Tagungsbericht: „Erzählen im Comic. 4. ComFor-Wissenschaftstagung“

Neuer Senatssaal der Universität zu Köln, 6. – 8. November 2009

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Vom 6. bis zum 8. November 2009 fand im Neuen Senatssaal der Universität zu Köln die Tagung „Erzählen im Comic“ statt. Diese vierte Wissenschaftstagung der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor) wurde von Prof. Dr. Otto Brunken und seinen Mitarbeitern der Arbeitsstelle für Leseforschung und Kinder- und Jugendmedien (ALEKI) ausgerichtet. Knapp 80 Interessierte folgten den zwanzig Vorträgen, in denen versucht wurde, sich den narratologischen Eigenheiten der Kunstform Comic zu nähern.

In den letzten Jahren sind Fragen der Erzählforschung immer wieder vereinzelt mit dem Comic in Verbindung gebracht worden. Allerdings fehlt nach wie vor ein breiter Austausch über dieses Thema in der Comicforschung. Ziel der diesjährigen ComFor-Wissenschaftstagung war es daher, etablierte narratologische Überlegungen und aktuelle Fragen der Erzählforschung für die Kunstform des Comics aufzugreifen und so neue erzähltheoretische Felder zu erschließen.

Die Geschichte des Comics ist auch eine vom Geschichtenerzählen. Die Form und die Art und Weise des Erzählens haben sich in der Geschichte des Comics ebenso immer wieder gewandelt wie Inhalte, Themen und Genres. Die Rolle des Erzählens im Comic und die damit einhergehenden Veränderungen sollten im Laufe der Tagung aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden.

Bildwissenschaftlicher Auftakt
Bereits am Vorabend der Tagung kam man zusammen, um sich vom Kunsthistoriker Jens Meinrenken (Berlin) zum Thema „Ahnen des Comicstrips – Sequentielles Erzählen in der Kölner mittelalterlichen Malerei“ durch die Mittelalterabteilung des Wallraf-Richartz Museums Köln führen zu lassen. Den Weg für die Tagung bereitend wurden hier bereits etwa an dem Bild „Der kleine Kalvarienberg“ (1395-1415) des Meisters der heiligenVeronika die Möglichkeiten der raumzeitlichen Wahrnehmung im Einzelbild diskutiert, wenn etwa mehrere Szenen in einem Bild simultan abgebildet werden. Zum Abschluss der Führung wurde der „Kleine Ursula-Zyklus“ (1485-1515) des Meisters der Kölner Ursula-Legende betrachtet. Er war von besonderem Interesse, diente er doch bereits vor zwei Jahren dem Versuch, einen modernen Manga parallel zu einem mittelalterlichen Bilderzyklus zu montieren (vgl. Wallraf-Richartz-Museum – Fondation Corboud (Hrsg.): Pax animae. Der Meister und der Mangaka. Köln 2007.).

Eine kurze Geschichte der Sprechblase
Nachdem die Tagung durch Prof. Brunken mit der Begrüßung aller BeiträgerInnen und TeilnehmerInnen eröffnet wurde, wiesen sowohl der Prodekan der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln, Prof. Dr. Walter Pape, als auch der 1. Vorsitzende der ComFor, Prof. Dr. Dietrich Grünewald (Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz), auf die noch zu leistende Grundlagenforschung im Bereich der Comicologie hin und wünschten alle Anwesenden eine fruchtbare Tagung.

Hieran schloss sich der Eröffnungsvortrag „Sichtbar gerollte Stimmen – Synästhetische Begegnungen der besonderen Art“ von Prof. Dr. Karl Clausberg, Emeritus für Kunst- und Bildwissenschaften an der Universität Lüneburg, an. Ausgehend von der antiken griechischen Vasenmalerei legte Clausberg in seinem sehr eindringlichen und mit ausführlicher Bildunterstützung angereichertem Vortrag dar, das mitnichten davon auszugehen sei, dass ein globaler Zusammenhang zwischen heutigen Sprechblasen und vorantiker Malerei, etwa der Azteken oder Mayas, bestünde. Viel eher sei davon auszugehen, dass im anglo-europäischen Kunstraum eine kontinuierliche Entwicklung stattgefunden habe. Als „synästhetische Beziehung“ sei das gleichzeitige Wahrnehmen von dargestellter Handlung und von Schrift zu verstehen, die einen Sprechakt bezeichne. Die sich aus dieser Doppelwahrnehmung auf verschiedenen Sinnes- bzw. Verstehensebenen ergebenden Ansatzpunkte gelte es für das Verständnis der Comics fruchtbar zu machen.

