ComFor-Leseempfehlungen 2017

Die Redaktion der Gesellschaft für Comicforschung wünscht ihren Leser_innen  und Freund_innen nachträglich noch einmal einen guten Jahresstart. Auch zu diesem Jahreswechsel möchten wir uns an den Listen aus Leseempfehlungen beteiligen, die man zum Jahreswechsel allerorts finden kann (hier geht es zu Leseempfehlungen der Vorjahre 2014-2016). Unter der Redaktion von Lukas R.A. Wilde haben wir unsere Mitglieder um ganz und gar subjektive Lektüretipps gebeten, die aus den vergangenen zwölf Monaten im Gedächtnis geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer. Im Folgenden also einige Notizen zum Comicjahr 2017!

Juliane Blank

Literaturwissenschaftlerin (Germanistik), Universität des Saarlandes

D’Orsay-VariationenManuele Fior: D’Orsay-Variationen
Avant-Verlag

Auch wenn es sich um ein Auftragswerk des Musée d’Orsay handelt, erzählt der Comic nicht einfach die Geschichte des Museums. Stattdessen träumt sich Fior einen Streifzug durch die Kunstgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zusammen – und zwar ganz wörtlich. Die von den Besucher*innen und den Gemälden genervte Museumswärterin schläft während der Arbeit ein und sieht im Traum ‚ihre‘ Künstler, die sie so gut kennt: In Momentaufnahmen wird gezeigt, wie sich die impressionistischen Künstler*innen um Edgar Degas darüber streiten, ob Kunst in der Natur oder im Museum von den ‚Klassikern‘ gelernt wird. Was hier in Variationen durchgespielt wird, ist die Frage nach der Dynamik von Ablehnung und Verehrung, nach den Mechanismen der Zuschreibung von Kanon und Avantgarde. Die Anekdoten, die Fior erzählt, sind nicht immer belegt; aber der Band ist auch kein Lehrbuch der Kunstgeschichte. Er zeigt vielmehr, wieviel Bewegung in der Kunstgeschichte ist, die uns heute so fixiert und scheinbar unumstößlich entgegen tritt, zumal im Museum. Dabei sieht der Comic auch noch wunderschön aus. Fior demonstriert einmal mehr seine Spezialität, durch Variation des visuellen Stils zu erzählen. Die Überblendungen zwischen verschiedenen Bilderwelten lassen die Leser*innen abtauchen in den Traum von der Kunst, aber auch immer wieder in ihrer eigenen Welt aufwachen – vielleicht mit einem neuen Blick.
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Tillmann Courth

Comicjournalist und Blogger (COMIXENE, Comicoskop, tillmanncourth.de)

My Favorite Thing is MonstersEmil Ferris: My Favorite Thing is Monsters
Fantagraphics

Das ganze Jahr schon mache ich Propaganda für dieses US-amerikanische Werk, das aus dem Nichts kam. Mein Comic des Jahres 2017! Die Comicdebütantin Ferris legt einen 380-Seiten-Klotz vor, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat: ein höchst eigenwillig illustriertes Werk um ein Mädchen aus Chicago, das im Jahr 1968 mit ihrer sexuellen Identität ringt und ihre Umwelt wie einen düsteren Horror-Krimi wahrnimmt. Auf liniertem und gelochtem Schreibheftpapier (!) breitet Ferris mit feinem Buntstift ein Panoptikum der Zeit und ein Sittengemälde der Nachbarschaft aus. Protagonistin Karen fantasiert sich aus ihrem elenden Unterschichten-Alltag heraus, indem sie sich in Kunst flüchtet, Selbstermächtigung aus Horror-Trash gewinnt und als kecke Detektivin einem realen Mordfall nachgeht. Dabei kommen noch dunkle Geheimnisse zu Tage, die bis in ein deutsches Konzentrationslager zurückreichen. Das alles klingt wahnsinnig verblasen, therapeutisch und anspruchsvoll. Dank der Brille der Naivität, durch die Karen blickt, kann Ferris jedoch ihre Themen federleicht und mit viel trockenem Witz jonglieren. My Favorite Thing is Monsters bewältigt auf spielerische Weise, woran sich Dutzende Kunstcomicschaffende die Zähne ausgebissen haben: ein popkulturelles, genderbewusstes, zeitkritisches Familiendrama mit Humor! Für mich ist dieser Comic „the great American GRAPHIC novel“ (eine extensive Besprechung findet sich auf meinem Kulturblog).
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Ole Frahm

Literaturwissenschaftler, Arbeitsstelle für Graphische Literatur (ArGL) Hamburg

Arsène SchrauwenOliver Schrauwen: Arsène Schrauwen
Reprodukt

Die Reise des Großvaters von Oliver Schrauwen ist schon 2016 erschienen, aber aus unerfindlichen Gründen bin ich erst in diesem Jahr dazu gekommen, diese phantasmagorische Reise in den Kongo zu lesen. Es ist mit Abstand das Beste, das ich seit langem gelesen und gesehen habe. Mir fällt niemand im deutschsprachigen Raum ein, die oder der so schonungslos, so genau wie rätselhaft und formal so überzeugend mit der eigenen Familiengeschichte und deren kolonialen Imaginationen umgeht. Die Modernität des Comics als Bildmedium wird hier enggeführt mit der Geschichte der Moderne, ihren utopischen Stadtentwürfen, ihrer Verwerfung des Dschungels, der paranoiden Projektionen und des sexuellen Begehrens, das sich mit ihr verbindet.
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Krazy. George Herriman. A Life in Black and WhitMichel Tisserand: Krazy. George Herriman. A Life in Black and White
Harper Collins

