Tagungsbericht zum 3. Workshop der AG Comicforschung

Termin:
02.03.2017 - 03.03.2017

Anfang März 2017 fand in Köln der dritte Workshop der AG Comicforschung zum Thema „Formen der Selbstreflexivität im Medium Comic“ statt. ComFor-Redaktionsmitglied Julia Ingold hat dazu einen ausführlichen Bericht für unsere LeserInnen verfasst.

(Nachtrag: am 14. April 2017 veröffentlichte Comicforum.org einen zusätzlichen englischen Tagungsbericht von Laura Schlichting und Markus Streb)

Tagungsbericht:

„Um Formen der Selbstreflexivität im Medium Comic drehte sich der dritte Workshop der AG Comicforschung der Gesellschaft für Medienwissenschaften (GfM). Nina Heindl und Véronique Sina luden dazu Anfang März 2017 an die Universität zu Köln ein. Die zahlreichen Beiträge und die lebendigen Diskussionen bewiesen, dass ein Austausch zu dem Thema ein lange ausstehendes Desiderat der Comicforschung darstellte. Neben theoretischen Überlegungen und Einzelanalysen fanden auch Überblicksdarstellungen und Materialsammlungen Eingang in das Programm. Nach jeweils drei bis vier fünfzehnminütigen Impulsvorträgen blieb stets eine Stunde Zeit zum Diskutieren. Medienwissenschaftliche Grundsatzfragen und anschauliche Beispiele der Vortragenden zogen deshalb nach jedem Panel einen anregend kontroversen Austausch der Argumente nach sich.

Themenschwerpunkt 1: Ästhetische Selbstreflexivität eröffnete Astrid Acker aus Köln mit dem Vortrag The Frame is Not The Limit – panels, frames und Selbstbezüglichkeit im Comic. Sie verglich selbstreflexive Elemente in Windsor McCays Comics, wenn etwa eine Figur die Grenzen des Panel überschreite oder mit dem gutter interagiere, mit dem breaking of the 4th wall im Theater, wo die Figuren die Grenze zum Publikumsraum überwänden. Wenn die frames zu Gegenständen der erzählten Welt würden und die Figuren mit ihnen interagierten, würden Narration und Komposition eins, so Acker. Wenn ein continuous background oder – nach Scott McCloud – ein polyptych vorliege, dann wäre das gutter keine Leerstelle mehr. Generell ging es Acker darum, dass medienreflexive Mittel die Künstlichkeit einer Erzählung hervorhöben. Beim Lesen entstünden Irritationen, die durch eine Abweichung vom üblichen illusionistischen Erzählen hervorgerufen würden.

Im Anschluss stellte Bernhard Frena aus Wien unter dem Titel Von Reflexivität zu Diffraktivität – Das Panel als Ort medialer Verschränkungen die theoretische Metapher der Reflexivität, also der Spiegelung, grundsätzlich in Frage. Sein ‚Gegenvorschlag’ war es, das Prinzip der Diffraktivität als angemessene Beschreibung dessen, was medial häufig in Comics geschehe, zu verwenden. Er berief sich auf Karen Barad, die in Meeting the Universe Halfway (1997) im Bewusstsein, dass Sie Metaphern verhandelt, den Begriff der Diffraktion prägte. Frena begriff nun das Panel metaphorisch nicht als Spiegelung aller weiteren und vorherigen Panels, wie das in der Comicforschung Konsens zu sein scheint, wenn die Panels und Figuren als sich wiederholende und wiederholbare Zeichen beschrieben werden. Dagegen bezeichnete Frena das Panel als (Aus-)Schnitt der Comicseite. Diesem Umstand könnte der Begriff der Diffraktion, der sich mit ‚Zerstückeln’ übersetzen ließe, beikommen. Aus dieser Zerstückelung heraus konstruierten die Leser_innen den Comic in der Rezeptionssituation kontinuierlich aufs Neue, so Frena. Diffraktive Betrachtung eines Comics würde somit nicht zeigen, wie sich das Medium selbst spiegele, sondern wie es entstehe.

