Hier nun der zweite Teil der Leseempfehlungen (der erste Teil findet sich hier) – für genug Lesestoff für die nächsten Wochenenden ist also gesorgt. Wer auf Empfehlungen früherer Jahre zurückblicken möchte, findet diese hier.
Wir bedanken uns sehr herzlich für alle Einsendungen und wünschen hoffentlich entspanntes Lesevergnügen! Und im Sinne von alle Jahre wieder, würden wir uns auch im Dezember 2022 wieder sehr über Empfehlungen freuen!
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Hanspeter Reiter
Ulrich Schnakenberg, Wochenschau Geschichte: Geschichte in Karikaturen 1-3
„Karikaturen als Quelle“ sind hier versammelt, beginnend mit I „1945 bis heute“. Bestens aufbereitet, findet Nutzer den Cartoon jeweils auf der rechten einer Doppel-Seite, links dazu die didaktisch-methodischen Hinweise, sorgsam strukturiert, den meist erforderlichen Kontext erschließend und einen Deutungs-Vorschlag bietend. Dahin wird Leser/Lehrer/Moderator geführt, etwa zu „Tücken und Fallstricke der Karikaturarbeit“ (wie wirken Cartoons?), Einsatzmöglichkeiten und Auswahlkriterien der vorgelegten Karikaturen. Als Kopier-Vorlage folgen die Arbeitsschritte plus das (Blanko-)Analyseschema, dann Anregungen für Aufgaben. So kann Geschichts-Unterricht quasi lebendig(er) werden! Auch dem Nutzer mit persönlichem Interesse an Cartoons ist hier reiche Fülle geboten, Übergänge zum Comic inklusive, siehe etwa „Tagebuchblätter aus Vietnam“ (S. 32f.), in „Panels“ von 1939 bis 1965 führend… Weitere comicesk-sequenzielle Folgen finden sich z.B. S. 88f. (Karikaturen-Streit!) und 90f. „China – die Supermacht der Zukunft“, wieder als chronologische Entwicklung. „Das Buch präsentiert eine frische, unverbrauchte Auswahl von 50 internationalen Karikaturen der Jahre 1945 bis heute – von der Teilung Deutschlands über den Ost-West-Konflikt bis zu den umstrittenen „Mohammed-Karikaturen“ und zur EU-Verfassung. II 1900 bis 1945 – vom Imperialismus über die Weltkriege bis zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte. III 1800-190 in 4c: Neben diversen Cartoons in Farbe wird diese auch für die didaktischen Hinweise genutzt.
Quino, Carlsen: Mafalda
Da war mir bis dato aber was entgangen! Jedenfalls ist diese Figur ziemlich neu für mich – und ein Sammelband dieser Art besonders gut geeignet, derlei kennen zu lernen: Die Vielfalt wie auch die Entwicklung (inhaltlich der Charaktere wie auch zeichnerisch des Künstlers). Ja, diese 200 Seiten geballte Mafalda-Strips bieten ein Füllhorn – und zwar eines, das mehrfach zu genießen ist. Denn philosophische wie gesellschaftskritische Dialoge sind zugleich Spaß und nachdenklich Machend, unterhaltsam wie informativ: „Mafalda ist eine liebenswerte Nervensäge, denn sie ist ihren Eltern in vielem voraus: Sie tritt schon früh für Weltfrieden, Demokratie und Frauenrechte ein. Der Comic wurde 2014 mit dem Prinz-von Asturien-Preis (dem „spanischen Nobelpreis“) ausgezeichnet, weil er auf amüsante Weise „scharfsinnige Botschaften“ von „universeller Bedeutung“ transportiert.“ Manches mag an Figuren wie die der Peanuts erinnern oder auch Pogo. Strikt in Schwarzweiß (Zeitungs-Strips) mit variablem Layout (von eins bis zu maximal acht Paneln für eine Story, wenn ich richtig „mitgezählt“ habe). Für diesen wertigen Sammelband im Überformat, fest gebunden mit Fadenheftung und Leseband, sind die sorgsam ausgewählten Geschichten thematisch gereiht – alles mit viel Charme, Augenzwinkern und schon mal starke Äußerungen, durchaus im Sinnen von „Kindermund tut Wahrheit kund“ – und „dennoch“ immer liebenswert wie liebenswürdig…
Susanne Kuhlendahl, Knesebeck: Virginia Woolf – die Comic-Biografie
Ein durchaus eigener Stil zeichnet diese Graphic Novel aus, in mehrfacher Hinsicht: Da sind die flächigen Wasserfarben, zart-pastellig, wohl auch als Anklang an die Schreibe der biografierten Schriftstellerin. Davon abweichend ihre depressiven Phasen in Schwarz- und Grautönen. Die unterschiedlichen Schriftarten, um dreierlei zu differenzieren: Erzähler in Begleit-Texten (Gemeine), Zitate aus Woolfs Büchern (Versalien) und eher zurückhaltend Dialoge (Versalien in Sprechblasen). Die Panels sind freigestellt, auf Rahmen ist also verzichtet – was zudem im abwechslungsreichen Layout ein leichtes Ambiente fürs Betrachten ergibt… Und wie ist´s mit dem Übertragen des Literarischen ins Zeichnerische? „Das bewegte Leben der Autorin von Orlando, Mrs Dalloway und Ein Zimmer für sich alleine, erstmals umgesetzt als Graphic Novel: Auf feinsinnige Weise zeichnet diese grafische Biografie von Virginia Woolf ein detailliertes Bild einer der literarischen Größen des 20. Jahrhunderts und zeigt, wie eng ihr Leben mit dem Schreiben verwoben war.“ Das gelingt exzellent auch deshalb, weil „Alltag“ gleich mit Projekten abwechselt und eben Text-Zitate die entsprechende Transformation belegen. Konkret spiegelt sich das hier in ihrer Bisexualität, etwa der langjährigen Beziehung zu Vita in ständigem Auf und Ab.