Noch ein Buch, das bereits 2016 erschienen ist, aber als Weihnachtsgeschenk. Tisserands umfangreiche, gründlich recherchierte Biographie des wenig aufregenden Lebens von George Herriman war lang erwartet worden. Auch wenn Tisserand aufgrund fehlender Quellen viel offen oder im Ungefähren lassen muss, öffnet den Lesenden sein Material manches Auge. Auch wenn es in mancher Einschätzung fragwürdig ist – Herrimans Zeichnungen seien unpolitisch – sollte das niemanden, der sich für die Geschichte der Comics interessiert, von der aufschlussreichen Lektüre abhalten.
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LampedusaMigrant Image Research Group: Lampedusa. Bildgeschichten vom Rande Europas
Spector

Überall wurde in den letzten Wochen von 2017 Der Riss von Carlos Spottorno und Guillermo Abril besprochen, zwei Journalisten, die spektakuläre Fotoreportagen über die Flucht nach Europa gemacht haben – und diese nun mit Photoshop überzeichnet als „Graphic Novel“ herausgebracht haben. Bildlich bleibt das Meiste im Bekannten (Grenzzäune, volle Flüchtlingsboote). Auch wenn es immer wieder hilfreich ist, Bilder von den Grenzen und der Abschottung Europas zu betrachten, reflektiert Der Riss des Verhältnisses von Zeichnung und Foto nicht – ganz anders der viel weniger beachtete, aber viel genauere und in vielen Jahren Arbeit entstandene Band der Migrant Image Research Group Lampedusa. Er kommt zwar weniger eingängig daher, aber präsentiert auch keine männlichen Heldengeschichten, und lässt sich deshalb mit viel größerem Gewinn lesen. Der Comic von Paula Bulling und Anne König beweist, dass es spannend wird, wenn eine Ware selber erzählt. Twins Cartoons (Haitham El-Seht und Mohammed El-Seht) geben einen eindrücklichen Einblick in die ägyptische Situation und Emilie Josso begleitet mit ihren Zeichnungen den Rechercheprozess, die vielen Gespräche, die u.a. mit Bildredakteuren geführt wurden, um die Entstehung der Bilder der Flucht zu verstehen. Comics erscheinen hier als unverzichtbares Gegengedächtnis, das die mediale Bildproduktion zu reflektieren und korrigieren vermag.
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Dietrich Grünewald

Kunstdidaktiker, Emeritus Universität Koblenz-Landau, ehem. 1. Vorsitzender der ComFor

Geisel
Guy Delisle: Geisel
Reprodukt

Auch mit diesem Band gelingt Delisle eine lesens- und nachdenkenswerte Mischung aus Reportage und spannender, ergreifender Erzählung. Christophe André, Mitarbeiter der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“, erzählte ihm, wie er 1997 von tschetschenischen Rebellen entführt und als Geisel gefangen gehalten wurde. Erst nach über 100 Tagen gelingt ihm die Flucht. Aus der Ich-Perspektive Andrés entwickelt Delisle einen 428 Seiten starken Band, der den Betrachter ganz in seinen Bann zieht, anschaulich und eindrücklich das Geschehen und vor allem die Befindlichkeit der Geisel, seine Gedanken zeigt. Wir erleben die Rezeption weniger als distanzierte Zeugen, sondern als nahe Mitspieler, die die quälend langsam verrinnende Zeit der Gefangenschaft mit erleiden.
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MagritteCampi & Zabus: Magritte. Dies ist keine Biografie
Carlsen

Auf einem Flohmarkt erwirbt der Protagonist Charles eine Melone – offensichtlich der Hut des belgischen Künstlers René Magrittes. Damit beginnt ein surreales Spiel, das ihn wie den Betrachter in die Kunstwelt Magrittes führt. Charles sieht sich mit der Aufgabe konfrontiert, das Rätsel Magritte zu lösen. Informierende Hilfe erhält er von einem Biografen und von einer hübschen Kunsthistorikerin. Von ihr geführt, begegnet er zahlreichen zitierten Magritte-Werken. Campi und Zabus legen kein Sachbuch vor, sondern eine amüsante, spannende Geschichte, keine Biografie, wie sie selbst sagen, sondern ein fantastisches geistvolles Spiel, das durchaus in der Lage ist, uns Magrittes Kunstkonzept, das Sehen und Denken verbindet, nahe zu bringen. Eine wunderbare, auch graphisch brillante Synthese von Information, Unterhaltung und Denkprovokation.
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MagritteAntje Herzog: Lampe und sein Meister Immanuel Kant
Büchergilde Gutenberg

Der gute Lampe, der Kant 40 Jahre lang Diener und Weggefährte war, bis er aufgrund seines Alkoholkonsums entlassen wurde, zündet zu Beginn der Geschichte eine Kerze an, um dann Kant zu wecken. Ein schönes Eingangsbild für einen Bildroman, der den Rezipienten auf informative wie witzige Weise in Kants Zeit, sein Zuhause, sein Denken führt und an manchen Episoden teilhaben lässt. Ein besonderer Comic für Liebhaber des Experiments und dem Spaß am eigenwillig präsentierten philosophischen Diskurs.
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Thomas Hausmanninger