Um ein bislang von der Comicforschung recht marginal behandeltes Thema drehte sich der Vortrag von Sebastian Bartosch aus Hamburg: Die Farbe der Reflexivität im Comic. Er stellte die Frage nach der Referenzqualität von Farbe und danach, wie Farbe dazu beitragen könne, die Form des Comics zu reflektieren. Er analysierte zwei Comics im ‚Retro-Stil’, die mit modernen Techniken des digitalen Drucks die optischen Effekte alter Druckverfahren imitierten: Cole Clossers Little Tommy Lost (2013) und Paul Hornschemeiers The Three Paradoxes (2005). Beide Werke verwiesen auf ein früheres Stadium in der Geschichte des Mediums und inszenierten so die Farbigkeit als bedeutungstragendes Zeichen in der eigenen Erzählung und in älteren Strips.

Im Rahmen seiner Überlegungen zu 37-mal die Welt gerettet: Wiederholung und Variation als Selbstreferenz und Reflex in Tom Kings Superheldencomics präsentierte Stephan Packard aus Freiburg einen ersten Entwurf zu einer Typologie selbstreflexiver Formen im Comic. Er unterschied grundsätzlich zwischen universeller und spezifischer Selbstreflexivität: universell-grammatisch wären die charakteristischen visuellen Wiederholungsstrukturen des Mediums, wie sie Ole Frahm beschreibe, die allen Comics zu eigen seien; universell-poetisch wären Elemente, die im Sinne Roman Jacobsons selbstreferenziell eine poetische Funktion erfüllten. Spezifische Selbstreflexivität beziehe sich auf konkrete Elemente in der Entwicklungsgeschichte des Mediums, Genres, der Figur etc. Sie seien nicht universell verständlich, sondern nur mit Hilfe von Vorwissen identifizierbar. Packard stellte Beispiele aus der seit 2016 laufenden Batman-Reihe von King vor, welche diese spezifische Art der Selbstreflexivität aufwiesen, wenn etwa immer wieder auf den Bruch von Batmans Rückgrat in einer früheren Serie angespielt werde.

In der Diskussion einigte sich das Plenum zunächst darauf, dass mediale Konventionen in einem essentialistischen Sinne nicht existierten, sondern immer im Moment des Lesens entstünden. Es wurde vorgeschlagen, einen Unterschied zwischen der ‚universellen Diffraktivität‘ von Comics, weil Panels die Seite ‚zerstückeln’, und der spezifischen Diffraktion, welche die Bedingungen und Charakteristika des Mediums bewusst offenbarten, zu machen, so wie Packard das für den Begriff der Selbstreflexivität eingeführt habe. Allgemeine Zustimmung fand der Gedanke, dass sich die Forscher_innen im Fall einer konkreten Comicanalyse überlegen sollten, mit welchem der Begriffe – Reflexion oder Diffraktion – ihr Gegenstand treffend beschrieben werde. Ein Teilnehmer wies darauf hin, dass die Forscherin oder die Leserin zum eigentlichen Untersuchungsobjekt werde und das Zeichen verdränge, wenn Wahrnehmungsprozesse und die Wirkung der Comicseiten in den Fokus gerieten.

Ein Beitrag über Selbstreflexivität und Fankultur von Vanessa Ossa aus Tübingen bildete den Auftakt zu Themenschwerpunkt 2: Selbstkritische (Fan-)Diskurse. Sie zeigte wie die großen Comic-Verlage Marvel und DC mit der Einführung des ‚Amalgam-Universums‘ (1996) auf Fankulturen, Kommentare und Leserbriefe reagierten. Diese Events enthielten drei Verweisstrukturen: (1) Erinnerungen und Rückblenden, (2) Fußnoten und (3) Leserbriefe, welche den Leser_innen vergangene, aber nie existente, Vorgeschichten aus dem Amalgam-Universum ins Gedächtnis riefen.

