Die Redaktion der Gesellschaft für Comicforschung wünscht ihren Leser_innen und Freund_innen nachträglich noch einmal einen guten Jahresstart. Kein Jahreswechsel ohne Jahresbestenlisten – höchste Zeit also, auch in diesem Jahr wieder mit einer Liste von Leseempfehlungen aufzuwarten! (Die Leseempfehlungen der letzten Jahre finden sich hier). Auch dieses Jahr haben wir unsere Mitglieder unter der Redaktion von Robin-M. Aust um ganz subjektive Lektüretipps gebeten, die aus den vergangenen zwölf Monaten im Gedächtnis geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer. Hier also einige Notizen zum vergangenen Comicjahr 2018:
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Jörn Ahrens
Professor für Kultursoziologie, Justus Liebig Universität Giessen
avant-verlag
Gipis Stil wirkt skizzenhaft, zuweilen lässig bis geradezu nachlässig. Dennoch sind seine Zeichnungen, der Aufbau seiner Seiten ausgesprochen umsichtig durchkomponiert. Das scheinbar Unfertige, Flüchtige der Zeichnungen spiegelt die Fragilität der Figuren. In Die Welt der Söhne entwirft er ein apokalyptisches Szenario in schwarz-weiß, ganz ohne Backstory. Die Welt scheint geflutet, das Land ist weitgehend verschluckt. Die Katastrophe muss wenige Jahrzehnte zurückliegen; die Erwachsenen kennen noch eine andere Welt. Die Protagonisten, zwei Brüder und ihr Vater, leben auf dem Wasser, um sie herum kaum Menschen und beinahe nichts, das sie ernährt. Der Vater will, dass seine Söhne in dieser feindlichen Umwelt überleben können; Lesen bringt er ihnen gar nicht mehr bei. Jede Person, die auftaucht, wirkt erst einmal misstrauisch und kampfbereit. Menschen sind physiognomisch verunstaltet, wohl durch Kontamination, oder im Geiste durch eine grassierende inhumane Exzessreligion, die das Abschlachten anderer feiert. In seiner mit fast 300 Seiten bislang umfangreichsten Arbeit zeigt Gipi, wie sich Menschlichkeit reduziert auf Formen der Gewalt. Einerseits. Andererseits handelt es sich um eine ziemlich ruhige Meditation über die mentale Verfasstheit von adoleszenten Jungs, bei der die postapokalyptische Umwelt häufig nebensächlich wird. Die Brüder suchen etwas anderes, als nur das Überleben. Sie sehnen sich nach dem Anderen der Gewalt, nach Möglichkeiten der Kultur. Grandios, wenn sie das Tagebuch des Vaters nach dessen Tod durchblättern – über Seiten hinweg zeigt der Comic unleserliches Gekrakel, wie es die illiteraten Jungs sehen. Erst die allerletzte Seite eröffnet mit dem einzigen Lächeln im ganzen Buch einen Hinweis auf die Möglichkeit von Humanität.
Pascal Regnauld / Roger Seiter: Mord für Mord, B.1: Gila Monster / B.2: Atemstillstand
Schreiber & Leser
Pascal Regnauld zeichnet Hintergründe für Sokals Inspector Canardo. Mit Mord für Mord hat er nun, nach einem Szenario von Roger Seiter, seine erste eigenständige, zweibändige Arbeit vorgelegt, und man darf sagen: das wurde auch Zeit. Ganz im Geiste des amerikanischen Film Noir (und gespickt mit Anspielungen) entwirft Seiter eine klassische, in den 1960er Jahren angesiedelte Gangstergeschichte um einen Mann, der seine Identität sucht. Wenn er sie schließlich findet, wird es zum Überleben zu spät sein. Das ist solide erzählt und macht Spaß zu lesen. Aber das wirkliche Fest sind Regnaulds Zeichnungen, die weder farbig sind, noch schwarz-weiß, die Figuren im Stil des Semifunny vor Art-Déco-Hintergründe setzen. Wenn Regnauld schwarz-weiß betont, mischt er zugleich blau ein und spielt mit der Palette möglicher Farbtonabstufungen, um seinen Zeichnungen trotz weitgehender Unfarbigkeit eine hohe Kontrastdichte zu geben; dasselbe kann er auch mit Sepia. Nur das Blut tropft rot ins Bild. Seinen Figuren gibt er häufig weiße Konturlinien, die Gegenstände haben oft gar keine. Selten hat man einen so eleganten Comic gesehen.