Christliche Sozialethik, Universität Augsburg

Catamount Benjamin Blasco-Martinez: Catamount
Petit à Petit

Seit September liegt der zweite Band nach den Romanen von Albert Bonneau vor. Die Erzählung schildert den Lebensweg der gleichnamigen Hauptfigur, die im ersten Band als verlassenes Kind von einer Siedlerfamilie aufgelesen wird. Im zweiten Band setzt sich die Geschichte nach einen Zeitsprung mit dem jugendlichen bzw. gerade erwachsen werdenden Catamount fort. Blasco-Martinez legt seine Zeichnungen detailliert an und pflegt einen Stil, der abseits der von Giraud (und JiJé) etablierten Tradition eher an die Illustrationskunst von Alfred Kubin erinnert. Während er im ersten Band noch mit Tusche zeichnet, wechselt er im zweiten Band zum Bleistift; in beiden Fällen koloriert er am Computer, was seinen Zeichnungen einen streckenweise hyperrealistischen Charakter verleiht. Figuren, Waffen und soziale Verhältnisse sind nahe an der historischen Realität; in dieser Hinsicht liegt der Comic mehr auf der Linie, wie man sie von Cartland kennt. Die Dramaturgie ist exquisit – Blasco-Martinez nutzt die Möglichkeiten des Comics voll aus, wenn er etwa im ersten Band einen Überfall einer Indianerǵruppe auf die Siedlerfamilie auf einer Doppelseite mit großformatigen Close ups inszeniert, nachdem die vorangehenden Seiten in ruhigen Vierzeilen-Layouts vorangeschritten ist. Die Erzählung ist narrativ raffiniert gebaut, macht die Figuren lebendig und endet v.a. im ersten Band mit einem Twist, der die gesamte Geschichte in einem völlig neuen Licht erscheinen lässt.
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SonoraJean-Pierre Pecau & Benoit Dellac: Sonora
Editions Delcourt

Sonora bietet einen zuerst konventioneller erscheinenden Stoff: Die Hauptfigur folgt mit etlichen anderen dem Goldrausch nach Kalifornien, hat jedoch eine secret agenda, nämlich einen Rachewunsch, dessen Hintergründe sich erst allmählich erschließen. Jedoch gibt Pecau seiner Hauptfigur und etlichen anderen Figuren eine für den Western ungewöhnliche backstory: Sie alle kommen aus dem revolutionären Frankreich, näherhin den gescheiterten Bemühungen der Pariser Kommune – und standen dort teilweise auf den einander entgegengesetzten Seiten. Im Laufe der Erzählung verdingt sich die Hauptfigur bei einem zweifelhaften Colonel der Armee, der in der Goldgräberstadt für Ordnung zu sorgen vorgibt. Die Spannung der Erzählung erwächst dominant aus der Frage nach der wahren Identität der jeweiligen Figuren, die allesamt aus einander verdeckenden Schichten und unklaren Vergangenheiten aufgebaut sind. Dellac setzt dies gekonnt in dynamische Seiten um, wobei auch sein Stil nicht dem Strich Girauds folgt. Bislang liegt nur der erste Band vor, der Erwartungen auf die Folgebände weckt.
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L'or de Morrisson Roger Seiter & Daniel Brecht: L’or de Morrisson
Editions du Long Bec

Eine auf zwei Bände angelegte Erzählung, die nach dem Sezessionskrieg spielt und die Bemühungen der desillusionierten Hauptfigur, jenseits aller Moralität ihre Zukunft zu gewinnen, zum Thema macht. Die Ausgangsposition ist ungewöhnlich: Der Südstaatenoffizier Morrison versucht sich nach dem Krieg zunächst in einem sozialen Experiment, einer Art sozialistischer Kommune, die den Ideen von Etienne Cabet und dem Utopia von Thomas Morus folgt. Nach dem Scheitern dieses Experiments verbrennt er im Wortsinn seine Vergangenheit in Gestalt seiner Besitzungen und zieht mit einer Bande los, um einen Geldtransport per Zug zu überfallen. Ähnlich dem sozialen Experiment, ist auch dieser Überfall als a priori rational durchgeplantes Unterfangen angesetzt. Und erneut kommt ihm das Chaos der Realität, nun in Gestalt einer marodierenden Apachengruppe, einer Armeeeinheit und einer Bürgermiliz, in die Quere. Brecht legt seine Zeichnungen in der Stiltradition Girauds an und bietet opulente, kinoreife Bilder. Bislang liegt der erste Band vor, der mehr als Appetit auf den zweiten macht.
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Linda-Rabea Heyden

Literaturwissenschaftlerin, Universität, Jena

Kill Six Billion DemonsTom Parkinson-Morgan: Kill Six Billion Demons
Image Comics

Kill Six Billion Demons ist zugegebener Maßen nicht mehr ganz frisch. Zunächst ein Webcomic, liegt der erste Band von Image Comics inzwischen als Tradepaperback vor. Im Januar erscheint nun endlich nach langer Pause der zweite Band. Ein guter Anlass mit dem ersten Band nochmal einzusteigen. In einer Umkehrung des Jungfrau-in-Nöten-Motivs muss Allison in ein von Dämonen bewohntes Multiversum reisen, um ihren Freund zu retten. Dabei wirken die Dämonendarstellungen auf bildlicher Ebene so unverbraucht wie die vielzähligen mythologischen Anspielung, weil Parkinson-Morgan andere Verweise aufruft als beispielsweise Neil Gaiman, an den der mythologische Umfang des Werkes durchaus auch erinnert. Auch Alan Moore mag einem beim Lesen der längeren Kapitelzwischentexte einfallen. Trotz dieser strukturellen Reminiszenzen behauptet sich Kill Six Billion Demons als eigenes Werk. Bereits der erste Band verspricht eine spannende Geschichte, in der die Protagonistin sich erst noch zu einer Heldin entwickeln muss. Ihre Reise bietet für die Lesenden neben unterhaltsamen Höllen-Imaginationen auch Texte mit so wunderbaren Sätzen wie diese: „A plum is a thing that does not exist. But it is my favorite fruit.“
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Wonder Woman (Rebirth) Band 1: The LiesGreg Rucka & Liam Sharp: Wonder Woman (Rebirth) Bd. 1: The Lies
DC Comics