Daraufhin nahm Diego Alegría aus Bochum Selbstdarstellungen im peruanischen Fanzine-Manga: Genrediskurse unter postkolonialen Bedingungen in den Blick: Comicgeschichte sei in Lateinamerika schwierig zu erfassen, weil es keine wirkliche Kontinuität gebe. In den 1990er Jahren verbreiteten sich Animes und Mangas in Peru als Teil der Jugendkultur. Die peruanischen Künstler_innen setzten sich bis heute mit US-amerikanischer und japanischer Comic-Kultur auseinander. Das geschehe immer in der Sorge, die eigene, indigene Position könne von fremden Einflüssen kolonisiert werden. Genuin peruanische Comicproduktion finde hauptsächlich in Fanzines statt. Darin habe sich ein eigener Stil entwickelt, der weder Manga noch US-amerikanischem Comic eindeutig zuzuordnen sei. Die Fusion erlaube eine Emanzipation von kolonialistischen Einflüssen, schaffe einen Freiraum.

Ähnlich verhalte es sich, legte Emelyn Yábar aus Bochum in ihrer Präsentation über Cosplay and the media loop: media and body as mutual supplements dar, mit Cosplay in Südamerika. So vereinnahmten die Fans dort die Charaktere aus Manga, Anime und Comic für sich und verkörperten die Figur, die ihrer eigenen Persönlichkeit am meisten zu entsprechen scheine. Die Fans blieben dabei sogar in ihren Körperhaltungen, in Mimik und Gestik den narrativen Vorbildern treu, so Yábar.

Das Panel rundeten Lisa Kottas und Martin Schwarzenbacher aus Wien mit dem Thema ‚Mumbo-Jumbo will hoo-doo you’. Zur ‚Voodoo’-Ästhetik und immanenten (Selbst-/Macht-) Kritik der Repräsentation in der Graphic Novel ‚The Hole: Consumer Culture’ ab. Der Comic The Hole: Consumer Culture von Damian Duffy und John Jennings (2008) sei dem Afrofuturismus zuzuordnen und habe vier Bezugspunkte: Erstens inszenierten ihn die Autoren durch bestimmte graphische Zeichen als magisch-potentes Voodoo-Objekt. Zweitens sei er eine satirische Kapitalismuskritik, weil in der Story ein Konzern gegründet werde, um die Verfälschung des Voodoo in den Medien aufzuhalten und die Konsumgesellschaft abzuschaffen, bis den Figuren klar werde, dass sie selbst Teil einer Konsumprodukts sind. Drittens sei er Zeugnis einer Black Atlantic Experience. (Der Begriff umfasst alle Erfahrungen von in die Sklaverei über den Atlantik verschleppten Afrikaner_innen bis zu ihren heutigen Nachfahren mit ihrer eigenen Geschichte und Kultur, hier beispielsweise Voodoo und dessen Rezeption in den Medien der Diaspora.) Viertens sei der Comic schlicht eine Ware.

Die Diskussion drehte sich unter anderem um die Frage, was die vier Impulsvorträge thematisch verband. Dabei verständigte sich das Plenum darauf, dass hier das Wort ‚Kritik’ im Sinne des anglo-amerikanischen criticism verstanden werden müsste und es in allen Vorträgen eher um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Fankultur ging als um deren selbstkritische Äußerungen. Ein Teilnehmer wies noch darauf hin, dass Fandom sich unter anderem durch eine intensive analytische Beschäftigung mit dem verehrten Gegenstand auszeichne. Dies bilde eine dritte Position zwischen akademischer und populärer Rezeption von Comics.

