Zu jedem Jahreswechsel findet man ihn überall, den geheimnisvollen Zauber der Liste. Auch die Gesellschaft für Comicforschung möchte sich beteiligen und hat ihre Mitglieder nach subjektiven Leseempfehlungen befragt, die aus den vergangenen zwölf Monaten im Gedächtnis geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer. Hier also einige Notizen zum vergangenen Comicjahr 2014:
Ole Frahm:
Medienwissenschaftler, Arbeitsstelle für Graphische Literatur Hamburg
Charles Burns: Sugar Skull
Es ist immer traurig, den dritten Band einer Trilogie zu lesen, der doch auch gerne der erst dritte Band einer unendlichen Serie werden könnte. Und dann lösen sich die verschiedenen Auslassungen, ausgemerzten Erinnerungen, mit denen der erste Band X’ed Out seine Leser verwirrte, bei einer ersten Lektüre vielleicht zu leicht auf, was immer einen Grund für eine Enttäuschung bietet. Doch Charles Burns gelingt es mit dieser scheinbaren Einfachheit überhaupt erst sein Argument über die Comics, insbesondere Tim und Struppi zu entfalten. Das alte Thema der Abwesenheit von Sexualität in Hergés Serie gewinnt hier in dieser graphischen Psychoanalyse eine neue, keineswegs einfach zu deutende Perspektive – nicht zuletzt in der Konstellation mit Romance Comics, dem New Wave-Aufbruch der frühen 1980er Jahre, Jugendkultur und der aktuellen Frage der Aneignung der Zeichen.
Jacques Tardi: Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB
Ein merkwürdiger Comic. Der Zeichner als Jugendlicher geht in einem dauernden Verfremdungseffekt mit seinem Vater durch dessen Soldatenleben im 2. Weltkrieg, besonders dessen Gefangenschaft im Stalag. Die Penetranz, mit der Tardi als Junge unbeantwortete Fragen stellt – sein Vater ist schon lange tot, der Zeichner vermerkt im Vorwort, dass er eben versäumte, diese Fragen zu stellen, erzeugt eine ganz eigenartige, dichte Atmosphäre, in der die Geschichte als Konstruktion tatsächlich von der Jetztzeit erfüllt ist, wie sie nur im Comic zu haben ist: gespalten, aber auf einer Seite, in einem Buch. Und es macht deutlich, wie säumig die bundesdeutschen Comiczeichner sind.
Michel Kichka: Zweite Generation
Ein wirklich kluger und anrührender Versuch vom Leben der Generation zu erzählen, deren Eltern den Holocaust überlebt haben. Vor allem Kichkas am funny geschulter Zeichenstil vermag es, der Überlieferung des Holocaust in unseren Tagen einen bisher so nicht gekannten Aspekt abzugewinnen.
Thomas Hausmanninger:
Christliche Sozialethik, Universität Augsburg
Frank Giroud, Ruben Pellejero: Secrets, L’écorché – L’intégrale
Frank Giroud ist ein Ausnahmeautor unter den francobelgischen Szenaristen. Seine neue Reihe Secrets versammelt einzelne, voneinander unabhängige Erzählungen über ein bis sechs Alben, mit verschiedenen Déssinateurs umgesetzt. Stets geht es um Familiengeheimnisse, die den Protagonisten zunächst nicht bekannt sind, jedoch auf deren Leben subkutan massiven Einfluss nehmen – ganz nach der Freud’schen Maxime, dass das Verdrängte unerkannt die Lebensvollzüge der Individuen manipuliert.
Der Band L’écorché erzählt die Geschichte eines genialen Malers, der im Verlauf der Erzählung seine biographischen Wurzeln entdecken und aufklären muss. Ruben Pellejero hat die im 19. Jahrhundert angesiedelte Geschichte in zauberhafte Bilder gekleidet und bezieht gekonnt und subtil die Kunstgeschichte in seine Panels mit ein. Eine Erzählung mit existenziellem Tiefgang, die einen nicht unberührt entlässt. Wäre das Label Graphic Novel buchtechnisch nicht anders belegt, so dass großformatige Alben nicht darunter laufen, so hätte diese Erzählung ohne Zweifel Anrecht auf diese Etikettierung: Anspruch, Tiefgang und künstlerische Qualität.