Nury / Brüno: Tyler Cross, Bd.3: Miami
Carlsen
Seit 2016 erscheint Tyler Cross von Fabien Nury und Brüno im Carlsen Verlag; die Alben haben jeweils einen Umfang von um die 90 Seiten. 2018 ist mit Miami der dritte Band erschienen. Nury entwirft kompromisslos harte Geschichten, manchmal verwickelt, immer spannend und immer konsequent genregerecht. Wenn hier Klischees Verwendung finden, dann nur weil die Serie auch eine Hommage ist (ohne deshalb im mindesten ironisch zu werden). Tyler Cross ist ein Killer, der sehr professionell ist. Auch wenn er regelmäßig in Probleme schlittert, helfen ihm sein kühler Kopf und seine hinreichend rudimentär ausgeprägte Menschlichkeit am Ende immer, mit diesen auch klarzukommen. Brünos Zeichnungen sind, obwohl oberflächlich betrachtet ungemein konkret, extrem suggestiv und nur schwer einer Schule zuzuordnen. Alles ist über die Maßen stilisiert und flächig gehalten. Letztlich bleibt immer nur das Nötigste im Bild. Die Kolorierung von Laurence Croix greift dieses Prinzip konsequent auf und arbeitet ohne Abstufungen in einem monochromen Nebeneinander. So entfaltet sich eine extrem dichte Atmosphäre, die den Comic durchgängig trägt. Atemlos hechtet man als Leser durch die Bände und will gleich noch einmal oder mehr lesen.
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Robin-M. Aust
Literaturwissenschaftler, Heinrich Heine Universität Düsseldorf
Jakob Hinrichs: Der Trinker, nach Hans Fallada
Aufbau
Die Geschichte von Falladas Der Trinker (1944) ist an sich schnell erzählt: ein biederer Kaufmann gerät in die Alkoholabhängigkeit, verliert den bürgerlichen Halt und zerstört so sukzessive sein Leben. Soweit, so gut. Hinrichs kombiniert in Der Trinker diese fiktionale Geschichte mit Falladas eigener Biographie. Der Schriftsteller selbst agierte in seiner eigenen Alkohol- und Morphiumsucht vielleicht noch selbstzerstörerischer als der Protagonist seines Trinkers, versucht, seine Frau umzubringen und landet im Gefängnis. Hinrichs kombiniert die eigentlich simple Trinker-Erzählung mit Details aus anderen Erzählungen Falladas, aber auch biographischen Fetzen, Briefen zu einem Portraits eines Künstlers, der an seiner eigenen Existenz – grundlos? – scheitert. Wie auch schon bei Hinrichs vielleicht noch ein Stück dichteren Traumnovelle (nach Arthur Schnitzlers Erzählung von 1926) begeistern natürlich auch in Der Trinker die überbordend bunten, gleichzeitig tristen Bilder, die mal surreale-assoziativ, teils rauschhaft-ungreifbar, immer ungemein detailverliebt und anspielungsreich daherkommen.