Zum Abschluss des ersten Workshop-Tags hörten die Besucher_innen den Abendvortrag Elemente der Selbstreflexion von Ole Frahm aus Frankfurt. Vor allem The Heap (erstmals in Air Fighters Comics #3, 1942), der als eine Art von organischem Pflanzenwesen graphisch aus kleinen Strichen bestehe und sich deshalb beständig aufzulösen scheine, stellte Frahm als Reflexionsfigur für Figuren im Comic an sich dar. Frahm setzte sich im weiteren Verlauf kritisch und produktiv mit den Gedanken aus Packards Anfang 2017 erschienenen Aufsatz Sagen und Sehen jenseits von Schrift und Bild (in: Harbeck et al.: Comics an der Grenze) auseinander. Er verteidigte demgegenüber seine These von der grundsätzlich parodistischen Ästhetik des Comics. Comics markierten einen epistemologischen Einschnitt in westlichen Kulturen, so Frahm, weil sie die Sichtbarkeit der Materialität institutionalisierten, indem sie jedes ihrer narrativen Elemente als gemachtes Bildchen in einem Rahmen ausstellten. So nutzten zum Beispiel die Situationisten um Guy Debord im Paris der 1960er Jahre Comics als wahrhaft antibürgerliches und populäres Material der Kulturindustrie. Sie verfremdeten und collagierten Panels, um auf die Allgegenwart eines zerstreuten Spektakels hinzuweisen, diesem eine Kunst im Bewusstsein des Klassenkampfs entgegen zu stellen und es damit zu stören.

Auf Nachfragen aus dem Plenum ergänzte Frahm, dass es keine Wissenschaft aus einer ‚gesellschaftlichen Null-Position‘ heraus geben könne. Es stelle sich die Frage, inwiefern die akademische Auseinandersetzung mit Comics eine gesellschaftspolitische Aufgabe sei. Deshalb solle der historische und soziale Herkunftskontext des Mediums samt seiner Konventionen und seines Figureninventars nicht aus dem Blick der Forschung geraten.

Der zweite Tag begann mit Themenschwerpunkt 3: Mechanismen der Selbstbezüglichkeit. Anna Beckmann aus Berlin untersuchte unter dem Titel ‚Glaub mir nicht, ich bin ein Comic’ – Selbstreflexivität im Comic als Markierung für narrative Unzuverlässigkeit den Zusammenhang zwischen Selbstreflexivität und unzuverlässigem Erzählen im Comic. Sie klassifizierte unterschiedliche Signale, die im Comic unzuverlässiges Erzählen markieren könnten. Erstens könne ein medialer selbstreflexiver Bezug Verunsicherung auslösen. Ein Beispiel wäre die berühmte zweite Seite aus Paul Karasiks und David Mazzucchellis City of Glass (2005), wo das ‚echte’ und das gedruckte Telefon in der gezeichneten Welt nicht voneinander zu unterscheiden seien. Zweitens könne eine explizite Kritik an Comics generell das Erzählte unglaubhaft erscheinen lassen. Das liege etwa vor, wenn Flix’ Don Quijote in den Strips für die FAZ (2012) einen Beschwerdebrief schreibe, in dem er Comics als „intellektuellen Schmutz“ bezeichne. Drittens könnten intradiegetische erzählende Figuren Reflexionen über die Verlässlichkeit ihrer Erinnerungen anstellen, wie dies Alison Bechdel in Fun Home (2006) tue.

In der Diskussion, die sich an das gesamte Panel anschloss, erklärte Beckmann, dass es ihr nicht nur um Comic-Erzählungen gehe, deren Zuverlässigkeit generell in Frage gestellt würde. Sie wolle mögliche Signale für Verunsicherung herausarbeiten, auch wenn die Widersprüche später aufgelöst würden. Geleitet würde sie dabei auch von der Frage: Was kann der Comic in diesem Bereich, was Literatur und Film nicht können?

Aus einer philosophischen Perspektive widmete sich Sebastian R. Richter aus Kassel Richard McGuires ‚Here’ als Reflexion medienimmanenter Zeitlichkeit. Er kam zunächst zurück auf Frenas Vortrag und definierte den Begriff der Reflektion aus der philosophischen Tradition seit Platon. Reflektion sei das Denken des Denkens und damit ein transzendierender Vorgang, wobei etwas über sich selbst hinaus gehe. Er stellte anhand der achronischen Erzählweise von McGuires Here (2014) die Frage, ob jeder Comic medienimmanent über Zeit reflektiere. Narration sei die Verbindung isolierter Ereignisse zu einer Einheit. Nach McCloud sei im Comic Raum gleich Zeit. Laut Philosoph John McTaggart sei Zeit immer subjektiv konstruiert. Demnach würde Zeit im Comic erst im Akt des Lesens entstehen.