Scott Snyder, Greg Capullo: Batman Vol. 3: Death of the Family (The New 52)
Scott Snyder gelingt eine hervorragende Anknüpfung an die Joker-Figur nach The Killing Joke und Batman: The Dark Knight in Christopher Nolans Filmversion. In einer Zeit, in der die jüngere Generation den klassischen amerikanischen Comic-Figuren primär über deren Verfilmung begegnen und zu – längst – multimedialen Charakteren geworden sind, bietet seine Konfrontation zwischen Batman und dem Joker in Death of the Family eine harte, konfrontative und beeindruckende Weiterführung der im Film und den Comics seit den 1980er Jahren angelegten Themen um diese beiden Figuren. Greg Capullo fasst die Erzählung in detaillierte, finstere Bilder, die auch mit der amerikanisch üblich gewordenen Computercolorierung Atmosphäre entfalten. Ein Comic, der zugleich großes Kino ist. Und auch ihn vergisst man nicht einfach wieder.
Midam: Kid Paddle 14: Serial Player
Leider in Deutsch nicht weitergeführt, ist die Serie von Midam und seinen Mitarbeitern in Frankreich ein Erfolg. Das liegt zweifellos an den differenziert und mit Charme entwickelten Figuren: Kid und seine Freunde, allesamt Kinder von um die 10 bis 12 Jahre, von denen die Jungs und ein Mädchen begeisterte Videogamer sind, stellen ein ganzes Spektrum von Charakteren vor, ergänzt durch Kids Schwester, die die Vorlieben ihres Bruders nicht teilen kann, und Kids Vater, der als alleinerziehender Elternteil seine rechte Mühe mit seinen zwei Kindern hat. Die meist als Ein- oder Zweiseiter gestalteten Geschichten ranken sich entsprechend um die Games, ergänzt durch die altertypischen Vorlieben der Jungs für Ekliges, Horrorfilme (die sie noch nicht sehen dürfen) und Monster. Dabei entsteht durchaus subtiler Witz – etwa in den wiederkehrenden Geschichten, in denen Kids Fantasien zum Wunschbild eines Vaters als Geheimagent, Contractkiller, genialer Erfinder etc. vorgeführt werden und die stets in die ganz andere Realität zurück münden. Oder in den Geschichten, in denen Kid mit einem seiner Freunde immer wieder vergeblich versucht, eine Kinokarte für einen Horrorfilm zu erstehen – und jedes Mal entweder an der Mitwirkung seines Freundes scheitert, oder wider Willen aufgrund eines Missverständnisses in einem ganz anderen Film landet. Nach 14 Alben noch immer nicht langweilig.
Stephan Packard:
Erster Vorsitzender der Gesellschaft für Comicforschung, Medienkulturwissenschaftler, Universität Freiburg
Drei Empfehlungen aus dem Superheldengenre:
Matt Fraction, Chip Zdarsky: Sex Criminals
Die von Matt Fraction und Chip Zdarsky gemeinsam in jedem Sinne verbrochene Serie begann zwar schon im September 2013, aber die erste Trade Paperback Sammlung und der größte Teil des ersten Handlungsbogens kamen in diesem Jahr nach, und es ist wohl nichts besseres in den letzten zwölf Monaten erschienen. Suzie und Jon teilen eine übermenschliche Begabung: Ihre Orgasmen halten die Zeit an, was nicht nur Gelegenheit zu Banküberfällen gibt. Fraction und Zdarsky gelingt es, auf dieser ostentativ absurden Basis eine ebenso zutiefst komische wie differenziert ernsthafte, charakterstarke Erzählung aufzubauen, die sich jederzeit der faszinierenden Schwierigkeiten ihrer Ausstellung von Sexualität und Sinnsuche bewusst ist. Scham, Albernheit und Verletzlichkeit treten ebenso selbstbewusst und dabei vielfältig gebrochen auf die Szene ihrer Bühne wie Lust, Freude und Liebe – ‚ob-szön‘, also: gegen die Szene, gerät nichts davon, weil keine Obszönität gescheut wird. So spricht der Comic mit einer Offenheit über Sex und über Sinn, mit der ein im besten Sinne aufklärerischer Höhepunkt in populären Comics erreicht ist.