Isabel Kreitz (Hrsg.) u.a.: Die Unheimlichen (Reihe)
Carlsen
Eine Leseempfehlung, diesmal nicht unbedingt für individuelle Comics, sondern für eine neue Reihe: Die Unheimlichen erscheint bei Carlsen seit 2018 unter der Regie von Isabel Kreitz (Haarmann, Pünktchen und Anton, Die Entdeckung der Currywurst) und bringt unterschiedliche namhafte deutsche Zeichner_innen und klassische Gruselstoffe der Literaturwelt zusammen – ein Konzept, das bei mir natürlich auf Gefallen stößt und bisher zu einer Handvoll interessant-skurriler Adaptionen geführt hat. Bisher gezeichnet haben u.a. Nicolas Mahler (Der Fremde! nach Elfriede Jelinek) und Barbara Yelin (Das Wassergespenst von Harrowby Hall nach John Kendrick Bangs); für 2019 angekündigt ist Unterm Birnbaum nach Theodor Fontane, diesmal gezeichnet von Birgit Weyhe. Es bleibt, gespannt abzuwarten, welche Stoffe und Zeichner Isabel Kreitz noch für dieses Projekt zusammenführen kann.
Nicolas Mahler: Das Ritual
Reprodukt
Auch 2018 war für Nicolas Mahler produktiv: Nach dem Re-Release seiner pseudo-autobiographischen Comics unter dem Titel Die Goldgruber-Chroniken,der gerade erwähnten Jelinek-Adaption, diversen Cartoon-Bänden, mehreren Lyriksammlungen und natürlich Literaturadaptionen erscheint mit Das Ritual mal wieder eine neue Erzählung von Mahler. Die kommt diesmal schon fast ungewohnt bunt daher – und es passiert für Mahler-Verhältnisse fast schon ungewöhnlich viel. Ausgangspunkt dieser Erzählung ist der japanische SFX-Pionier Eiji Tsuburaya, bekannt für die Godzilla-Filme – oder besser: für die in ihnen auftretenden Gummimonster. Mahler zeichnet in Das Ritual ein einfühlsames Portrait einer als Trash belächelten Kunst und der dahinterstehenden Künstler, das als Mahler-Comic gewohnt tragisch, komisch und selbstreflexiv daherkommt.
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Tillmann Courth
Comicjournalist und Blogger (COMIXENE, Comicoskop, tillmanncourth.de)
Mikael Ross: Der Umfall
avant
Beachtliche Graphic Novel über Menschen mit ‚Behinderung‘. Die jedoch nie als solche vorgeführt, geschweige denn als solche charakterisiert werden.
Noel Stock ist ein junger Mann, der nicht alleine leben kann. Als seine Mutter von einem Schlaganfall getroffen ins Koma fällt, kippt auch Noels Leben aus seiner Verankerung. Man bringt ihn zur Betreuung nach Neuerkerode, eine Dorfgemeinschaft aus Menschen mit und ohne Behinderung. Wie sich Noel hier in ein neues Leben finden muss und welche Kontakte er knüpft, davon erzählt Mikael Ross in Der Umfall. Ein Comic über Verluste, über Flüchtigkeit, Vergänglichkeit – und gerade dadurch auch über den Zauber des Augenblicks, die Macht der Fantasie und die Notwendigkeit menschlicher Fürsorge.
Am Ende sind einem Noel und seine schrägen Freunde (der ordnungsneurotische Valentin, die übergriffige Alice, der gutmütige Betreuer Robert, die lebenslustige Penelope) ans Herz gewachsen. Ein spezieller, leiser Humor sowie der karikatureske Strich runden DER UMFALL zu einer Sternstunde der ‚Graphic Medicine‘ ab. Besser kann man Menschen mit ‚Behinderung‘ nicht ins Licht rücken.
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Barbara „Eggy“ Eggert
Kunsthistorikerin und Comicautorin, ab Februar an der Kunstuniversität Linz
Jen Wang: The Prince and the Dressmaker
First Second
Eine warmherzig-humorvolle gender-bender Story mit überraschendem Ende, aus meiner Sicht geeignet für Menschen ab 10 Jahren. Die märchenhafte Geschichte im historischen Gewand verwebt zeitlose Themen wie Freundschaft, Liebe, Mode – und vor allem die Herausforderung, zu sich selbst zu stehen, auch wenn dies einen Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen bedeutet. Ein panelsprengendes Farb- und Formvergnügen – was das Cover nicht
unbedingt erwarten liess… Das Buch wurde vom Cartoon Art Museum San Francisco von Februar bis August 2018 im „Emerging Artist Showcase“ gefeatured.
