Rezension: Graphic Subjects

Chaney, Michael A. (Hg.): Graphic Subjects. Critical Essays On Autobiography and Graphic Novels. (= Wisconsin Studies in Autobiography.) Wisconsin: The University of Wisconsin Press, 2011. 244 Seiten, 26,95 $.

Druckfassung (pdf)

Nicht weniger als 27 Beiträge in vier Kategorien vereint der vorliegende Band zur Erforschung von Autobiographie und Graphic Novels. Dass bei dieser Vielzahl an Einzelbetrachtungen kein unhandlicher Buchklotz herauskam, liegt wohl zuvorderst an der vielversprechenden Vorgehensweise des Herausgebers Michael A. Chaney, der für Graphic Subjects das mittellange wissenschaftliche Essay mit knappen, persönlichen Betrachtungen zu einzelnen Titeln oder Parametern paart (7). Nachdem Chaney in seiner Einleitung (3-9) zuerst die Grundlagen der Autobiographie umrissen hat, kommt er schnell auf die Herausforderungen zu sprechen, die sich der Forschung mit dem Auftauchen von Bildern in Lebensbeschreibungen stellen (4). Gelang es Autobiographien durch das Hinzufügen von Fotographien, ihre Authentizität zu steigern, bewirkt der „exaggerated visual style of the comics“ (ebd.) dagegen eher ein Infragestellen jeglicher autobiographischen Autorität. Chaney stellt fest, dass ein Großteil der meistgelobten Graphic Novels autobiographischer Natur seien (für die im folgenden von einer Vielzahl Autoren der Begriff ‚autographics’ genutzt wird), und macht gleichzeitig für diese im Kontext der Autobiographieforschung ein Forschungsdesiderat aus (6). Das soll Graphic Subjects nun erstmals angehen. Zumindest klingen die Titel der vier Teile sehr vielversprechend. Im ersten Teil finden sich, Art Spiegelmans Einfluss auf sowohl die Graphic Novel als auch auf den autobiographischen Comic entsprechend, Aufsätze über den Autor von Maus. Im zweiten Teil werden Titel des globalen „Autographics“-Markt untersucht, während sich der dritte ausführlich visuellen Lebensberichten von Frauen widmet. Im abschließenden vierten Teil finden sich diverse Analysen US-amerikanischer autobiographischer Comics von Justin Green über Lynda Barry bis Jeffrey Brown.

So vielversprechend gerade der Ansatz einer Mischung unterschiedlicher Zugriffsweisen auf die Auseinandersetzung mit autobiographischen Comics sein mag, er ist auch das größte Risiko des gesamten Sammelbandes. Es zu umschiffen, soviel kann bereits einleitend festgestellt werden, gelang nicht überall. So misslingt etwa der einleitende Aufsatz von Paul John Eakins mit dem pragmatischen Titel „Reading Comics“, in welchem Eakin die eigene Lese(auto)biographie mit seinen Erkenntnissen über Spiegelmans Maus zusammenführt, wenn er feststellt, dass es ihn sehr beeindrucke, wie nah Spiegelman seinem Vater tatsächlich gekommen sei, oder wenn er in den Entwürfen, die auf der CD-Rom von The Complete Maus zugänglich sind, entdeckt, dass sich Spiegelman regelrecht in die Schuhe seines Vaters eingelebt habe (15). Im Grunde zitiert Eakin sich hier jedoch selbst (vgl. „Eye and I: Negotiating Distance in Eye Witness Narrative.“ In: Partial Answers 7.2 (2009), 201-212), und so bleibt lediglich die Erkenntnis, dass die CD-Rom auf aktuellen Computern nicht mehr abgespielt werden könne. Aufschlussreicher und theoretisch fundierter, in ihrer Einleitung gleichwohl ebenfalls autobiographisch, sind die Ausführungen von Marianne Hirsch („Mourning and Postmemory“, 17-44) zur Bedeutung der Familienbilder in Maus im Kontext von „Holocaust photographs“ (19) und von (dies Hirschs Terminus) „postmemory“, also den Erinnerungen einer zweiten Generation. Neben einer Vielzahl gezeichneter Fotographien, die im Verlauf von „Maus“ reproduziert werden, finden sich lediglich drei tatsächliche Fotos. In der genauen Analyse dieser drei Fotographien („ghostly images“) entdeckt Hirsch „at once incomprehensibility and presence, a past that will neither fade away nor be integrated into the present.“ (41)