Mit The Lies kehrt Greg Rucka zu Wonder Woman zurück und beginnt gleich mit einem Kunstgriff, wenn Wonder Woman hilflos feststellt: „Die Geschichte verändert sich.“ Für Kenner erlaubt das Verhandeln ein Wiedererkennen, für Neueinsteiger Blitzlichter der Figurenhistorie. Denn Dianas Feststellung liest sich zugleich auch als Meta-Kommentar zu Beginn eines neuen Runs im DC Universum, der vorherige Setzungen zurück nimmt. Der erste Band wirft vor allem Fragen auf, als dass er sie beantwortet. Das zählt aber gerade zu seinen Stärken. Inhaltlich ist besonders der Subplot um Cheetah und die entführten Mädchen hervorzuheben, weil es sich um eine archetypische Emanzipationsgeschichte handelt, in der Wonder Woman aber statt mit körperlicher Überlegenheit primär mit Empathie um die Menschlichkeit ihrer Freundin kämpft und die Tapferkeit der entführten Mädchen als eigentliche Stärke anerkennt. Bei Rucka definiert sich Heldentum somit nicht allein über physische Kraft. Ruckas gut geschriebene Handlung, Dialoge und Figuren werden von Liam Sharp in wunderschönen monochromen Bildern in Szene gesetzt. So wie Rucka Steve und Diana durch parallele Handlungen verbindet, illustriert Sharp die komplizierte Freundschaft von Wonder Woman und Cheetah in bildlichen Spiegelungen, die eine tiefe Verbundenheit anzeigen. Sharps fantastische Figuren, allen voran Cheetah, fesseln den Blick noch weit über die Lektüre hinaus.
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Ghost in the ShellMasamune Shirow: Ghost in the Shell
Egmont Manga

Anlässlich der Realverfilmung von Ghost in the Shell im Frühjahr gab Egmont eine neue Ausgabe der bereits 1996 in Deutschland erschienenen Manga-Reihe von Masamune Shirow heraus. Damit war die längst vergriffene Serie wieder verfügbar. Die Neuveröffentlichung weist zudem Verbesserungen gegenüber der Erstausgabe auf. Sie behält diesmal die japanische Leserichtung bei und jeder Band beinhaltet nun sogar insgesamt 60 Farbseiten immer zu den Kapitelanfängen. Aber auch die Schwarz-Weiß-Zeichnungen sind mit ihrem filigranen Strich ein optisches Vergnügen. Sie glänzen mit reichhaltig ausstaffierten Umgebungsdarstellungen, individualisierten Figuren und Gesichtsausdrücken sowie dynamischen Action-Szenen. Im Manga erhält die Geschichte um die Jagd von Motoko Kusanagi und ihrem Team auf den Puppetmaster im Vergleich zu Anime und Realverfilmung nochmal eine ganz eigene Note, sodass sich die Lektüre auch für Kenner der Filme lohnt. Die schlagfertige und sich vergnügende Motoko, absurde Unterhaltungen der KI-Kampfroboter und nicht zuletzt die zahlreichen erklärenden, oft aber auch abschweifenden Fußnoten (etwa über die „ungewöhnlich sinnliche Schönheit“ kopulierender Nacktschnecken) machen den Humor des Manga aus und geben dem detailreichen Weltentwurf und den philosophischen Fragen nach dem Verhältnis von Mensch und Maschine Tiefe. Der Manga bietet damit mehr als nur die Vorlage für die Filme in Comicform.
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Rolf Lohse

Romanist, Universität Bonn

iMBATTABLEPascal Jousselin: iMBATTABLE
Éditions Dupuis

Der Sammelband iMBATTABLE #1: „Justice et légume frais“ von Pascal Jousselin enthält 21 Einzelgeschichten, die zuvor im Magazin Spirou erschienen sind. Der Superheld iMBATTABLE wird als der „einzige wirkliche Held des Comics“ – „Le seul véritable super-héros de bande dessinée“ vorgestellt. Die Superkraft, über die er verfügt und mit der er sich gegen recht finstere Gegner durchsetzen kann, ist vermutlich wirklich nur in einem Comic darstellbar. Denn er verfügt über ein Wissen um den Zusammenhang von der Anordnung der Bilder auf der Seite. Er kann Panels, die auf einer Seite liegen, als simultan begehbare Bildräume nutzen und in ein anderes Panel hinüberspringen oder anderweitig in die Handlung eines vorausliegenden oder folgenden Panels hineinwirken. Damit kann er Dinge tun, die alle anderen Bewohner der dargestellten Welt verblüffen, aber auch den Leser, der sich auf dieses letztlich wohl medienreflexive Spiel einlässt, bei dem die Chronologie durch Simultanität überlagert wird. Sekundiert wird iMBATTABLE von einem Assistenten namens „Two-D“, der das Abbildungsverfahren der zentralperspektivischen Darstellung unterwandern kann, indem er die Position von einzelnen Gegenständen oder Wesen in der Tiefe des Bildraums verändert, ohne jedoch ihre Größe anzupassen, so dass sie relativ zu der korrekt dargestellten Welt zu klein oder zu groß erscheinen. Schließlich erwächst iMBATTABLE ein gefährlicher Gegner in „Le Plaisantin“ („Der Spaßvogel“), der die Fähigkeit hat, durch Wände zu gehen. Welche Wände das sind, darf jede Leserin und jeder Leser selbst herausfinden. Großer Spaß ist garantiert.
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Stephan Packard

Medienkulturwissenschaftler, Universität Köln, 1. Vorsitzender der ComFor
Secret Empire
Nick Spencer et al.: Secret Empire
Marvel Comics

Von Juli 2016 bis August 2017 dauert die Cross-Over-Erzählung Secret Empire im Verlag Marvel. Wie bei solchen vielteiligen Projekten üblich, sind zahlreiche Texter_innen und Künstler_innen beteiligt. Nick Spencer, der neben den 11 Episoden der Hauptlinie Secret Empire noch zwei weitere monatliche Serien in diesem Zeitraum bedient hat – Captain America: Steve Rogers und Captain America: Sam Wilson –, zeichnet jedoch in einem Umfang für die Erzählung verantwortlich, die es erlaubt, von Autorschaft zu sprechen.