Björn Hochschild aus Berlin widmete sich daraufhin Selbstreflexionen und Reflexionen des Selbst in Riad Sattoufs ‚Der ARABER von morgen’. Er untersuchte, wie Sattouf in seinem Comic (2014/2015) Wort-Bild-Beziehungen reflektiert. In unterschiedlichen Panels zeigte er kontrapunktische Beziehungen auf, das heißt Widersprüche zwischen Zeichnung und Erzähler-Kommentar. Dies reflektiere, so Hochschild, die Oberfläche des Comics. Sein Fazit war, dass der Comic deshalb den Leser_innen gerade nicht die Welt mit Riads Augen sehen lasse. Vielmehr mache er die Leser_innen darauf aufmerksam, dass sie die Welt immer von sich aus konstruierten.

Schließlich sprach Nina Schmidt aus Berlin über Self-reflexive uses of photography in graphic narratives relating dying and bereavement. Sie habe festgestellt, dass autobiographische Comics über den Verlust naher Menschen in der Regel mit Fotografien arbeiten. Diese Bilder brächten den Leser_innen das Geschehen lebendig und teilweise bis über die Grenze der eigenen Privatsphäre näher. Sie führt Anders Nilsens Don’t go where I can’t follow (2012) und Roz Chasts Can’t we talk about something more pleasent (2014) ein und stellt ans Plenum die Frage, welche Funktion Fotos in diesen Narrativen innehätten.

Es kamen darauf einige Vorschläge aus dem Plenum: Die Bilder müssten nicht unbedingt notwendig sein, aber die Autor_innen könnten das Bedürfnis haben, sie zu zeigen. Sie stünden im Gegensatz zum gezeichneten Rest. Die Kombination könnte auch die Frage der angemessenen Darstellung von Leid aufwerfen. Außerdem entstehe dadurch ein Gefälle der Distanz zwischen Zeichnung und Fotografie zu den Leser_innen. Die Fotos könnten den teilweise cartoonesken Zeichnungen Erhabenheit verleihen. Wenn die gezeichneten Figuren auf den Fotos wiedererkennbar seien, mache das den Comic authentisch.

Themenschwerpunkt 4: Faktische und fiktionale (Selbst-)Inszenierungen vertiefte die zuvor bereits diskutierte Rolle von Fotografien in Comics. Johannes C. P. Schmid aus Hamburg sprach zunächst über Selbstreflexivität dokumentarischer Comics. Strategie und Voraussetzung. Dabei ging es ihm um den grundlegenden Gegensatz zwischen Fotografie und Zeichnung. Fotografien sorgen für eine performative Authentizität dokumentarischer Comics, so Schmid. Beispielhaft analysierte er Sarah Gliddens Rolling Blackouts (2016), das er eine Comicdokumentation über Journalismus, nicht aber über Comicjournalismus nannte. Glidden hatte eine Gruppe von Journalist_innen in den Nahen Osten begleitet.

Grundsätzliche Überlegungen zu Selbstreflexivität durch den Gebrauch von Fotografien im Comics stellte Axel Rüth aus Köln an. Er ging davon aus, dass Sprache immer als ‚wahr’ interpretiert würde, wenn es keine Fiktionssignale gebe, während es sich bei Bildern genau umgekehrt verhielte und Bilder immer Authentizitätssignalen bedürften. Dieser Ausgangspunkt wurde später kontrovers diskutiert. Rüth ging denn auf zwei Comics ein, die mit Hilfe unterschiedlicher Strategien ihre wahrheitsgetreue Referenz auf die Wirklichkeit inszenierten: Jacques Tardis Putain de Guerre (2008/2009) und Emmanuel Guiberts, Frédéric Lemerciers und Didier Lefèvres Le Photographe (2003-2006). Beide beinhalteten reproduzierte oder abgezeichnete Fotografien, um ihre Glaubwürdigkeit zu beweisen, so Rüth. Sprache sei nötig, um Bilder zu verstehen, die sonst stumm blieben. Der Comic werde seinen Status als fiktionales Werk nicht los, wenn die Einbindung von Fotografien nicht einen Wahrheitsanspruch einlösen würde.