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Ole Frahm
Literaturwissenschaftler, Arbeitsstelle für Graphische Literatur (ArGL) Hamburg
Paul Karasik, Mark Newgarden: How to Read Nancy. The Elements of Comics in Three Easy Panels.
Fantagraphic Books
1998, im Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 51, veröffentlichten Martin tom Dieck und Jens Balzer Variationen von Mark Newgarden über Ernie Bushmillers Nancy. Damals hieß es schon, meine ich, er arbeite an etwas Größerem über den Strip. Nun, läppische 19 Jahre später hat der Zeichner mit Paul Karasik (der vor wiederum zehn Jahren die Arbeit von Fletcher Hanks wiederveröffentlicht hat) eine wunderbare Würdigung des Strips vorgenommen, indem sie einen Strip der Serie mit drei Panels vom 8. August 1959 in seine 44 Bestandteile zerlegen. Vom Strip ist jeweils nur der Teil zu sehen: Nr. 28 zeigt die Blickbeziehungen, Nr. 35 die Gestaltung der Sprechblasen, Nr. 40 die Typographie des Copyrightvermerks und Nr. 43 diskutiert das vierte Panel und zeigt: eine weiße Seite. Ich kann mir keine bessere Literatur über Comics vorstellen.
Neal Adams, Rafael Medoff, Craig Yoe: We Spoke Out. Comic Books and the Holocaust.
IDW Publishing
Inzwischen ist Stan Lee gestorben, aber sein Vorwort zu diesem Band wird er noch gelesen haben. Dort behauptet er, die Lektüre der Comic-Geschichten hätten die jungen Menschen dazu erzogen, dass der Holocaust sich nicht wiederholen dürfe. Ob die Geschichten, die hier zusammengesucht wurden, diesen Anspruch erfüllen, sollte jede und jeder selbst überprüfen. Manche berühren den Holocaust eher indirekt, wie die Batman-Story „Night of the Reaper“, andere gehen recht frei mit historischen Tatbeständen um, aber gerade fiktionale Geschichten wie „Thou Shalt not Kill“, in der eine Steinstatue zum Golem erwacht, um sich an den marodierenden Wehrmachtssoldaten zu rächen, sind es allemal wert, wieder gelesen oder überhaupt entdeckt zu werden: „The golem walks again!“
Ari Folman, David Polonsky: Das Tagebuch der Anne Frank.
Fischer
Manche der Bildfindungen, die Adams, Medoff und Yoe versammelt haben, lassen sich in der graphischen Version von Anne Franks Tagebuch wiederfinden. Viele andere wären zu ergänzen und erzeugen einen interessanten Eklektizismus, wenngleich der nicht immer unproblematisch ist. Ich bin gespannt, wie sich dieser Band in zwanzig Jahren liest und wie er dann bewertet werden wird. Das erste Jahr hat diese kluge Aktualsierung des Tagebuchtextes gut überstanden.
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Dietrich Grünewald
Kunstdidaktiker, Emeritus Universität Koblenz-Landau, ehem. 1. Vorsitzender der ComFor
Mikael Ross: Der Umfall.
