-Man zweimal erzählt wird: Einmal am Ende von 698 aus Octavius’ Sicht, und dann nochmals am Anfang von 699, diesmal aus der Sicht des in Octavius’ sterbendem Körper gefangenen Peter; jedoch mit identischem Dialog (S. 698.20 und 699.05; Abb. 1 und 2.) Das zweite Bild zeigt das haßverzerrte Gesicht des triumphierenden Bösewichts. Das erste Bild verschweigt dies; aber es ersetzt die boshafte Miene nicht durch ein falsches, freundlicheres Antlitz, sondern zeigt den Antagonisten seitlich von hinten: Motiviert durch seine Sicht auf die Situation, über seine Schulter, ein Blick, der sich nicht als erblickter versteht. In derselben Weise ist die Unzuverlässigkeit auch in allen vorigen Bildern verwirklicht: Selektive Ansichten, die bei der zweiten Lektüre bedeutsam werden, jenseits der Selektion aber keine Täuschungsabsicht des Fokalisators belegen.

Abb. 1: Dr. Octavius’ Geständnis aus Dr. Octavius’ Sicht. (ASM 698)

Abb. 1: Dr. Octavius’ Geständnis aus Dr. Octavius’ Sicht. (ASM 698). Für eine größere Ansicht bitte das Bild anklicken.

Abb. 2: Dr. Octavius’ Geständnis aus Peter Parkers Sicht. (ASM 699)

Abb. 2: Dr. Octavius’ Geständnis aus Peter Parkers Sicht. (ASM 699)

Was heißt dies nun für die Übertragung von Begriffen des Erzählens, des Erzählers und der Unzuverlässigkeit auf diesen Comic? Martin Schüwer hat in seiner Erzähltheorie der graphischen Literatur einerseits die Erzählerinstanz im Comic als „maßgeblich an Sprache gebunden und damit an den Textanteil des Comics“ vorgeführt (2008: 404), andererseits Erzählstrukturen im Comic weit über die schriftlichen Anteile hinaus beschrieben. Ein so vorgestellter Erzähler im Comic bleibt also von Fall zu Fall als ‚Illusion‘ (passim) kontingent, was den hier vorliegenden Fall gut trifft. (Elisabeth Klar hat dies in ihrem Beitrag zum Roundtable ausgeführt, dem ich dankbar verpflichtet bin.)

Es wäre meines Erachtens jedoch ein Mißverständnis, wenn man deshalb den Erzähler und seine Funktionen als Fremdkörper in Comics betrachtete, der sich nur auf Textkästen und vielleicht noch Sprechblasen beschränkt. Das ästhetische Dispositiv, das Funktionen des gewohnten Erzählers auch im Comic aufruft, betrifft ebensosehr die Konstellation zwischen der Schrift und dem Bild, und wurzelt in einer Differenz zwischen Sagen und Zeigen, die sich innerhalb der Schrift ebenso wie innerhalb des Bilds auftut. Von diesem Dispositiv und den allen Lesern zugänglichen Konventionen der sprachlichen Erzählung sind die Kunstgriffe in Amazing Spider-Man 698 und vielen anderen Comics abhängig. Es ist deswegen gerechtfertigt, differenziert und vorsichtig die Begriffe der Narratologie auf Comics anzuwenden, um damit nachzuzeichnen, wie die Verfahren des Erzählens vorsichtig und modifiziert im Comic eingesetzt werden.

Eine solche Perspektive setzt allerdings voraus, von jeder Reifikation des Comics als außerzeitlich verfaßter Kunstform abzusehen (wie auch von der entsprechenden Naturalisierung des modernen Erzählens). Es gibt dann keine rein systematisch beschreibbare Sammlung an ‚eigentlichen‘ Comic-Verfahren, zu denen jene des traditionellen Erzählens nun ‚außerdem noch‘ hinzukämen. Vielmehr existiert die Einheit der Kunstform ebenso wie die sie überschreitenden transmedialen Gemeinsamkeiten mit anderen Gattungen nur in der jeweiligen historisch kontingenten Konstruktion durch vielseitige, stets alles andere als einheitlich verfaßte Kunstwerke.

Dan Slott und den Autoren dieser Ausgabe ist ein solches Kunstwerk gelungen, dessen Mehrwert sich nicht in der gelungenen und genossenen Täuschung der Leser erschöpft. Die damit etablierte Ebene zwischen idealer Vermittlungsinstanz und Figuren greift auf eine längst vorher, aber noch nicht allzu lange etablierte Konvention in Comics zurück. Wie zentral dieser Einsatz narrativer Strukturen für die Serie wird, erweist sich auch in der Fortsetzung, deren Inhalt ohne diese Form kaum so zu denken wäre.