Die beiden folgenden, ebenfalls Spiegelman gewidmeten Essays erkennen in Breakdowns den gegenwärtigen Endpunkt eines autobiographischen Gesamtprojekts von Art Spiegelman (Erin McGlothlin, 45-50) beziehungsweise begeben sich anhand eben dieses Comics auf die Suche nach ‚Art‘, der sich zu unterschiedlichen Zeiten seiner Karriere auf je unterschiedliche Weise porträtierte (Bella Brodzki, 51-58). Es sind gerade Aphorismen dieser Qualität, bei denen das Konzept des Herausgebers aufgeht.

Im zweiten Teil, „The Global Scope of Autography“, werden so unterschiedliche Arbeiten wie David B.s Die heilige Krankheit, frankobelgische Bandes dessinées oder Naoki Urasawas Manga 20th Century Boy auf autobiographische Strukturen hin untersucht. Es ist besonders diese örtliche Abgrenzung, die in der Einteilung des Bandes irritiert, offenbart sie doch mit dem vierten Teil eine US-amerikanische Zentrierung, die vorher in der Untersuchung feministisch-weiblicher Comics durch eine thematische Gliederung konterkariert wird. Eine solche thematische Gliederung des gesamten Bandes hätte den Zugriff für den Leser wesentlich vereinfacht. So ist man auf den Index angewiesen, der glücklicherweise hervorragend und in seiner Anlage umfassend ist. Der Qualität einzelner Beiträge tut dieses Monitum natürlich keinen Abbruch. Überraschend, zumindest für die Comicforschung hierzulande, dürfte das Untersuchungskorpus von Sidonie Smith sein, das aus „crisis comics“ besteht, welche zumeist von NGOs in Krisengebieten oder Problembereichen vertrieben werden und die Zielgruppen über ihre Rechte aufklären sollen. Namentlich behandelt Smith Comics aus dem UN-Umfeld zu HIV/ AIDS sowie zu Menschenrechten. Ausführlich beschreibt sie, wie dabei tatsächliche Schicksale etwa von Prostituierten als Folie für einen „crisis comic“ dienen (64). Die Zahl der an der Produktion Beteiligten übersteigt dabei bei weitem die übliche Mitarbeiterzahl eines herkömmlichen Superheldencomics: So gehe die ursprünglich intendierte Authentizität der abgebildeten Geschichte wieder verloren. Ein weiteres Problem stelle die globale Distribution solcher Comics dar: Die gezeichneten Menschen entsprächen jeweils nur der zuerst intendierten Ethnie und seien eben keineswegs global repräsentativ. Ausführlich kritisiert Smith im Folgenden, wie sich auf solchem Wege herrschende Regimes reproduzierten. So erhellend und scharfsinnig die Untersuchung ist, man hätte sich doch weitergehende Überlegungen dahingehend gewünscht, inwiefern hier bewusst durch globale Akteure politische Strategien verfolgt werden.