Handlung in Bildern – Eigenheiten einer Kunstform
Der erste Block von Vorträgen befasste sich allgemein mit Analyse- und Betrachtungsmöglichkeiten von Comics. Der geplante, durchaus provokant zu verstehende, Vortrag „Erzählen Comics?“ von Dr. Stephan Packard (LMU München) musste leider entfallen, aber dennoch bot der Auftakt viel Diskussionsanlass.

Im ersten regulären Vortrag der Tagung setzte sich Jens Meinrenken in seiner „Poetik und Rhetorik des Bildes“ für eine „vielschichtige Betrachtung von Comics“ ein. Seit dem iconic turn würden die Bildwissenschaften zwar vermehrt über die Bedeutung von Bildern in der Gesellschaft nachdenken, jedoch würde dem Comic dabei keine Rolle zukommen. Mit dem amerikanischen Kunsthistoriker William J. T. Mitchell stellte Meinrenken heraus, dass Bilder immer etwas „Gemachtes“ seien und leitete so eine Absage an rein semiotische Theorien ein, die im Comic nur mehr hybride Konstrukte sehen. Bild und Text gingen unter dem Einfluss der Imagination mannigfaltige Verwebungen ein. Eindringlich exemplifizierte Meinrenken diese Überlegungen an Jochen Gerners Comic „TNT en Amérique“ (2002). Zur Verdeutlichung der „Sichtbarkeit und Lesbarkeit von Bild und Text“ übermalte Gerner die erste farbige Ausgabe von Hergés „Tintin en Amérique“ (1964) mit schwarzer Farbe und ließ nunmehr lediglich Piktogramme und Gegenstände durchschimmern. Auf diese Weise werde die von Hergé geschilderte Handlung transformiert und der notwendige eigenständige Akt beim Lesen werde heraufbeschworen, da Gerner seine Leser zwinge, die schwarze Fläche zu durchdringen und die einzelnen Bilder miteinander zu verweben.

Im folgenden Beitrag präsentierte Dr. Martin Schüwer (Köln) in seinem Vortrag „Darstellen und Transzendieren von Handlung im Comic: Sensomotorisches Bild und Zeitbild“ Ergebnisse seiner Gießener Dissertation (vgl. Wie Comics erzählen, 2008). Schüwer entwarf Grundzüge einer kognitivistischen Erzähltheorie des Comics. In Comics sei der Sprachanteil nur ein Kommunikationsteil, das Erzählen erfolge vielmehr vom Bild her. Es handle sich hierbei also um erzählerunabhängiges Erzählen. Schüwer rückte im folgenden die Rezipientenfolge ins Licht, die sich immer in das Schema Affekt – Wahrnehmung – Aktion gliedern lasse. Wie sich diese Erkenntnisse bei der Analyse von Comics verwenden lassen, wurde anhand von Einzelanalysen zum tabulären Seitenaufbau sowie zur transliniearen Beziehung zwischen dem einzelnen Panel, der Sequenz und der gesamten Seite vorgeführt.

Weitere Vorträge befassten sich mit „Comics als interdiskursiven Erzählungen“ (Markus Engelns, Universität Bielefeld) und „Auswirkungen der graphischen Gestaltung auf das Reisemotiv im Comic“ (Magdalena Drywa, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel).

Vielschichtige Analysen – Das Forum der NachwuchswissenschaftlerInnen
Bereits seit der ersten Tagung richtet die ComFor ein Forum für den wissenschaftlichen Nachwuchs aus, in welchem sich DoktorandInnen und StudentInnen unabhängig vom jeweiligen Tagungsthema mit ihren Arbeiten präsentieren können. Dass sich in diesem Jahr dennoch fast ausnahmslos Forumsbeiträge zum Tagungsthema fanden, unterstreicht in besonderer Weise die Dringlichkeit der Tagungsfragen.