Denn in den folgenden Ausgaben von Amazing Spider-Man und Superior Spider-Man und nach dem Tod von Octavius’ Körper leben Otto und Peter nun gleichermaßen in Peters Körper. Dessen Handeln und Kommunikation mit anderen Figuren wird vollständig von Otto bestimmt; dieser aber ist den Erinnerungen Peters ausgesetzt, deren moralischen Lehren er sich deshalb nicht verschließen kann. So versucht er der ‚great responsibility‘ Spider-Mans nachzukommen, ohne dabei seine persönliche Arroganz, Misanthrophie und Selbstüberschätzung jemals aufzugeben.

Abb. 3 Otto und Peter als personalisierte Erzählerstimmen… (SSM 3)

Abb. 3 Otto und Peter als personalisierte Erzählerstimmen… (SSM 3)

Abb. 4 …abseits der Kommunikation zwischen den Figuren der erzählten Welt. (SSM 2)

Abb. 4 …abseits der Kommunikation zwischen den Figuren der erzählten Welt. (SSM 2)

Daß diese im Detail hochkomplexe und keineswegs selbstverständliche Version einer kartesisch-dualistischen Welt der teilweisen Seelenwanderungen und überblendeten Evaluationen ohne weiteres zugänglich und plausibel wird, ist genau deshalb möglich, weil sie niemals innerhalb der erzählten Welt weiter spezifiziert wird. Es gibt keine Ausführungen über die Metaphysik und Neurologie des Vorgangs. Stattdessen begegnen die beiden Figuren einander auf der Ebene der Erzählerstimme, als zwei widerstreitende Kommentatoren und Arrangeure des Erzählten (siehe z. B. Abb. 3 und 4). Otto und Peter ringen als zwei Fokalisatoren eines Körpers um die Deutungshoheit einer autobiographischen Erzählerfigur. Der dem Erzähldispositiv entnommene Zwischenraum der Erzählstimme wird wie Peters Körper von beiden Figuren und ihren Stimmen gemeinsam bewohnt, in ihm ist die weltanschaulich prekäre, ästhetisch jedoch weiterhin konventionalisierte Zweiteilung der Welt in Seele und Körper konserviert. Gemäß dieser medialen  Konvention akzeptiert der Leser in diesem Zwischenraum die ständige, sprachlich explizite Innenschau und Perspektivierung als einen medial verfaßten Dualismus von Sagen und Zeigen, als personalisierte Besprechung der gezeigten Handlung. Die Konstruktion dieser Evidenz wäre weder möglich, wenn es die Übernahme aus der traditionellen schriftsprachlichen Erzählung nicht gäbe; noch, wenn sie ohne Bruch vonstatten ginge.

Stephan Packard

Quellen

Slott, Dan et al. (2012): Amazing Spider-Man 698 und 699, New York.

Slott, Dan et al. (2013): Superior Spider-Man 1 ff., New York.

Backe, Hans-Joachim (2008): Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel. Eine typologische Einführung, Würzburg.

Booth, Wayne (1961): The Rhetoric of Fiction, Chicago.

Chatman, Seymour (1990): Comig to Terms. Narrative Structure in Fiction and Film, Ithaca.

Genette, Gerard (1972): „Discours du récit“. In: Figures III, Paris, S. 65-267.

Mahler, Andreas (2001): „Erzählt der Film?“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 111.3, S. 260-269.

Müller, Günther (1948): „Erzählzeit und erzählte Zeit“. In: Festschrift f. Paul Kluckhohn und Hermann Schneider, Tübingen, S. 195-212.

Packard, Stephan (2013 i.E.): „Coleridge, Heartfield, Higgins. Finding Transmediality Amongst Intermedia“, in: Alfonso de Toro (Hrsg.): Inter-/Transmediality and Transculturality in Literature, Photography, Film, Hildeheim.

Pfister, Manfred (1982): Das Drama, 6. Aufl. München.

Phelan, James (2005): Living to Tell about It, Ithaca.

Rancière, Jacques (2003): „La phrase, l’image, l’histoire“, in: Le destin des images, Paris, S. 41-78.

Schüwer, Martin (2008): Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur, Trier.

Thon, Jan-Noël (2013 i. E.): „Who’s telling the Tale? Authors and Narrators in Graphic Narrative“, in: Ders. und Daniel Stein (Hgg.): From Comic Strips to Graphic Novels: Contributions tot he Theory and History of Graphic Narrative, Berlin.

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