Für den frankophonen Comicbetrieb stellt Jan Baetens fest (76-92), dass man dort im Vergleich zur amerikanischen Graphic Novel großen Nachholbedarf im Bereich der Dokumentation und der Autobiographie habe. Die Autobiographie im Comic oder „Autography“, um im Kontext des Sammelbandes zu sprechen, habe sich eher in Anlehnung an die eigene, „lokale“ Tradition herausgebildet. Im Einfluss von Kunst und Literatur lasse sich auch besser von ‚Autofiktion‘ (Doubrovsky) sprechen, welche bewusst die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion verwische. Um seine Überlegungen zu belegen, unternimmt Baetens im Anschluss ein close reading von Dominiques Goblets Debut Portraits crachés. Neben vielen einfühlsamen Ausführungen ist seine zentrale Erkenntnis, die er überdies als generell für die frankophone Autofiktion im Comic betrachtet, dass sich keine fixierte Identität der autobiographischen Figur finden lasse: Es gelinge keine systematische mediale Zuweisung, wobei der dominante Modus zwischen Auto- und Semiautobiographie changiere (89). Baetens exakten Betrachtungen gegenüber stehen etwa Stephan E. Tabachnicks Überlegungen. Anhand von David B.s Die heilige Krankheit etabliert er – ausgehend von den drei Kategorien der Autobiographie nach William Howarth (rednerisch, dramatisch und poetisch) – eine vierte, die sich durch eine Form der Entdeckung („discovery“) auszeichne. Diese sei gekennzeichnet durch die Unwissenheit des Lesers, der bis zum Ende der Erzählung darüber im unklaren bleibe, wohin er geführt werde. Gemeinsam mit dem erlebenden Ich gelange der Leser von Erkenntnis zu Erkenntnis, um dann ebenso wie die Figur David erst am Ende gewahr zu werden, dass er im Versuch, die Epilepsie des Bruders zu verstehen und zu ändern, diesem letztlich ‚nur‘ so nahe gekommen sei, dass er sich und ihn jeweils akzeptieren könne.

Der dritte Teil des Buches fasst ausnahmslos graphische Lebenserinnerungen von Frauen zusammen. Neben Beiträgen zu Satrapis Persepolis, die sich etwa der kindlichen Zeugenschaft eines Krieges widmen (Leigh Gilmore, 157-163) oder die transnarrativen Strukturen der Verfilmung auswerten (Nima Naghibi, 164-177), stellt Julia Watsons „Autographic Disclosures and Genealogies of Desire in Alison Bechdel’s Fun Home“ den zentralen Aufsatz in diesem Teil dar. In beeindruckender Art und Weise vergleicht sie Zeichnungen von Fotos im Comictext mit den Cartoonfiguren (nach McCloud) des Comictextes. Sie begreift die Zeichnungen der Fotos als Archivdokumente, wohingegen die Cartoons, mit denen man sich im Unterschied zu McClouds Diktum in „Autographics“ nicht identifizieren könne, die Geschichte einer erinnerten und phantasierten Geschichte abbildeten. Aufschlussreich ist für Watson Bechdels Arbeitsweise. Diese hat für alle gezeichneten Posen in Fun Home mehr als tausend Digitalfotos von sich selber in den zu zeigenden Posen erstellt. Die Fotos in Verbindung mit den Archivfotos (von denen man aber auch nicht wisse, ob sie nicht gestellt seien) unterwanderten provokativ existierende Grenzen von sexueller Identität und Gender (134-139). Gerade in der Figur des Vaters gelänge Bechdel so eine Zueigenmachung des väterlichen Körpers in Form einer crossgenerationalen Identifikation (144). Watsons Aufsatz ist ein gelungenes Beispiel für eine fruchtbare interdisziplinäre Analyse eines Comics, die Ergebnisse aus Comic-, Fotographie-, Autobiographie- und Traumaforschung zusammenbringt. Da kann man es als Leser auch verschmerzen, dass sich die Autorin wohl bemüßigt sah, seitenweise Forschungsdesiderata aufzulisten, was der Lektüre mehr als hinderlich wird.