Wie Tardi arbeitet Kitty Kahane, der sich Sándor Trippó aus Debrecen widmete, mit abgezeichneten Fotos, allerdings in ihrem eigenen ‚gewöhnungsbedürftigen’ Zeichenstil. Kitty Kahanes selbstreflexive Erzählweisen erläuterte er anhand ihrer beiden Graphic Novels 17. Mai. Die Geschichte von Armin und Eva und Treibsand. Beide Geschichten handelten von fiktiven Lebensgeschichten vor dem Hintergrund realer historischer Ereignisse. Beide problematisierten das Erinnern mit Hilfe von selbstreflexiven Darstellungsweisen. Der Umgang mit dem historischen Fotomaterial sei dabei relativ frei, denn Kahane reduziere oder ergänze die Vorlagen zeichnerisch passend zur Dramaturgie ihrer Comics.

Die Panel-Diskussion konzentrierte sich hauptsächlich auf Rüths Thesen zum Verhältnis von Schrift und Bild. Sie entspräche nicht dem Mainstream in der Comicforschung, so eine Stimme aus dem Plenum. Es kristallisierte sich im Plenum eher die Meinung heraus, dass gezeichnete Bilder nicht in höherem Maße, sondern nur anders Realität ‚verfälschen’ als Fotos oder Texte. Der große Anteil an Metaphern in der Sprache zum Beispiel bedeute, dass auch Sprache viele nicht-überprüfbare Elemente enthalte. Diesen Punkt benenne etwa bereits Friedrich Nietzsche in Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (1873). Außerdem wären Bilder anhand realer Objekte überprüfbar, während Texte immer vage blieben. Alle vier Präsentationen betreffend, verwies ein Teilnehmer auf Egon Erwin Kisch, der bereits in den 1920er Jahren postulierte, Reportagen seien immer von einem subjektiven Individuum vermittelte Fakten. Das gelte denn für Comics oder Bilder im gleichen Maße wie für Texte. In diesem Sinne stellten Comicreportagen ihre ‚Gemachtheit’ aus. Es gebe dabei vier Kategorien von Fotos in Comics: unmarkiert (ohne Hinweis abgezeichnet), abgedruckt (collagenartig eingebunden als Fotografie), abgezeichnet (mit Hinweis) und fiktiv (gezeichnete Fotografien ohne reales Vorbild).

Das Abschlusspanel bildete Themenschwerpunkt 5: Metareflexionen. Zu Beginn präsentierte Tim Glaser aus Braunschweig unter dem Motto ‚Oh no – this comic is literally me’. Webcomics im Zeitalter ihrer memetischen Rezeption umfangreiches, teilweise in der Comicforschung unbekanntes Material zeitgenössischer Webcomic-Produktion. Er zeigte, wie Leser_innen oder User Strips oder Panels sich selbst aneigneten und weiterverbreiteten, indem sie sie zitierten, collagierten, neu beschrifteten etc., das heißt kreativ damit umgingen – worauf die Künstler_innen wiederum in ihren Daily Strips reagierten. Das werde online nicht im Sinne von Urheberrechtsverletzungen sanktioniert sondern begrüßt und spiegele somit den Erfolg eines Webcomics. Deshalb schlug Glaser als Fokus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser relativ jungen Form der Comic-Kunst die Rezeptionssituation vor.