Al Ewing, Lee Garbett, Lenny Frison: Loki – Agent of Asgard
Al Ewing schreibt diese Serie, die mit verschiedenem, aber reichen Strich mal Lee Garbett, mal Jenny Frison zeichnet. Die Flut asgardischer Erzählungen zumal um Loki speisen mindestens zwei Quellen: Tom Hiddlestons beliebte Darstellung im Marvel Cinematic Universe, die freilich mit den Erzählungen in Marvels Comics nicht identisch ist – und Kieron Gillens phantastische Erzählung (in Loki 2010, Journey into Mystery 2011-2012 und Young Avengers 2013) um den von Loki als Finte kreierten unschuldigen jungen Loki, der sich bemüht, sich aus der oft erzählten Geschichte von dem boshaften Lügengott zu befreien, indem er andere Geschichten erzählt. Er scheitert; was bleibt, ist sein Schatten und schlechtes Gewissen in dem nun zum jungen Mann gereiften, schuldigen Loki, der sich aus seiner eigenen Erzählung befreien müsste, wenn er denn könnte. Hier setzt Ewing ein und meistert gerade die Herausforderung, der sich sein Held und Meistererzähler stellt: Seine Innovativität muss nicht auf einer leeren Seite, sondern auf einem von unzähligen Vorgeschichten vielfach überschriebenen Palimpsest noch einmal neues fertigbringen. Dazu muss er seine Leserinnen und Leser irreführen und ihnen dabei gefallen. Der Comic erzählt mit immer wieder neuen Täuschungen, Illusionen und Intrigen von den Widerständen, den Möglichkeiten und den vielen Bosheiten, die das Erfinden von Erzählungen bietet.
Tom Taylor, Yildiray Çinar: Superior Iron Man
Neben den öffentlich breiter besprochenen weiblichen Thor und schwarzen Captain America ist im Marvel Universums 2014 auch Iron Man ausgetauscht worden, aber in diffizilerer Weise: Mit Anklängen an Dan Slotts Superior Spider-Man -Erzählung, in der Peter Parkers Körper durch seinen Widersacher Doctor Octopus in Besitz genommen wurde, steht hier die Person selbst in Frage. Aber diesmal ist die Veränderung innerlicher und zugleich körperlicher: Tony Starks Bewusstsein wurde nicht von einem Widersacher verdrängt, sondern korrumpiert. Seine eigenen, längst bekannten Schwächen von Hybris bis zum Alkoholismus bestimmen sein Verhalten neu. Tom Taylor schreibt, Yildiray Çinar zeichnet und tuscht. Mit Guru eFX’ reichen Farben entstehen Bilder, auf denen jeder Körper und Cartoon suspekt ist: Das alte kybernetische Iron-Man-Motiv vom Mann im Ganzkörperanzug lebt auf. Der Plot kreist um biotechnische Körpermodifikationen; was Anzug, was mutiertes Gewebe, was Hologramm und was Maske ist, ändert sich von Seite zu Seite. Das betrifft den Protagonisten wie seine Opfer – seine Konsumenten, die mit einer teuren App gesünder, schöner und besser werden; und seine Gegenspieler, deren Körper sich freiwillig und unfreiwillig ständig verformen. Der Comic verwendet so die Ästhetik der körperbildorientierten Kunstform, um die posthumanistischen Utopien gestaltbarer Körper in ihren gesellschaftlichen und ökonomischen Abhängigkeiten und Implikationen zu verhandeln.