Annette Köhn, Jaja: Verlagswesen.
Die (sic!) gibt´s reichlich in dieser Comic-Story von mehr als 130 Seiten, als Graphic Novel vierfarbig, großformatig, bibliophil gebunden. Und sie kommentieren reichlich, schauen der Künstlerin über die Schulter, soweit das von unten möglich ist: Damit nehmen sie eine Art begleitende Erzähler-Rolle ein, feine Idee… Wie so manch andere: Die Perspektive „hin zu den Lesern“ einnehmen – das Umfeld kennenlernen lassen (Personen siehe S. 4f.) – Zeichner(innen) einzubeziehen – alle Bereiche dieses (und damit „eines“) Verlages erleben zu lassen! Fein, zum 10.: „Anhand eines Tages im Februar 2020 erzählt Annettes Alter Ego, wie alles so beim Jaja Verlag läuft.“ Nebenbei lernt Leser einiges „inside“ – und sei es, dass der Verlagsname bitteschön korrekt mit kleinem „j“ in der Mitte zu schreiben ist, also „Jaja“ statt „JaJa“, was wohl gelegentlich (immer noch) passiert… Wie Falt-Kartons zu falten sind – wieder was gelernt! Oder a bissal selbstkritisch die Rolle einer Praktikantin … Interessant natürlich auch für beruflich fokussierte Augen, von Kollegen und Kolleginnen durchaus auch jenseits von Comic-Verlagen. Wer Comics mag, ist hier bestens bedient: Vielseitiges Layout mit flächigen, meist eher pastelligen Farb-Tönen, wechselnde Dynamik je nach aktuellem Thema, Panels kreativ ausufernd oder stark strukturiert: Künstlerin am Werk, kaum ums Verlegen verlegen!
Janek Scholz
Universität zu Köln (Portugiesisch-Brasilianisches Institut)
André Diniz, DarkSide Books (Brasilien): Revolta da vacina
Mit „Revolta da vacina“ hat der brasilianische Comiczeichner André Diniz etwas geschafft, was viele sicher für unmöglich halten: Er hat in Zeiten allgemeiner Pandemiemüdigkeit einen Impfcomic vorgelegt, den man gerne liest, der mitreißend ist und der uns viel über die heutige Zeit erzählen kann. Indem er auf historische Geschehnisse rekurriert (die Hygienekampagnen Oswaldo Cruz‘ gegen Pocken, Gelbfieber und Beulenpest im Rio de Janeiro des frühen 20. Jahrhunderts), gelingt es Diniz, ein brandaktuelles Thema zu verhandeln, ohne sich in das Fahrwasser derzeitiger Debatten zu bewegen. Der Protagonist Zelito ist ein junger Zeichner mit großen Ambitionen, der nach dem Tod des Bruders vom Vater mit einer Galgenfrist nach Rio geschickt wird: Sechs Monate habe er Zeit, um zum „besten Zeichner der Welt“ zu werden und eine standesgemäße Verlobte zu finden. Ein ambitioniertes Ziel, das den jungen Zelito immer weiter in einen Strudel aus Verzweiflung und Radikalisierung treibt. Es herrscht ein Klima grassierender Aggression und zunehmenden Unzufriedenheit gegenüber den Pandemiemaßnahmen der Regierung, zu denen auch eine allgemeine Impflicht gegen Pocken zählt, das sich schließlich 1904 in der titelgebenden Revolte entlädt. Diese dient auch dem Protagonisten als Ventil, seiner Wut und Verzweiflung endlich Luft zu machen. Ein Comic, der historisch und doch aktuell ist und der aufgrund seiner detailliert ausgearbeiteten Metaebene auch Comicforschenden vielfältige Anknüpfungspunkte liefert: Nicht nur ist der Protagonist Zeichner und reflektiert folglich kontinuierlich die Möglichkeiten, als Zeitungskarikaturist Fuß zu fassen. Darüber hinaus liefert die Publikation auch einen Anhang mit einem Archiv aus vierzig Karikaturen der Zeit. Ein wahrer Schatz und für mich das absolute Comic-Highlight des ausklingenden Jahres 2021.
Lukas R.A. Wilde
Medienwissenschaftler, Universität Tübingen
N.K. Jemisin und Jamal Campell, DC’s Young Animal: Far Sector
Die Verlagsankündigung klang selbst ein bisschen wie Fan Fiction: Mit N.K. Jemisin sollte eine Titanin der ganz großen, konzeptlastigen SciFi-Literatur als Autorin für einen neuen Green Lantern-Titel gewonnen werden. N.K. Jemisin enttäuscht diese Erwartungen nicht und macht etwas komplett Eigenes und Einzigartiges aus den bekannten Prämissen: Mit der neuen Ringträgerin Sojourner Mullein wurde eine faszinierende Figur geschaffen, die in den fernsten Regionen des DC Universums – dem Far Sector – in v.A. politische Abenteuer geworfen wird. 20 Milliarden Bewohner*innen dreier radikal unterschiedlicher Spezies teilen sich hier eine Dyson-Sphäre, in der es dank Emotionsunterdrückungsdrogen seit 500 Jahren zu keinem Gewaltverbrechen mehr kam – bis Lantern Mullein einen grausamen Mord aufklären muss und in einen herrlich illustrierten Malstrom aus Noir-Elementen, Cyberpunk und politischen Intrigen gerät. Ihr eigentliche übermächtiger Ring wurde nicht nur ordentlich gedowngraded – und wird damit wieder spannend; die Konflikte sind ohnehin eher diplomatischer Natur. „Lang lebe Lantern Mullein!“
Devin Grayson und Alitha E. Martinez, Humanoids: OMNI
Und noch eine neue Heldin, auf die man viel zu lange warten musste! Dr. Cecelia Cobbina bringt locker die spannendsten Superkräfte der letzten Jahrzehnte ins Genre ein: Eine neunfache Super-Intelligenz permanent paralleler Denkprozesse, die in einer recht einzigartigen Medienspezifik übersetzt werden: Caption-Boxen unterschiedlicher Farben, die in ständigem Dialog miteinander die Seitenarchitektur durchziehen und den Lesenden unterschiedliche Pfade zwischen logisch-mathematischen, existenziell-philosophischen, empathisch-sozialen, visuell-räumlichen, lingusitisch-semiotischen oder körperlich-kinetischen Kognitionsprozessen anbieten und so einen ständigen, individuell aktualisierbaren „Chor“ erzeugen. Zeichnerin Alitha E. Martinez streut auch noch wunderbare Bildsymboliken und Piktogrammatik mit ein, um Dr. Cobbinas ausufernd komplexes Innenleben auch bildlich zu transkribieren. „What would you do if you could think faster than the speed of light?“
James Tynion IV und Martin Simmonds, Image: Department of Truth
Teils metaphysischer Thriller, teils Crime-Drama, unternehmen James Tynion IV und Martin Simmonds in dieser neuen Serie Spaziergänge in immer tiefere Abgründe altbekannter und hochaktueller Verschwörungstheorien, von der Mondlandung über Flat Earth bis zu Obamas Geburtsurkunden und Pizza Gate – und alles scheint natürlich auf QAnon zuzulaufen…! Tynion IV verdichtet dabei äußerst luzide Erkenntnisse über die mythische Macht dieser Erzählungen zu einem alptraumhaften Gewebe aus Phantastik und Horror, das zu einem guten Teil von Martin Simmonds (nur gelegentlich gegenständlichen) Gemälden und Collagen im Stile Dave McKeans getragen wird, ebenso wie von Aditya Bidikars unwirklichem Lettering. Keine sonderlich leichte Lektüre, und keine sonderlich angenehme, aber vielleicht, erschreckenderweise, eine Serie, die unheimlich viel zum Verständnis des hinter uns liegenden Jahres 2021 beizutragen hat.