Anne Hillenbach, Mitglied des Gießener Graduiertenkollegs „Study of Culture“, analysierte in ihrem Vortrag die Serie „Der Fotograf“ (3 Bde., 2008 – 2009) von Didier Lefèvre, Emmanuel Guibert und Frédéric Lemercier. Ihr Anliegen, war es, die narrativen Möglichkeiten der in die Handlung dieser Comics montierten Photographien herauszustellen. Photographien, die von sich aus bereits den Betrachter dazu drängen, eine Geschichte zum Gezeigten zu ersinnen, ergänzten, so ihre Argumentation, auf sehr eingängliche Weise die narrative Potentiale der Bilder im Comic.

In einem der wenigen linguistisch-narratologischen Ansätze präsentierte Benjamin Uhl (Universität zu Köln) in seinem Vortrag „Zeit- und Raumlinguistik im Comic“ einen Untersuchungsansatz, der nachwies, dass Comics per se nicht auf einen Erzähler angewiesen seien, um Räumlichkeit bzw. Zeitlichkeit zu erzeugen. Durch Panelinhalt und Panelsequenz würden diese implizit vermittelt. Abschließend konnte Uhl zeigen, dass der Comic, im Unterschied zum Roman, nicht auf textimmanente Signalmarkierungen wie etwa das epische Präteritum angewiesen sei, um Fiktionalität zu erzeugen. Dies würde im Comic ausreichend vermittels para- bzw. metatextueller Kontexte geschehen.

Befreiendes Gelächter – Werkanalysen
Der zweite Vortragsblock am Samstagnachmittag hatte historische Entwicklungen sowie einzelne Werkanalysen im Blick. So rief etwa Dr. Bernd Dolle-Weinkauff (Johann Wofgang Goethe-Universität, Frankfurt a. M.) in seinem Beitrag „Heinrich Hoffmann und die Entwicklung der Bildgeschichte im 19. Jahrhundert“ zu einer Auflösung der strikten Grenzen zwischen Comic und Bilderbuch respektive Bildgeschichte auf, was erneut Anlass zu längeren Diskussionen gab.

Kathrin Hahne (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) führte in ihrem Vortrag „Bande Dessinée als Experiment: Die Dekonstruktion linearer Erzählstrukturen bei Marc-Antoine Mathieu“ in die experimentellen Comic-Alben (1990ff.) des Franzosen ein. Der Zeichner dekonstruiere in jedem seiner Bände um die Figur des Julius Corentin Acquefacques einen Aspekt der Bande Desinées. So unterwandere Mathieu etwa traditionelle Zeitabfolgen vollständig und schaffe ein graphisches Pendant zu einer mise en abyme, wenn er den Entstehungsprozess, d. h. die Vorskizzen des Comics, fotografiere und in die Handlung einmontiere. Die Figur sei damit auf einmal sowohl innerhalb der Handlung wie auch außerhalb selbiger präsent. Kausale Erklärungen hierfür würden nicht mehr greifen, die Darstellung stelle einen klaren Logikbruch dar. Zeitpunkte könnten nur noch innerhalb einzelner Sequenzen, in denen sich kurzzeitig Bezugssysteme anböten, bestimmt werden. Aus Mathieus Wunsch heraus, den Horizont der Bande Dessinée zu erweitern, werde deren Komplexität immer wieder erweitert.

Dr. Jens Hobus (HU Berlin) setzte sich in seinem pointierten und vom Publikum mit herzlichem Lachen goutierten Vortrag mit den „Didi und Stulle“-Comics des enfant terrible der Berliner Comiclandschaft, FIL, auseinander. Die „Figurationen des Komischen“ seien ein typisches Werkmerkmal von FILs Comics. Da diese zumeist dialogisch inszeniert seien, würden klassische narratologische Termini hier nicht greifen. Gegenüber der Erzählperspektive sei daher dem Begriff der Figuration der Vorrang zu geben, da ein Erzähler bei „Didi und Stulle“ zumeist nicht vorhanden sei. Weiteres Augenmerk sei in FILs Comics besonders auf die Vielzahl intertextueller Verweise zu legen, welche die Geschichten besonders im Zitieren und in der Reflektion aktuellen (Pop-)Kulturgeschehens aufwiesen.

Strukturelemente des Comic
Den Abschluss bildeten Sonntagvormittag drei Vorträge, in welchen nochmals spezielle Gesichtspunkte des Comic untersucht wurden. So machten etwa Dr. Michel de Dobbler und Anouk Dubois (beide Universität Gent, Belgien) Michael Bachtins Begriff des Chronotopos für die Analyse historischer Kriegsereignisse in Comics fruchtbar. So sei insbesondere der Chronotopos des Kriegsrates eine narratologische Möglichkeit, vollständig auf Blocktexte zu verzichten.

