Rezension: Dietrich Grünewald (Hg.): Struktur und Geschichte der Comics

Rezension zu: Dietrich Grünewald (Hg.): Struktur und Geschichte der Comics. Bochum / Essen: Christian A. Bachmann 2010. 336 S., zahlr. Ill. € 29,95.

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Fünfeinhalb Jahre sind bereits seit Einrichtung der Gesellschaft für Comicforschung vergangen. Im Februar 2005 in Koblenz gegründet, hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, die Arbeit der vorher meist einzeln arbeitenden Forscher im deutschen Sprachraum zu vernetzen. Und wie ginge das besser als durch regelmäßige Tagungen, auf denen sich die Aktiven treffen und zu übergreifenden Themen austauschen? Beginnend im Herbst 2006, gab es bisher vier große Konferenzen, deren Ergebnisse zwar teilweise im Netz, aber nicht in Buchform zugänglich waren. Das ändert sich nun mit dem von Dietrich Grünewald herausgegebenen Band Struktur und Geschichte der Comics, der gerade im kleinen, aber rührigen Christian A. Bachmann Verlag erschienen ist.

Auf über dreihundert Seiten findet sich hier eine Auswahl aus den drei ersten Tagungen „Forschungsberichte zu Struktur und Geschichte der Comics in Deutschland“ (2006), „Comicforschung als interdisziplinäre Aufgabe“ (2007) und „Der Comic als Gegenstand der Kultur- und Sozialwissenschaften“ (2008), die jeweils an der Universität Koblenz stattfanden. Der etwas vage Titel des Buches lehnt sich, wie man sieht, an die beiden Themen der ersten Tagung an und führt insofern etwas in die Irre, als er suggerieren könnte, hier werde beides restlos abgehandelt. Gemeint ist indessen so etwas wie eine gemeinsame Klammer um die sehr divergenten, aber fast immer hochklassigen Beiträge. Tatsächlich lassen sich mit Struktur und Geschichte zwei Hauptströmungen der Comicforschung erfassen – die eine, semiotisch und erzählanalytisch ausgerichtet, lenkt ihr Augenmerk in der Tat auf die Struktur der Comics, d.h. auf die Art und Weise, wie sie erzählen; die andere beschäftigt sich mit der historischen Dimension von Comics, und das auf doppelte Weise: Zum einen ist damit die Repräsentation von (Zeit-)Geschichte im Comic, zum anderen die Geschichte des Mediums selbst gemeint, inklusive des historischen Kontextes, in dem die einzelnen Comics auftauchen. Beide Herangehensweisen haben ihre Berechtigung; „Struktur und Geschichte der Comics“ zeigt, wie viel Potenzial in der einen wie der anderen steckt. Zugleich dokumentiert der Band aber auch den avancierten Status, den die deutschsprachige Comicforschung in den letzten Jahren gewonnen hat, sowohl im akademischen Bereich als auch außerhalb. Hier werden nicht einfach positivistisch Fakten aufeinander gehäuft, hier geht es tatsächlich um Positionsbestimmungen der Comicforschung insgesamt.

Da finden sich Reflexionen über den Comic als Medium wie Dietrich Grünewalds Aufsatz „Das Prinzip Bildgeschichte“, der den Forschungsgegenstand in behutsamer Abgrenzung von Koryphäen wie Will Eisner und Scott McCloud im Kontext eines viel älteren „Erzählens in Bildern“ zu positionieren sucht. Stephan Packard möchte den Comic als eine Art Prüfstein für die Gültigkeit und Reichweite neuerer medienwissenschaftlicher Theorien etablieren. Bernd Dolle-Weinkauff plädiert für eine Neubestimmung des Manga, der viel weniger in einer spezifisch japanischen Tradition der Bilderzählung stehe als oft behauptet, sondern bereits in seiner Frühphase stärker von der Rezeption westlicher Comics geprägt sei als allgemein angenommen. Sein Artikel bildet zugleich das Scharnier zum weitaus größeren Teil des Bandes, der sich mit den ‚historischen‘ Aspekten des Comics beschäftigt – etwa mit britischen Struwwelpeter-Parodien, welche die „Geschichte vom Suppenkaspar“ je nach aktuellem Bedarf auf Wilhelm II. oder Hermann Göring umschreiben (Detlev Gohrbrandt), mit dem Mittelalterbild in Hal Fosters Klassiker Prince Valiant und Hermann Huppens Zyklus Les Tours de Bois-Maury (Hubert Mittler) oder mit der Zensur von nationalsozialistischen Symbolen auf dem deutschen Comic-Markt (Ralf Palandt), die sich bei allen guten Intentionen ins Absurde verkehrt, wenn die Darstellung des Hakenkreuzes in Art Spiegelmans Maus-Comic als Verwendung eines verfassungswidrigen Symbols verfolgt wird.