avant
Hervorgegangen aus der privaten Initiative Pastor Gustav Stutzers 1868, hat sich die Evangelische Stiftung Neuerkenrode in Niedersachsen zu einem verzweigten sozialwirtschaftlichen Unternehmen entwickelt, das Menschen mit Beeinträchtigungen ein lebenswertes Zuhause bietet. Wenn diese großartige und wichtige Stiftung zum 150jährigen Jubiläum auf die Idee kommt, das mit einem Comic zu feiern – so sagt das viel über ihr liberales Selbstbewusstsein aus, zeigt aber auch, dass Bildgeschichten im kulturellen Bewusstsein unserer Zeit angekommen sind, dass sie akzeptiert werden und als eine wunderbare Möglichkeit der Kommunikation gesehen werden. Der Münchener und Wahlberliner Zeichner Mikael Ross, der mit Nicolas Wouters den gelungenen, spannenden wie nachdenkeswerten Bildroman Totem (avant 2016) geschaffen hat, hat zwei Jahre lang für seine Graphic Novel recherchiert. Der Umfall ist kein Werk sprühender ästhetischer oder dramaturgischer Innovation, aber Ross erzählt solide, gut mitempfindbar, in gelungenen leicht cartoonierten Zeichnungen, die jedes falsches Pathos, jede Form von „gutmeinender Anteilnahme“ ausschließen, die uns aber nahe miterleben, mitärgern, mitfreuen lassen, wenn der geistig behinderte junge Noel plötzlich alleine ist und in Neuerkerode lernt sein Leben zu meistern. Mir gefällt die Bildgeschichte sehr gut, eben weil sie kein Hymnus auf die Stiftung in beweihräuchernder Form ist, sondern völlig unpathetisch, lustig und unterhaltsam eine aufschlussreiche Geschichte erzählt, die sehr viel mehr Empathie wecken kann, als moralisierende Botschaften. Ich wünsche dem Comic viele viele Leser und Leserinnen!
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Linda Heyden
Literaturwissenschaftlerin, Universität Jena
Jeff Lemire, Dustin Nguyen: Descender, The Machine War (B. 6)
Image Comics
Von Jeff Lemire findet sich dieses Jahr vor allem „Black Hammer“ auf den Empfehlungslisten, aber ich möchte anlässlich des letzten Bandes, der dieses Jahr erschien, die Science-Fiction-Serie „Descender“ empfehlen.
Zugegeben beginnt die Geschichte zunächst sehr generisch in einer Zukunft, in der Menschen und Maschinen gegeneinander Krieg führen und der humanoide AI-Junge Tim-21 eine entscheidende Rolle spielt. Doch den Figuren, deren Hintergrundgeschichten und Charaktere sich nach und nach enthüllen, will man von Anfang an folgen. Vor diesen Figurenentwicklungen entspannt sich nebenbei die Geschichte, die dann im sechsten Band ihre größte Wendung nimmt und Lust macht auf die Fortsetzungsserie „Ascender“.
Vor allem aber fesselt vom ersten Cover an die visuelle Umsetzung in den Aquarellen von Dustin Nguyen, die beim Lesen wieder und wieder zum Verweilen einladen. Die Verbindung von SciFi-Genre und Aquarellstil ist ungewöhnlich und erzeugt eine besondere Atmosphäre. Nguyen wechselt immer wieder das Seitenlayout und die Farbpalette, so dass sich ständig neue visuelle Eindrücke bieten. Besonders das Layout mit 4 schmalen Panels, die über die Seitenbreite reichen, sind durch ihre Sequenzierung und Perspektivierung sehenswert. Farblich dominieren in Band 6 schließlich zarte Pastelltöne, in die sich die maschinellen Sprechblasen und Schriften von Steve Wands bei aller visueller Spannung durchaus harmonisch einfügen.
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Elisabeth Klar
Komparatistin, Autorin beim Residenz Verlag
Daniela Schreiter: Schattenspringer (Band 1-3)
Panini
Es wird viel zum Thema Autismus geschrieben, Betroffene hingegen kommen selten selbst zu Wort – schon allein deshalb wäre Daniela Schreiters (aka Fuchskind) Serie Schattenspringer, in der sie von ihrer Kindheit (Band 1) und Jugend (Band 2) als Asperger-Autistin erzählt, eine Empfehlung für alle, die sich mit dem Thema beschäftigen wollen. Fuchskinds Comics sind aber zudem noch abwechslungsreich erzählt und voller Humor, und nutzen das Medium und all seine Möglichkeiten gekonnt, um die eigene Erfahrungsrealität auszudrücken – dabei lässt Fuchskind sich keine Gelegenheit zu geekigen Pop-Kultur-Referenzen entgehen. Bereits in Band 1 erklärt Daniela Schreiter, dass die Erfahrung eine_s einzelnen Autist_in allein niemals Verallgemeinerung auf andere Betroffene zulässt. Umso konsequenter ist es, dass sie in Band 3 schließlich andere Autist_innen zu Wort kommen lässt und deren Lebensgeschichten Raum gibt. Fuchskinds Schattenspringer-Serie ist reflektiert und informativ, regt zum Hinausblicken über den eigenen (neuro-typischen) Tellerrand hinweg an, oder lässt vielleicht ein Wiedererkennen eigener Erfahrungen zu – und es ist auch einfach ein sehr gut gemachter Comic.