Im mit gut hundert Seiten umfangreichsten Teil „Varieties of the Self“ werden schließlich amerikanische Genrebeispiele besprochen. Hier wird mit Besprechungen von James Kocholkas American Elf (209-226), Justin Greens zentraler ‚Autographic‘-Arbeit Binky Brown Meets the Holy Virgin Mary (227-230) sowie Linda Barrys Comics (282-309 u. 310-313) – bei denen man sich übrigens wundert, warum sie nicht ebenfalls im Teil drei untergebracht wurden – wenig Unbekanntes und kaum Neues beschrieben. Überzeugend ist hingegen etwa Victoria A. Elmwoods Untersuchung, wie in Watchmen durch fiktionale Autobiographien Figurenidentitäten konturiert werden. Namentlich handelt es sich um drei Figuren: Hollis Mason, dessen fiktionale Autobiographie Under the Hood dem Comic in Teilen beigegeben ist, sowie Rorschach und dessen autobiographische Fragmente und schließlich Dr. Manhattan mit seinem Selbstbericht in der ersten Person. In ihrer Gesamtheit wird durch die drei Figuren, so Elmwood, ein starker Grad an Unsicherheit erschaffen (272), was zu einem großen Teil die massenmediale Polyphonie von Watchmen ausmache (273). Unter den Aspekten Gender und Macht führt Elmwood über die Selbstbilder bzw. die öffentlichen Bildprodukte von Ozymandias und Silk Spectre aus, dass es Ozymandias im Unterschied zu Silk Spectre gelinge, über sein öffentliches Bild die Herrschaft zu behalten und sich so in der publizitären Wahrnehmung selbst zu erschaffen. Die Frage nach der Herrschaft der Bilder treibt den bildtheoretischen Diskurs seit einigen Jahren um; dass bisher noch fast keine entsprechenden comicspezifischen Analysen vorliegen, ist überraschend. Elmwoods anregende Lektüre von Watchmen ist hierbei ein wichtiger Schritt.

Die Hoffnung, dass mit Graphic Subjects ein Titel vorliegen werde, der die Autobiographie im Comic, wenn nicht erschöpfend, dann doch zumindest anschlussfähig grundlegend erforscht habe – eine Hoffnung aus der Blickrichtung der deutschsprachigen Comicforschung, wo Sammelbände fast immer einen breiten und alles in den Blick nehmenden Zugriff haben –, war doch wohl etwas zu hoch angesetzt. Auch die von Chaney in seiner Einleitung in Aussicht gestellte Ergänzung des Typs wissenschaftlicher Aufstz um andere Textformen bringt neben einigen wenigen Aperçus kaum anregende selbstreferentielle Betrachtungen. Die hier näher besprochenen Texte vermitteln hoffentlich einen guten Eindruck des Bandes, der in seiner Qualität mehr als guten Durchschnitt im Vergleich mit ähnlichen Anthologien abliefert. Dies umso mehr, wenn man bedenkt, dass in den letzten Jahren im englischsprachigen Raum einige Zeitschriften Schwerpunktausgaben zum Thema vorgelegt haben (Biography 31.1 (2008) und Modern Fiction Studies 52.4 (2006)), die auch reichlich zitiert werden. Eine kleine Anmerkung sei noch zum Apparat gemacht, der im Unterschied zum ansonsten exzellent edierten Buch doch auffällt. Anscheinend gab es keine konkreten Anweisungen zur Zitierweise, und so finden sich unterschiedliche Apparate in jedem Text: entweder nur Endnoten, nur Bibliographie oder beides. Auf jeden Fall hätte dem Band auch eine Gesamtbibliographie nicht geschadet.

So schreiben die einzelnen Beiträge die bisherige Forschung im Bereich „Autographics“ fort mit teilweise neuen, durchaus beachtlichen Ideen, erfüllen die in sie gesetzten Hoffnungen jedoch nicht zur Gänze. Für diejenigen, die in diesem thematischen Feld arbeiten, wird Graphic Subjects dennoch nicht zu umgehen sein.

Felix Giesa (Köln)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert