Im Rahmen der Jahrestagung der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) wurde am Samstag, dem 1. Oktober, der Träger des Martin Schüwer-Publikationspreises für herausragende Comicforschung 2022 verkündet. Wir gratulieren Dr. Felipe Gómez zu seinem preisgekrönten Aufsatz „Would It Be Possible? Apocalypse and Emancipation in Latin American Graphic Novels“. Der gemeinsam von der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor) und der AG Comicforschung der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) ausgelobte Preis wurde damit zum vierten Mal verliehen. Nähere Informationen zum Preis sowie eine Übersicht vergangener Preisträger_innen findet sich hier.
Laudatio und Begründung der Jury:
Felipe Gómez ist Teaching Professor of Hispanic Studies im Modern Languages Department der Carnegie Mellon University in Pittsburgh, Pennsylvania. Sein preisgekrönter Aufsatz „Would It Be Possible? Apocalypse and Emancipation in Latin American Graphic Novels“ ist 2021 in der Zeitschrift Paradoxa im Themenheft „Comics and/or Graphic Novels“ erschienen.
Der Martin-Schüwer-Preis wird seit 2019 jährlich gemeinsam von der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor) und der AG Comicforschung in der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) ausgelobt. Der Preis fördert Wissenschaftlerinnen, die, unabhängig von ihrem tatsächlichen Alter, noch keine unbefristete akademische Anstellung innehaben. Er soll zur nachhaltigen Sichtbarmachung, Förderung und Vermittlung comicbezogener Forschungsarbeit beitragen. Von Anfang an wurde auch zur Einreichung englischsprachiger Texte aufgerufen, um internationale Einreichungen zu ermöglichen. Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass immer mehr Comicforschende ungeachtet ihrer sprachlichen Erstsozialisierung in Englisch publizieren, um ihre Forschungsergebnisse einer möglichst großen Leserinnenschaft zugänglich zu machen. Gleichzeitig spiegelt diese sprachliche Offenheit die akademische Verortung des 2013 viel zu früh verstorbenen Anglisten und Comicforschers Martin Schüwer wider, an dessen richtungsweisende Verdienste für die Comicforschung der Preis erinnern soll. An der Einreichung von Felipe Gómez aber auch an seinem sonstigen Engagement wird deutlich, dass es ihm, ebenso wie Martin Schüwer, ein wichtiges Anliegen ist, die Comics Studies durch Forschung und Lehre weiterzubringen – dieses Engagement war ein zusätzlicher Beweggrund für die Jury, um Dr. Felipe Gómez den Preis zuzusprechen.
In seinem aktuellen Forschungsprojekt widmet sich Felipe Gómez den Manifestationen von Widerstandsfähigkeit und Durchhaltevermögen in spanischsprachigen Comics, die apokalyptische Szenarien zum Gegenstand haben. Sein Fokus liegt hierbei auf der Analyse der Aspekte race und gender, wie sie in den Reaktionen einer Gemeinschaft und den Überlebensstrategien ihrer Protagonist*innen deutlich werden. Mit seinem Aufsatz „Would it be possible? Apocalypse and Resistance in Latin American Graphic Novels“ trägt der Preisträger zur hochaktuellen Forschung zu Apokalypsen und Postapokalypsen bei. Dabei richtet er den Fokus allerdings auf einen gleich mehrfach marginalisierten und unterrepräsentierten Gegenstand: Erstens sind lateinamerikanische Comics, die hier im Zentrum stehen, in der Comicforschung nach wie vor weniger präsent als die Comictraditionen des globalen Nordens. Zweitens hat sich die Forschung zum Genre Science Fiction, zu dem das Themenspektrum der (Post-)Apokalypse gerechnet werden kann, lange Zeit eurozentrisch orientiert. Erst in jüngster Zeit hat die Forschung zu Science Fiction im globalen Süden an Fahrt aufgenommen. Dabei werden hegemoniale Narrative aufgezeigt und marginalisierte Perspektiven sichtbar gemacht. Zu dieser notwendigen Erweiterung des Blickwinkels – auch unseres Blickwinkels – trägt der preisgekrönte Aufsatz von Felipe Gómez maßgeblich bei.