Lukas Kummer, Thomas Bernhard: Die Ursache
Residenz
Nach Nicolas Mahlers Adaptationen von Büchern von Thomas Bernhard (Alte Meister, Der Weltverbesserer) hat Lukas Kummer die Herausforderung angenommen, den ersten Teil der Autobiografie von Bernhard, Die Ursache, in das Comic zu übertragen. Dass Lukas Kummer dafür einen anderen Weg als Mahler einschlägt, ist gut, denn auch den zugrundeliegenden Text tragen eine andere Stimmung und ein anderer Anspruch. Lukas Kummer arbeitet mit Rhythmus und Wiederholung, mit dem Text als das Bild teilweise überdeckendes Zeichen, mit Raum und dabei insbesondere Häuserfassaden als Ausdruck der „abtötenden“, erstarrten, nach außen hin abgeschlossenen Stadt Salzburg. Wie im Text selbst gibt es keine direkte Rede, nur Bernhards stetiges Kommentar der auf den Panels abgebildeten Orte und Ereignisse. Der abstrahierte, reduzierte Zeichenstil erschafft gemeinsam mit der Farbwahl (Grau- und Schwarztöne, starke Kontraste) eine harte, kalte, ja unmenschliche Atmosphäre, in der die Menschen den Dingen untergeordnet oder zumindest gleichgestellt sind, und die das Erleben Bernhards in dem Text authentisch widerspiegeln, den_die Leser_in gleichzeitig in das Geschehen und in Bernhards Gedanken hineinziehen, ja, gar nicht mehr loslassen.
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Lukas R.A. Wilde
Medienwissenschaftler, Universität Tübingen
Jeff Lemire und Andrea Sorrentino: Gideon Falls
Image
Während sich im amerikanischen Non-DC/Marvel-Bereich scheinbar das ganze Jahr nur um Jeff Lemires Black Hammer gedreht hat, wurde ich durch ein regelrechtes Image-Revival geschleift: Skottie Youngs zauberhaftes Middlewest, Ed Brubakers und Sean Phillips routiniertes My Heroes Have Always Been Junkies, Ann Nocentis und David Ajas verstörendes The Seeds, Jody Leheups und Nathan Fox‘ wahnwitziges The Weatherman, die schwindelerregende Worldbuilding-Prämisse in Ryan Cadys und Andrea Muttis Infinite Dark, selbst Joe Hendersons und Lee Garbetts hanebüchend unterhaltsames Skywards… Im Sommer machte indes ein Einkauf von TV-Rechten Schlagzeilen, der bereits vor dem Erscheinen der ersten Comic-Ausgabe unter Dach und Fach war: Ein anderer neuer Wurf von Lemire: Gideon Falls. Eine Twin Peaks-artige Horrorstory in einer Midwest-Kleinstadt, aus der man nach dem Lesen gar nicht mehr herausfindet; gefallene Priester, Geheimbünde, Schizophrenie… Warum ich bei dieser Adaptation trotzdem skeptisch bleibe: Angesichts der zuvor genannten Konkurrenz hätten es die soliden Gruseleien niemals ohne Zeichnerin Andrea Sorrentino an die Spitze meiner Liste geschafft. Gemeint sind noch nicht mal ihre grisselig-pseudofotografischen Bilder, sondern das schwindelerregende Panel-Layout. Mehrmals pro Ausgabe finden sich formale Experimente, wie man sie sonst höchstens bei J.H. Williams III gesehen hat; zersplitterte, gefaltete, zu Mosaiken zusammengesetzte Panel-Geflechte, die dennoch ganz im Dienst erzählerischer Verunsicherung stehen. Gideon Falls per Handy auf ComiXology-App zu lesen ist, wie einen Kinofilm ohne Ton zu schauen – allein wegen dieser Erkenntnis ist jede neue Ausgabe ein kleines Juwel!