Lukas R.A. Wilde:
Medienwissenschaftler, Universität Tübingen
Sebastian Lörscher: Making Friends in Bangalore
Sebastian Lörscher widmet sich einmal mehr dem vielbewanderten Terrain des autobiographischen Reisetagebuchs in Comicform. Obgleich sich dieses Sub-Genre und seine Problematik der ‚gezeichneten Authentizität‘ in den letzten Jahren fast zum Paradefall der Graphic Novel-Theorie entwickelt hat, treibt Lörscher dies auf eigentümliche Weise genial auf die Spitze: der Beobachterblick changiert zwischen (angeblich) vor Ort angefertigten, skizzenhaften Portraits, Stilleben und Landschaften einerseits, die das Hier! & Jetzt! von Reiseerfahrungen indischer Straßenszenen und -ereignisse filtern, zu skizzenhaften Cartoons, Sketchen und Strips, die Entstehungskontexte, -Reaktionen und Gegenbeobachtungen der Notizen spiegeln. Zwischen dieser doppelten medialen Konstruiertheit, die sich bis zur Materialität des Bandes selbst erstreckt (der sich als ‚das‘ Reisetagebuch selbst inszeniert) steckt – wie sollte es anders sein – die Spur authentischster Erfahrung in all ihrer Unerreichbarkeit. Eine dritte Beobachterebene aus reflektierenden Anhangstexten ist da nur noch die Kür zum Spektakels. Dass die gezeigten Episoden zwischen Straßenmärkten, Hochzeitsfeiern und illegalen Partys ebenso mühelos von alltäglichen, grandios beiläufigen Szenarios zu überraschendsten Pointen wechseln, ist ebenso konsequent wie meisterlich. Darüber wird viel nachzudenken sein.
Jonathan Hickman, Nick Dragotta: East of West
Schon 2013 bei Image gestartet, hat East of West in diesem Jahr hier endlich all meine Widerwehr überwunden. Ein ‚Western/ SciFi/ Phantasy/ Dystopie/ Gründermythos-Mashup‘ mit den 4 Reitern der Apokalypse und 7 amerikanischen Königreichen? Ohne dass ich auch nur den leisesten Verdacht von lupenreinem ‚guilty pleasure‘ aufkommen lassen wollte, muss jede Etikettierung dieses Pakets unheimlich albern klingen… Hickman gibt sich gleichzeitig noch viel anarchischer, scheint noch viel weniger von dramaturgischer und kompositorischer Sorgfalt zu halten als bereits im wahnwitzigen Manhattan Projects – dennoch wirkt das Spiel mit Archetypen und Pathosformeln hier noch viel kontrollierter; vielleicht, weil jede Re-Lektüre tatsächlich zahllose übersehene Verbindungen anbietet und (scheinbare?) Beliebigkeiten reduziert, wie sie in jeder neuen Ausgabe (scheinbar?) hinzugefügt werden. Kurzum: ich fühle mich seltsam an das späte 90er/frühe 2000er-Œuvre von Grant Morrison erinnert, als so ein Affentanz noch ausschließlich in Comics denkbar war. Das funktioniert auch hier oft durch zeichnerische Rückendeckung, wie damals durch Frank Quitely: Die aberwitzigen Settings, Character Designs und Architekturen von Nick Dragotta machen ebenfalls mit jedem eingelösten Versprechen zehn neue auf und verbürgen selbstbewusst: ja, das darf man alles…!
Randall Munroe: XKCD
Keine sonderlich originelle oder zeitaktuelle Wahl, zweifellos.. Obwohl 2014 jede Menge spannende neue Webcomic-Projekte mit sich brachte (To be Continued, Dice with the Universe, Ducks oder die Pengboom Society-Startups, um nur einige zu nennen) und Hochgeschätztes interessant weitergeführt wurde (aus der Hüfte: Fahrradmod, Hobo Lobo of Hamelin, JL8, Oyster War, Failing Sky, The Abominable Charles Christoper, Nimona oder Tale of Fiction), war es mehr als in jedem anderen Jahr wieder Randall Munroe, der an den Grenzen dessen rüttelte, was unter die Definition eines ‚Comic‘ fallen kann… wie man damit kommuniziert, und wo die Reise mit den technisch-medialen Rahmenbedingungen als nächstes hingeht. Im bald zehnten XKCD-Jahr gab es viele Experimente, die man gut und gerne atemberaubend nennen darf: Die Gif-Ereignisfrequenzen in Frequency, die Live-Weltzeituhr in Now, die interaktiv-dynamischen Story-Permutationen in Lorenz, der infinite Zoom in Pixels und natürlich die 5minütliche Live-‚Kommentierung‘ der Philea-Landung in Landing. Selbst jenseits aller Form- und Medienreflexionen gab es, gar nicht mal selten, genuine Momente der Weisheit wie Free Speech oder Photos – okay, das war auch Medienreflexion, aber hey…!