Er untersucht an Comics aus Argentinien und Mexiko, die zwischen 1957 und 2014 erschienen sind, wie (post-)apokalyptische Szenarien genutzt werden, um soziale Ordnungen neu zu verhandeln. Dies tun sie, indem sie mittels Erzählungen vom Zusammenbruch einer Welt grund-legende Ideen von Modernität, Zivilisation und Fortschritt sowie Konzepte von Nationalität und Identität kritisch beleuchten. Eine zentrale Rolle als Topos des Fortschritts, aber auch von dessen Zusammenbruch und Verfall, spielt der städtische Raum. Auch auf dieser topologischen Ebene erweist sich Felipe Gómez‘ Aufsatz als außerordentlich gewinnbringend – denn wenn es im Kontext von apokalyptischen Fiktionen um ‚die moderne Stadt‘ geht, sind meistens die Metropolen der sogenannten westlichen Welt gemeint.
Felipe Gómezʼ Aufsatz arbeitet gegen dieses oder jenseits dieses hegemonialen Narrativs: So steht in seinem ersten Beispiel, dem wohl bekanntesten argentinischen Comic El Eternauta, die Metropole Buenos Aires im Mittelpunkt des apokalyptischen Szenarios. Am Beispiel von zwei weiteren argentinischen und mexikanischen Comics zeigt Gómez aus der „Peripherie“ des sogenannten westlichen Diskursraums, wie der Zusammenbruch städtischer Gemeinschaften in Folge der Katastrophe mit postkapitalistischen und postkolonialen Narrativen in Verbindung gebracht wird. Dabei arbeitet er nicht nur den Bezug zum hegemonialen Apokalypse-Narrativ heraus, sondern verweist auch auf spezifisch lateinamerikanische Themen mit kolonialgeschichtlicher Tradition, wie den Gegensatz zwischen Zivilisation und Barbarei oder die Verteidigung indigenen Wissens und Glaubens. Das Ergebnis ist ein transnationaler und transhistorischer Vergleich, der in der Comicforschung (noch) zu selten gezogen wird. Der Aufsatz von Felipe Gómez ist für uns ein positives Beispiel für dringend nötige Verschiebungen und Erweiterungen unserer Interessensgebiete.
Wie bereits eingangs angesprochen, hat uns auch das akademische Engagement von Dr. Felipe Gómez dazu bewogen, ihm den Preis zuzusprechen. Als Teaching Professor of Hispanic Studies hat er sich um die didaktische Vermittlung lateinamerikanischer Comics verdient gemacht. Für seine innovative Lehre wurden ihm 2018 gleich mehrere Auszeichnungen verliehen (Carnegie Mellon University’s Teaching Innovation Award, Provost’s Inclusive Teaching Fellowship, Mejor iniciativa formativa desarrollada durante el año 2018 der Premios Humanidades Digitales Hispánicas). Er hat Lehrveranstaltungen konzipiert und umgesetzt, in denen Studierende lernen, für ihre Forschung digitale Ressourcen sinnvoll einzusetzen – u.a. das von Gómez aufgebaute Latin American Comics Archive.
Alle, die je ein digitales Archiv eingerichtet, weiterentwickelt oder zu dessen Pflege beigetragen haben, wissen, mit wieviel Zeitaufwand und Umständen dieser oft undankbare und bisweilen verkannte Dienst an der Forschungscommunity verbunden ist. Immer ist die Erstellung eines solchen Archivs auch eine Investition in die Zukunft eines Fachs und in künftige Forschung. Wir verleihen Dr. Felipe Gómez den diesjährigen Martin Schüwer Preis für seine Auseinandersetzung mit apokalyptischen Szenarien im Comic. Wir tun dies aber auch als Anerkennung seines Engagements für die Zukunft der Comics Studies und als Ermutigung, dieses Engagement fortzusetzen. Auszeichnungen können sowohl das Geleistete honorieren als auch eine Investition in zukünftige Vorhaben sein.
Bekanntgabe des Schüwer-Preises durch Juliane Blank während der GfM-Tagung 2022 in Halle. (Photo credit: Felix Brinker)
Die Jury-Mitglieder für den Martin Schüwer-Preis 2022 waren:
- Juliane Blank
- Barbara M. Eggert
- Kalina Kupczynska
- Joanna Nowotny
- Anne Rüggemeier