Dr. Jolanta Knieja (Marie-Curie-Sk?odowska-Universität Lublin, Polen) schlug in ihrem Vortrag „Die Cluster-Struktur des Comics – ein Weg zur Bestimmung des Textmusters“ vor, den Begriff „Comic-Text“, anstelle von lediglich „Comic“ zu etablieren. Texte seien in sich abgeschlossene kommunikative Einheiten mit einer primären Unterhaltungsfunktion. Vorteil dieses kommunikativen Ansatzes sei die Möglichkeit einer eindeutigen Abgrenzung des Comics von strukturell ähnlichen Erscheinungsformen wie etwa Karikaturen, Cartoons, Graffiti oder Textsorten der Werbung. Diese Einteilung würde selbst bei zeitgenössischen experimentellen Comics noch greifen.

Abschließend entwarf Dr. Marco Pellitteri (Università degli Studi di Trento, Italien) in seinem Beitrag „Die fünf Sinne und Synästhesie in Comics“ ein Modell, wieso das Wie? und Warum? beim Comiclesen nicht nur den Sinn des Sehens allein betreffe. Wie auch schon Karl Clausberg zu Beginn der Tagung, forderte Pellitteri zu einer möglichen synästhetischen Betrachtung der Comics auf, die einem Wandel der medialen Rezeption gerechter werde.

Abschluss, Ausblick und Ausklang
In einer gemeinsamen Zusammenschau und einem Ausblick würdigten Prof. Brunken und Prof. Grünewald die Vorträge als grundlegend und zukunftsweisend für die Comicforschung. Die Vielzahl der unterschiedlichen und interdisziplinären Forschungsansätze habe gezeigt, dass die Tagung mit ihren Fragen den richtigen Weg gezeigt habe. Nunmehr müsse es nicht primär um eine Etablierung der Comicforschung an den Hochschulen gehen, sondern um eine Systematisierung derselbigen. Daher wurden auch alle Beiträger eingeladen, ihre Vorträge für einen geplanten Tagungsband einzureichen.

Gewürdigt wurde im Anschluss die aufschlussreiche Vorstellung der Bonner Online-Bibliographie zur Comicforschung (LINK: http://www.germanistik.uni-bonn.de/comicforschung/) durch Dr. Joachim Trinkwitz (Universität Bonn). Gemeinsam mit lediglich einer studentischen Hilfskraft wurde in dreijähriger Arbeit eine umfassende thematisch orientierte Bibliographie erstellt. Der Zugang ist frei und kostenlos und steht somit jeder Comicforscherin/ jedem Comicforscher zur Verfügung.

All diese Entwicklungen lassen darauf schließen, dass sich die Comicforschung in Deutschland anschickt, die Kinderschuhe abzustreifen. Dafür spricht auch, dass die ComFor plant, in den nächsten Jahren ebenfalls eine internationale Tagung auszurichten, zusätzlich zu den Herbsttagungen, von denen die kommende voraussichtlich an der Justus-Liebig-Universität Gießen stattfinden wird.

Für eine Handvoll Comicbegeisterte war aber hiermit die Tagung noch nicht beendet und man begab für einen informellen Abschluss in das Bilderbuchmuseum Burg Wissem in Troisdorf und besichtigte gemeinsam unter der Führung von Bernhard Schmitz, Mitarbeiter des Museum, die Ausstellung „Ein neues Land“ des australischen Bilderbuchkünstlers Shaun Tan. In dessen Illustrationen, die sich in einer Grauzone zwischen klassischem Comic, Bilderbuchgraphik und freier Illustration bewegen, wurde deutlich, dass für die Comicforschung immer neue Untersuchungsgegenstände aufwarten werden.

(Felix Giesa war als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der ALEKI Mitorganisator der Tagung.)

Hinweis: Dieser Bericht erschien in veränderter Form zuerst im aktuellen Jahrbuch Medien im Deutschunterricht mit dem Themenschwerpunkt „Comics und Animationsfilme“ (München: kopaed 2010). Die Redaktion bedankt sich bei den Herausgebern Frau Prof’in Dr. Josting und Herrn Prof. Dr. Maiwald für die Genehmigung einer Veröffentlichung auf den Webseiten der ComFor.

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