In Secret Empire verwendet Spencer die Captain America-Figur zur Spiegelung des kontroversen amerikanischen Selbstverständnisses; eine Funktion, in der sie immer wieder ihr größtes Potenzial bewiesen hat. Spencer tut das ausführlich und mit breiter Kenntnis des Quellenmaterials; und er tut es so ambivalent, dass er in Rezensionen und sozialen Medien an allen Enden verschiedenster politischer Spektren dafür verrissen wurde. Subtil wird Spencers Behandlung nicht durch die Geste der Appropriation: der Kandidat und dann Präsident Trump wird immer wieder wörtlich zitiert. Subtilität entsteht vielmehr durch die Konstellationen, in denen er den bis zur Kenntlichkeit verzerrten Inhalt präsentiert: die Zitate werden teils von nationalsozialistischen Superschurken wie dem Red Skull, teils von den Protagonisten im Mund geführt, zu denen auch Sam Wilson als schwarzamerikanischer Captain America gehört.

Im Zentrum der Erzählung steht ein Plot um einen alternativen, zu Hydra übergelaufenen Steve Rogers als verräterischer (und weißer) Captain America. Er ist nicht freiwillig desertiert, sondern Opfer einer Intrige, die seine Vergangenheit und damit seine Persönlichkeit umgeschrieben hat. Solche Plots sind als alternative histories, als Zeitreiseabenteuer und als Gehirnwäschen etabliert. Spencers besonderes Geschick besteht nun darin, dass er all diese bekannten Topoi anspielt, aber ein neues SF-Vehikel für die Veränderung von Rogers verwendet, dessen Funktionsweise lange Zeit ungeklärt bleibt und so die Frage erlaubt: Ist die Welt anders, oder sieht sie Rogers nur anders? Und was bedeutet es, wenn er an einem frühen Höhepunkt der Serie in The Oath erklärt, er wisse, dass er manipuliert sei, aber er sei damit einverstanden? Zur zentralen Bedrohung für die Vereinigten Staaten wird damit nicht eine Manipulation, sondern eine Unsicherheit über den Begriff von Wahrheit, die sich als genuin politische Aporie erweist. Entwicklungen, die mit Beschreibungen wie fake news und postfaktual nur hilflos und unvollständig zu fassen sind, erhalten so einen komplexen literarischen Spiegel.
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Janek Scholz

Literaturwissenschaftler, Universität Aachen

Love is LoveDiv.: Love is Love. Eine Comic-Anthologie für Respekt, Akzeptanz und Gleichberechtigung
Panini

Wie entsteht Hass? Wie geht man mit überwältigender Trauer um? Was ist das Wesen der Liebe? Diesen Fragen gehen die Künstler in der Anthologie Love ist love nach, die im Dezember 2016 als Reaktion auf das Attentat von Orlando bei IDW Publishing erschienen ist und seit Oktober 2017 in deutscher Übersetzung vorliegt (Panini). Die ein- bis zweiseitigen Comics spiegeln eine Vielzahl an Darstellungsformen wider und reichen von Superhelden oder Science-Fiktion Geschichten über Comics á la Tom of Finland bis hin zu durch eine splash page illustrierten Fließtexten/Gedichten. Immer wieder wird die unschuldige Klugheit der Kinder thematisiert und der Einfluss, den Eltern und andere Erwachsene darauf nehmen (können). Selbstverständlich überzeugt nicht jede Geschichte gleichermaßen, teils sind die Texte mit Moral und Pathos überfrachtet, teils kämpferisch innervierend. Häufig werben die Texte aber eher subtil für „Respekt, Akzeptanz und Gleichberechtigung“; beispielsweise die neun panels von Gerry Duggan und Phil Noto am Ende der Anthologie, die es gerade durch ihre Schlichtheit schaffen, die Leser*innen nachhaltig zu berühren.
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Angola JangaMarcelo D’Salete: Angola Janga
Veneta

Mit 430 Seiten ist Angola Janga (dt.: kleines Angola) durchaus ein monumentales Werk. Marcelo D’Salete hat sich nichts Geringeres vorgenommen, als eine Geschichte der Palmares, der Zufluchtsorte für Sklav*innen in Pernambuco (im Osten Brasiliens) zu zeichnen. Stilistisch knüpft das Buch an frühere Comics von Marcelo D’Salete an, die Bilder wirken im Stil der Kohlezeichnung verwaschen, fast schmutzig. Bildzitate referieren auf Comics von André Diniz und D’Saletes Cumbe, Höhepunkte in der Aufarbeitung der afro-brasilianischen Geschichte in Comic-Form. Die Handlung wird in elf Kapiteln erzählt, der zeitliche Rahmen erstreckt sich von 1655 bis 1702. Dem Buch wird ein Glossar nachgestellt, in dem erklärungswürdige Begriffe (v.a. aus der Bantu-Sprache) erläutert werden. Darüber hinaus schließt der Band mit einer Darstellung der historischen Fakten zum Sklavenhandel, inklusive einiger Karten. Eine aufmerksame Lektüre ist nicht nur wegen der Menge an Symbolen und Bantu-Begriffen angezeigt (die in einem Glossar erläutert werden), sondern auch wegen der zahlreichen Charaktere, die jedoch in den vorderen und hinteren Umschlagseiten noch einmal gesammelt portraitiert werden. Angola Janga zeigt ruhige und brutale Momente, Alltag und Krieg. D’Salete lässt Gut und Böse verschwimmen, in einem Krieg um Freiheit und Macht, der noch heute das kollektive Bewusstsein der Afro-Brasilianer prägt.
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CumbeMarcelo D’Salete: Cumbe
Bahoe Books