Das Niveau der Beiträge ist, wie gesagt, fast ausnahmslos hoch. Nur weniges fällt ab, etwa Marianne Krichels Artikel „Erzähltheorie und Comics“, der zwar zeigt, dass sich die narrativen Verfahren von Zeitungsstrips mit den Mitteln einer literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie beschreiben lassen, damit aber wenig Neues vermittelt – zumal nicht recht deutlich wird, warum sie das „am Beispiel von Zeitungscomics des Herald Tribune“ tut. Was sie untersucht, sind nämlich keine entlegenen Serien, sondern allgegenwärtige Calvin-and-Hobbes- und Garfield-Strips, deren medialen Rahmen Krichel nun aber nur ganz am Rande berücksichtigt. Die Strips erscheinen auch nicht nur in der Herald Tribune, sondern weltweit in Hunderten von Tageszeitungen; Krichel zitiert sie aber nicht einmal nach irgendeiner dieser Zeitungen, von der Herald Tribune zu schweigen, sondern nach Albumausgaben, die jeder Onlineversand binnen Tagen ins Haus liefert.

Anderes dagegen ist so gelungen, dass mit einem einzigen Aufsatz ganze Teilbereiche des Comics erhellt werden. So nutzt Rike Bolte die quadratischen Eier in Carl Barks’ Episode Lost in the Andes (1949) zu einem fulminanten Durchgang durch die gesamte Welt des lateinamerikanischen Comics und sein schwieriges Verhältnis zu den amerikanischen Vorbildern, insbesondere zu Disney. Thomas Becker wiederum seziert die aktuelle Comicforschung selbst, die einerseits um die Anerkennung ihres Gegenstandes im Feld der etablierten Künste kämpft, andererseits gerade auf einem rebellischen Standpunkt beharrt, der sich gegen die engen Kanones der Hochkultur wendet.

Selten hat man einen Band gelesen, der so viel zur aktuellen Diskussion in der Comicforschung beiträgt wie Struktur und Geschichte der Comics. Eine lohnende Lektüre für jeden, der sich mit diesem Feld beschäftigt. Wenn die Autoren und der Herausgeber dieses Niveau halten können, darf man auf die nächsten Tagungsbände mehr als gespannt sein.

Stefan Höppner (Freiburg)

In der Rezensionsrubrik der Gesellschaft für Comicforschung wird hier ein Band rezensiert, der aus der Arbeit der Gesellschaft entstanden und über Herausgeber wie Beiträger eng mit ihr verflochten ist. Es sollte ein Gebot der Transparenz sein, in diesem Fall von möglichen Interessenüberlagerungen den Rezensenten kurz vorzustellen.

Dr. Stefan Höppner, Jahrgang 1969, wurde nach einem Studium in der Bundesrepublik, den USA und der Schweiz in Göttingen mit einer Dissertation über das USA-Bild Arno Schmidts promoviert. Seit 2005 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw. Assistent an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; seine Fachgebiete sind Neugermanistik und Komparatistik. 2010 hat er gemeinsam mit einem Kollegen aus den USA eine Tagung über das Thema Transatlantische Prozesse in der deutschsprachigen Popkultur seit 1949 am Freiburger Institute for Advanced Studies veranstaltet. Dr. Höppner ist nicht Mitglied der Gesellschaft für Comicforschung.

(Red.)

Weitere Rezensionen: 1 & 2

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