Steven Olando und Garry Brown: CRUDE
Image
Nachdem meine vorige Auflistung an Empfehlungen eher interessante Titel enthielt, als dass man ihre nachhaltige Relevanz bereits treffsicher einschätzen könnte, gibt es für Steven Olandos und Garry Browns CRUDE keinerlei Rückhalte. Die Autoren entwerfen hier eine Orwell‘sche Sozialallegorie, die tief in ein Fass Frank Miller getunkt worden ist, um dabei alles zu zertrümmern, was an Frank Miller schon lange toxisch und reaktionär geworden ist. Eine russische Arbeiterkolonie aus Raffinerien und industriellen Niederwelten wird uns als Utopie verkauft, um endlich in Freiheit leben und zu lieben zu dürfen. Darum herum ist eine kapitalistische Maschine errichtet, die den Traum dieser Freiheit in harten Zahlen ausbeutet. Im Inneren dieser erschreckend gegenwartsnahen Blade Runner-Welt prügelt sich eine scheinbare Hard Boiled-Karikatur durch die Gassen und Kasernen, um den Tod seines Sohnes zu rächen, der selbst unerhörte Angst vor ihm und seiner elenden Intoleranz hatte – die es vielleicht nie gab, wenn man mal angefangen hätte, miteinander zu reden. Der alte Bastard bricht Knochen und zersplittert Schädel um dabei – auf eine unerklärlich anrührende Weise – das Genre in den Dienst von Liebe und Toleranz zu prügeln, ohne dabei je seine Regeln zu verlassen.
Magdalene Visaggio und Sonny Liew: Eternity Girl
DC’s Young Animal
Soviel zum Thema Image, doch ich muss auch sagen: ich habe DCs Vertigo-Imprint vermisst, insbesondere die schrägen, weirden Stories der ersten Phase des Labels! Nun steht zwar ein großer „DC Vertigo“-Relaunch an, die ersten Titel lesen sich auch ganz hervorragend (Border Town und American Carnage) – aber doch eher wie weitere neue Image-Comics. Indes hat parallel DC’s Young Animal-Label weiter Fahrt aufgenommen, und nun, nach dem DCU-Crossover „Milk Wars“ in Phase II, geht die Formal auch langsam richtig auf. Insbesondere von Magdalene Visaggios und Sonny Liews Miniserie Eternity Girl war ich schwer begeistert, die genau den sweet spot zwischen identitätsforschender psychologischer Erzählung, high concept-Superhero-Wahnsinn in Jack Kirby-Dimensionen und Genre- und Medienbespiegelungen umkreist. Ein wilder Ritt wie bei Grant Morrisons Frühwerken zu Zeiten von Doom Patrol oder Flex Mentallo: Visaggios erzählt von Caroline Sharp, einer manisch depressiven Super-Agentin in Zwangsbeurlaubung, die entweder unsterblich ist oder in einem grässlichen Kreislauf aus ewigen Wiedergeburten feststeckt. In verschachtelten, sich gegenseitig metaphorisierenden Erzähl- und Realitätsebenen taumelt Sharp durch eine kosmische Odyssee, die sich auf den erlösenden Tod zubewegt, dabei aber das gesamte Universum in die Auslöschung zu reißen droht. Deutlich zu weird, um es je in einen Kanon – oder in eine TV-Adaption – zu schaffen, und genau darum mein Geheimtipp des Jahres!
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