Nach Noite Luz (2008) und Encruzilhada (2011) war Cumbe (2014) der dritte Comic-Band von Marcelo D’Salete, einem der namhaftesten Comic-Autoren Brasiliens. Seit 2017 liegt Cumbe nun auch in deutscher Übersetzung (Lea Hübner) vor und bildet damit hoffentlich den Auftakt für eine Reihe weiterer Übersetzungen, denn sowohl Noite Luz, als auch Encruzilhada sollten dem deutschen Publikum nicht vorenthalten bleiben, ganz zu schweigen von Angola Janga (s. oben). Während D’Salete die Geschichten der ersten beiden Werke noch in urbanen Subkulturen der Gegenwart anlegt, bleibt er in Cumbe zwar seinem Interesse an marginalisierten Figuren treu, wendet sich dabei jedoch stärker der Vergangenheit zu, genauer gesagt der Sklaverei in Brasilien. Im Buch sind vier Geschichten von Sklavenaufständen während der Kolonialzeit versammelt; sie erzählen von Sklav*innen, die für ihre Freiheit kämpfen und dabei stets durch cumbe, durch Licht, Feuer und Kraft inspiriert werden. Die visuelle Kraft seiner Werke liegt m.E. in der Verknüpfung verschiedener Stile (afrikanische Symbolik, Masken, Holzschnitt, Kohlezeichnung) sowie in der Darstellung mannigfaltiger menschlicher Emotionen. So fängt D‘Salete Trauer, Liebe, Verzweiflung und Wut in einem einzigen Gesichtsausdruck ein und wirbt damit für mehr Empathie auch gegenüber vermeintlich abweichenden Verhaltensweisen.
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Markus Streb

Kulturwissenschaftler, Universität Gießen

Flying Couch: A Graphic MemoirAmy Kurzweil: Flying Couch – A Graphic Memoir
Black Balloon Publishing

In Amy Kurzweils bemerkenswertem Comic geht es um die Identität dreier jüdischer Frauen, um Familie, um Trauma, um Erinnerung, um Ängste, um Wurzeln und Entwurzelung. Vor dem Hintergrund der Vergangenheit ihrer aus Polen stammenden Großmutter, erzählt die US-amerikanische Schriftstellerin und Comic-Künstlerin von ihrem Erwachsenwerden. Ihre „Bubbe“ floh als Kind aus dem Warschauer Ghetto und überlebte getarnt als Nichtjüdin. Gekonnt wechselt Kurzweil zwischen verschiedenen Orten und Zeiten. Immer wieder stehen einzelne Episoden nebeneinander, sie brechen abrupt ab und müssen aufeinander bezogen werden. Kurzweil liefert kein geschlossenes Werk, sie bietet keine eilfertigen Antworten. Vielmehr fordert sie zu Re-Lektüren und Re-Kontextualisierungen auf. Bei ihren schwarz-weiß Zeichnungen verzichtet sie auf konventionelle Panelstrukturen und detailliert ausgearbeitete Hintergründe. Humorvolle Szenen finden sich ebenso wie traurige und verstörende. Dabei entsteht eine Komplexität die fesselt und der es gelingt die Erinnerung an die Shoah und deren Bedeutung für die Ausbildung (weiblicher) Identitäten zu reflektieren. Nicht zufällig erinnert ihr Werk an Arbeiten von Miriam Katin, Michel Kichka, Art Spiegelman oder Alison Bechdel.
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Joachim Trinkwitz

Kulturwissenschaftler, Universität Bonn, Leiter der Online-Bibliographie Comicforschung

Hellboy in HellMike Mignola: Hellboy in Hell, Library Edition
Dark Horse

Die Hölle erscheint als ein dantesk unwirtlicher Ort in Mike Mignolas Abschluss seiner Serie um den ‚paranormalen Detektiv‘ Hellboy, er wird von seinem Virgil Sir Edward Grey durch sie geführt und findet seinen teuflischen Vater ähnlich wie Dante den Satan der Göttlichen Komödie im Eis eingeschlossen. Aber anders als der Florentiner es seinerzeit wollte, ist die Hölle, in die Hellboy nach seinem Tod im Kampf mit seiner Widersacherin Nimue gestürzt ist, nicht ganz ohne Hoffnung: Ein Priester begegnet ihm an der Spitze einer Prozession, um unter Glockengeläut für die Verdammten zu beten, ein gewisser Dr. Hoffmann rettet den entkräfteten Dämonenjäger vor dem bedrohlichen Dr. Coppelius (der Sandmann lässt grüssen), und selbst des Teufels Großmutter schlägt ihrem Enkel ein Schnippchen und hilft Hellboy, eine schon verloren geglaubte Seele zu retten. In der großformatigen, prachtvoll ausgestatteten Library Edition kommen Mignolas stark reduzierte Zeichenkunst und die gedämpften flächigen Farben Dave Stewarts nun zu voller Geltung. (Ich soll hier zwar keine Sekundärliteratur empfehlen, kann mir aber den Hinweis auf Scott Bukatmans herausragende Studie Hellboy’s World: Comics and Monsters on the Margins nicht verkneifen, die mich erst auf Hellboy aufmerksam gemacht hat und eine ideale Parallel-Lektüre zu Hellboy in Hell darstellt.)
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MonographChris Ware: Monograph
Rizzoli

Ist Hellboy in Hell mit 24x31cm schon ein massiver Band, so ist Chris Wares neuestes Werk mit 33x46cm ein wahrhaftiges coffee table book, das nicht ohne stützende Unterlage gelesen werden kann. Die braucht man umso mehr, als dieses Buch eine opulente Fundgrube von Materialien zu Leben und Werk des Autors ist, in der man wochenlang auf Entdeckungsreise gehen kann und das seinem nüchternen Titel hohnspricht. Ware versammelt hier Fotos aus seiner Vergangenheit, Cover und Seiten seiner Comics, Skizzen und Entwürfe, verworfene Ansätze, Aufnahmen seiner Modellbauten, Kostproben seiner Comic Strips in der Stadtzeitung New City oder seiner Zeitschrift The Ragtime Ephemeralist und vieles andere mehr, alles verwoben durch sparsame erläuternde Texte. Mit diesem unerschöpflichen Band, der an manchen Stellen eingeklebte kleine Hefte enthält, in denen zusammengehörende Materialien untergebracht sind, hat sich der Autor selbst ein Monument errichtet, ein Archiv seines Lebens und seiner Arbeit, vergleichbar mit dem barocken Konzept der ‚Wunderkammer‘, denn mit jedem Umblättern seiner großformatigen, bis zum Bersten gefüllten Seiten präsentiert Ware sinnliche Sensationen und lässt neue Entdeckungen machen. Zusammen mit der ebenfalls 2017 erschienenen Sammlung von Interviews mit dem Autor liegen damit Materialien vor, die Ware-Kenner und -Liebhaber lange Zeit beschäftigen werden.
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Palookaville #23Seth: Palookaville #23
Drawn & Quarterly