Das präsentierte Material stieß auf reges Interesse und viele Fragen. Beispielsweise wurde bemerkt, dass diese Webcomics in der Regel lakonisch zu enden schienen und ob dies ein bestimmendes und eventuell das attraktive Strukturmerkmal der kurzen Strips sei. Das Plenum war sich einig, dass eine Besonderheit von Webcomics die daraus entstehenden Memes und die Interaktion von Rezipient_innen und Zeichner_innen sei. Die Frage wäre denn, wurde weiter diskutiert, ob hier ‚endlich’ der Autor wirklich tot sei. Eine Gefahr der freien Weiterverarbeitung, der fehlenden Macht des Autors, sahen einige darin, dass die beliebten Figuren einfach zu Propaganda-Zwecken missbraucht werden könnten, wie das etwa mit Pepe the Frog geschah. Glaser schlug vor, den Autor als ‚untot’ zu fassen.

Zurück zum Buch führte der Vortrag BILDER SEHEN ERZÄHLEN. Kunstbetrachtung im Comic von Katharina Serles aus Dresden. Sie befasste sich mit Comics, die bildende Kunst zum Thema haben und fasste diese unter dem provisorischen Begriff ‚Kunstcomics’. Das entscheidende Merkmal sei ein externer Bildbezug. Kunstcomics verwiesen darauf, dass Comicgeschichte eine Geschichte der Bild-Bild-Bezüge sei. Schon früheste Beispiele, wie eine Episode von Richard F. Outcaults Yellow Kid im Louvre (1897), zeugten davon. Sobald ein Comic auf ein Werk der bildenden Kunst verweise, so Serles, beziehe es auch den gesamten Diskurs, der sich um jenes entspinne, mit ein. Es gebe unterschiedliche Erscheinungsformen von klassischer Kunst in Comics, zum Beispiel verfälschte Wiedergabe, wie in Nicolas Mahlers Thomas Bernhard. Alte Meister (2011). In David Prudhommes La traversée du Louvre (2012) bekämen die Leser_innen die Mona Lisa nur auf einem Smartphone zu sehen und die Hängung an den Wänden geriete selbst zum riesigen, betretbaren Comic. So würden Comics umgekehrt zu Museen, argumentierte Serles, und müssten sich nicht mehr in der Konkurrenz zur high art behaupten.

Dietrich Grünewald aus Koblenz schloss das letzte Panel mit Ausführungen zu Comics im (Eigen-)Spiegel. U.a. aufgezeigt am Projekt ‚Das partizipative Geflecht’, wobei er einen reichen Schatz an selbstreflexiven Bildern aus der gesamten westlichen Geschichte der bildenden Kunst einbezog. Er bettete Gilbert Geisters und Matthias Schamps Das partizipative Geflecht (2012) in die lange Tradition graphischer Selbstbezüge ein. Geister und Schamp, so Grünewald, stellten den Comic als eigene Realität mit eigenen Gesetzen aus, in der die Willkür der Künstler herrsche. Hier würden die weißen Linien des gutter Handlungsträgerinnen, die zu den Zeichnern Kontakt aufnähmen. Damit erklärten die Künstler den weißen Zwischenraum zum eigentlichen Helden des Comics.

Was den Bezug von Comics zu ‚klassischer Kunst’ betrifft, wurde von einem Teilnehmer ergänzt, dass hier oft ein ikonoklastisches Verhältnis bestünde, besonders im frühen US-amerikanischen Comic. Die Diskussion drehte sich denn darum, dass jeder Versuch, ein Werk zu dekonstruieren, dessen kanonischen Status als ‚Über-Bild’ bestätige. So stellte jemand die Frage, ob Kunstcomics den Kanon festigten, anzweifelten oder neu definierten.

Mit dieser Diskussion endete der intensive zweitägige Workshop. Die wenigen Sätze, die in einem Tagungsbericht jedem Vortrag gewidmet sind, werden den spannenden Beiträgen freilich nicht gerecht. Wer ‚Blut geleckt’ hat und das Thema vertiefen möchte, kann sich auf die zweite Zwischenausgabe von CLOSURE – Kieler e-Journal für Comicforschung #4.5 im Mai 2018 freuen, wo einige der Präsentationen in Form von Aufsätzen versammelt sein werden.“

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