Die neueste Nummer der Comicserie Palookaville des kanadischen Autors Seth hat zwar eine ‚normale‘, handliche Größe, schließt aber an die beiden vorhergehenden an durch das, was Scott Bukatman bei Hellboy als ‚bookishness‘ herausgestellt hat, die bewusste Nutzung des Mediums Buch als materielles, sinnlich-genussvoll wahrnehmbares Objekt, hier in Form eines bis ins kleinste liebevoll durchgestalteten Hardcoverbändchens und einer raffinierten ganzheitlichen Seitengestaltung. Seth bringt in dieser Folge seine fiktive Erzählung Clyde Fans, die Geschichte zweier ungleicher Brüder, nach zwanzig Jahren zu Ende und setzt gleichzeitig seine 2013 unter dem Titel Nothing Lasts begonnenen Kindheitserinnerungen fort. Beide Teile erscheinen eng miteinander verbunden durch eine Duotone-Kolorierung und dem Wechsel zwischen Passagen, in denen Erzählerkommentare oder innerer Monolog dynamisch mit linearen Raumdurchquerungen in Split-Panel-Manier verbunden sind, und solchen, in denen serielle Porträts von Personen, Aneinanderreihungen von architektonischen Details oder von konkreten, mit Erinnerungen aufgeladenen Dingen den begleitenden Text aufbrechen und verlangsamen. Das alles ist problemlos auch ohne Vorkenntnis der vorherigen Folgen lesbar und fasziniert als unterschiedliche Weisen der Rekonstruktion von Erinnerungsprozessen auf der Suche nach verlorenen Zeiten.
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Dirk Vanderbeke

Anglist, Universität Jena

Terms and ConditionsRobert Sikoryak:
Terms and Conditions & The Unquotable Trump

Drawn & Quarterly

Robert Sikoryak hat dieses Jahr gleich zweimal zugeschlagen, und beide Werke zeigen wieder einmal seinen ungemein witzigen Umgang mit Genre-Comics, der auch schon seine Masterpiece Comics ausgezeichnet hatte. Dort wurden Großwerke der Weltliteratur in bekannte Comics adaptiert – der biblische Sündenfall z.B. findet zwischen Blondie (Blond Eve) und Dagwood statt, die schließlich das Paradies verlassen müssen und in eine Vorstadtvilla einziehen; Batman wird zu Raskol in Schuld und Sühne.
The Unquotable TrumpTerms and Conditions nun ist eine (nicht autorisierte) Comic-Adaptation der Geschäftsbedingungen von Apple iTunes auf 102 Seiten, vorgetragen von einem sehr wandlungsfähigen Steve Jobs, der auf jeder Seite in die Rolle einer bekannten Comicfigur schlüpft. Der Kontrast zwischen dem unsäglich trockenen und unlesbaren Bürokratenjargon und den Zeichnungen ist grandios und führt zu witzigen Kollisionen – der Absatz zu „Objectionable Material“ wird z.B. in den Garten Eden aus Picture Stories From the Bible verlegt. Unquotable Trump besteht aus 48 modifizierten Titelseiten von Comics im Großformat, auf denen Donald Trump, meist als Schurke, einen seiner berühmt-berüchtigten Sätze von sich gibt – z.B. als städtezerstörender Godzilla auf dem Cover von Donzilla. Prez of the Free World: „This is more work than in my previous life. I thought it would be easier.” Parodie und Präsidentenverriss in Perfektion.
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OttoMarc-Antoine Mathieu: Otto
Reprodukt

Mathieu gehört seit langem zu den kreativsten Comic-Autoren, und seine Werke zeichnen sich nicht nur durch einen oft skurrilen Humor und eine klaustrophobische Atmosphäre aus, sondern auch durch eine erhebliche Selbstreflexivität des Mediums und konzeptionelle Tiefe. Der Humor der Aquefaque-Bände ist in der letzten Zeit etwas zurückgegangen, und das neueste Buch steht eher in einer Reihe mit Die Zeichnung, in dem ein einzelnes Bild eine fast unendliche Tiefenstruktur aufweist, seine letzte Bedeutung dann aber ganz oberflächlich preisgibt. Otto (Übers. Norma Cassau) ist die Geschichte eines Performance-Künstlers, der mit Spiegeln und Symmetrien arbeitet. Nach dem Tod seiner Eltern erfährt er, dass diese an einer wissenschaftlichen Studie teilgenommen und ihn als Kind komplett überwacht hatten. In ihren Aufzeichnungen steht er sich erneut wie in einem Spiegel gegenüber; er zieht sich zurück und verliert sich zunehmend in der Rekonstruktion seiner Kindheit, die hier auch eine räumliche Rekonstruktion wird. Der Comic schwelgt dann geradezu in allen möglichen Varianten von Spiegelungen, Symmetrien, Selbstähnlichkeiten und skaleninvarianten Transformationen. Der Stil ist kühl, die Zeichnungen karg, selbst wenn sie extrem detailliert ausgeführt sind. Mathieu scheint hier die Züge eines graphischen Borges anzunehmen, und wenn die philosophische Geschichte auch vielleicht etwas kopflastig erscheinen mag, so ist es doch spannend zu sehen, wie sich die Bilder und Motive entwickeln und das Buch die Möglichkeiten des Mediums wieder einmal neu auslotet.
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Lukas R.A. Wilde

Medienwissenschaftler, Universität Tübingen

War and PeasElizabeth Pich & Jonathan Kunz: War and Peas
https://warandpeas.com

„Today you’ll learn something about humour. Humour is tragedy plus time“, doziert ein Wissenschaftler, bevor er sich unversehens im Klassenzimmer erschießt. „How long do we have to wait?“, kann die Klasse aus Roboterwesen da nur begriffslos fragen – und warten (Link zur Episode)! Stellvertretend für eine neue (zumindest in diesem Jahr für mich neu entdeckte) Generation von Webcomics soll War and Peas stehen. Seit knapp über einem Jahr präsentieren die beiden Saarländer Pich und Kunz jeden Sonntag ein 4-Panel-Kondensat aus bitterschwarzem, existenzialistischem Humor. Wie in den etwas bekannteren Vorreitern Poorly Drawn Lines, Jake Likes Onions oder Safely Endangered haben wir es kaum je mit eigentlichen „Pointen“ zu tun. Vielleicht könnten wir stattdessen von szenischen Aphorismen sprechen, in denen die Alltagswiderfahrnisse von allzumenschlichen Robotern, hypersensiblen Spukgespenstern oder einem arbeitsentfremdeten Gevatter Tod eher tieftragisch als komisch erscheinen. Letztlich, so hat man häufig den Eindruck, sind alle Leiden der Welt auf eine geradezu kosmische Unfähigkeit zurückzuführen, miteinander zu kommunizieren, von der auch höhere und niederste Wesen keinesfalls ausgenommen sind. 2017 brachte uns Meisterstücke im Haiku-Format wie „I, Robot“, „Consciousness“, „Regret Nothing“, „True Poet“, „My Father’s Shirt“ und die unvergessliche Episode „Oh, Professor!“.
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MooncopTom Gauld: Mooncop
Drawn & Quarterly

Zugegeben: beim Verfassen dieser Notizen fällt mir auf, dass Mooncop auch als 94-seitige War and Peas-Episode (s. oben) durchgehen könnte. Der namenlose Mooncop harrt als einer der letzten verbliebenen Bewohner in einer Mondkolonie aus, in der außer ihm bald nur noch ein Donut Automat zu finden ist. Und auch der wird nun während eines Routine-Updates deinstalliert. „So. How’s the crime fighting going?“, „My crime solution rate is 100%“. Eigentlich bereits im Herbst 2016 erschienen, bin ich erst durch die diesjährige Eisner-Nominierung auf Gaulds existenzielle Studie gestoßen. Gaulds Vorgängerwerk Goliath (2012), eine philosophische Parabel auf die David & Goliath-Sage, nahm sich bereits als absurdes Miniaturtheaterstück aus. Auch die minimalistischen Cartoon-Grafiken von Mooncop kreieren winzigste Becket-Bühnenbilder, in denen ein ebenso beklemmendes wie geistreiches Panorama ausgefaltet wird; ein untergehender und unterfinanzierter Traum, an den keiner mehr glauben mag, aber in dem auch niemandem die Verzweiflung erlaubt ist, solange noch konsumiert werden kann. Das kann man wohl nur in Comicform dergestalt erzählen, durch einen Künstler, der die antinaturalistischen Tendenzen des Mediums nuanciert zwischen Komik und Symbolismus auszuspielen weiß. „Humour is tragedy plus time“, ließe sich mit Pich und Kunz noch einmal bekräftigen. Gaulds neuester Streich, der vor wenigen Monaten erschienen ist, trägt nun auch den folgerichtigen Titel Baking with Kafka (2017).
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Mister MiracleTom King & Mitch Gerard: Mister Miracle
DC Comics

Und ein weiteres Mal: „Humour is tragedy plus time“, diesmal im Format einer DC-Superhelden-Opera, verortet im eigentlich hanebüchenden Pantheon um Jack Kirbys „Neue Weltraumgötter“. King schafft es schon wieder und reiht sich damit endgültig in die vorderste Reihe der gegenwärtigen US-Autoren ein. Nachdem seiner Marvel-Serie Vision im Vorjahr bereits ein beeindruckender Spagat aus psychologischem Tiefgang, Superhelden-Mythos und hochrelevanter Gesellschaftskritik gelungen war, lädt die 12-teilige Mister Miracle-Miniserie (erschienen sind zum Jahreswechsel fünf Ausgaben) seine Leserschaft nun zu einem noch waghalsigeren Ritt ein. Mister Miracle, Scott Free, der ultimative Escape Artist, leidet an schweren Depressionen und überlebt nur knapp einen Suizidversuch. Schnell sind Spekulationen eröffnet, ob es sich dabei nicht um seine ultimative Performance handelte – oder eher um den Einfluss des dunklen Gottes Darkseids, der in den Besitz der bewusstseinskontrollierenden Antilebensformel gelangt sein soll und einmal mehr den letzten Krieg der Götter ausrief. Bereits formal ein Meisterwerk aus variierten Neun/Acht-Panel-Grids (zuletzt konnte Matt Fractions und David Ajas Hawkeye derart technisch beeindrucken) holen King und Gerard aus jeder halbautonomen Einzelseite mehr heraus als die meisten Autor_innen aus ganzen Heften: permanente Verunsicherungen über Zuverlässigkeit, Realitätsstatus und Bildlichkeit des Gezeigten, erschütternde Kontraste zwischen dem Banalen und dem Überlebensgroßen, dem Komischen und dem Tragischen, und nicht zuletzt tatsächlich anrührende zwischenmenschliche Momente zwischen Scott und seiner Frau Barda… „Sometimes, a moment feels especially large, but then you go back to your little grid, searching for meaning in the details“. Besser als mit diesen Worten von Abraham Riesman kann man es kaum auf den Punkt bringen!
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