Workshop-Bericht: Comicforschung, empirisch und digital

Christian A. Bachmann hat am 20. September 2014 an dem Workshop „Empirical Approaches to Comics“ an der Universität Potsdam teilgenommen und einen ausführlichen Tagungsbericht für die ComFor verfasst.


Eine Woche vor der 9. Jahrestagung der Gesellschaft für Comicforschung lud die Forschungsgruppe „Digital and Cognitive Approaches to Graphic Narrative“, vertreten durch Alexander Dunst (Paderborn) und Jochen Laubrock (Potsdam), in die Berliner literaturWERKstatt (Kulturbrauerei) zu einem Workshop über „Empirical Approaches to Comics“. In das avisierte Projekt der Forschungsgruppe „Digital and Cognitive Approaches to Graphic Narrative“ haben Alexander Dunst (Paderborn) und Rita Hartel (Paderborn) eingeführt. Das Vorhaben verbindet prinzipiell zwei Interessensgebiete: die (amerikanistische) Literaturwissenschaft einerseits und die kognitive Psychologie andererseits – und dies ostentativ im Zeichen der Digital Humanities. Ein erstes Ergebnis der erst seit April 2014 laufenden Vorarbeiten stellten Dunst und Hartel in Gestalt eines Browser-basierten WYSIWYG-Editors vor („What You See Is What You Get“, auch als Echtbilddarstellung bekannt), der die lobenswert unkomplizierte und deshalb niederschwellige Kommentierung seitenweise gescannter Comics erlaubt. Als Basis der Kommentierung dient die von John A. Walsh (s.u.) vorgeschlagene Comic Book Markup Language (CBML). Ein Algorithmus erkennt bereits weitgehend automatisch die Panels – Sprechblasen und Figuren können unkompliziert manuell ergänzt werden, automatisierte OCR-Texterkennung für Hand- und Druckschrift ist geplant. Auch onomatopoeitische Elemente sollen damit einbezogen werden können. Selbst die komplexen Seitenlayouts eines Chris Ware lassen sich mit der Software schon jetzt bewältigen. Trotz des geplanten Automatisierungsgrads sind auf dem Weg zu einer umfangreichen Digitalisierung und XML-basierten Erfassung von Comics in einer Datenbank allerdings noch Fragen zu klären: einerseits ist bislang offen, wie das für die geplanten empirischen Studien unerlässlich große Comickorpus effizient zu erstellen ist. Unmittelbar damit verbunden ist andererseits die Frage nach der Wahrung der Urheberrechten der Comicautoren und -verlage. In der anschließenden Diskussion konnten zu diesen Herausforderungen mit Verweisen auf Möglichkeiten des crowd sourcings und auf bereits bestehende kommerzielle Datenbanken wichtige Impulse gegeben werden. Es ist zu begrüßen, dass die Arbeit der Gruppe zu einem frühen Zeitpunkt zur Diskussion gestellt wurde.

Jochen Laubrock (Potsdam) und Sven Hohenstein (Potsdam) präsentierten als Vertreter der Potsdamer Gruppenmmitglieder in Ihrem Beitrag „The Effects of Panel Transitions on the Perception of Time and the Allocation of Attention in Comics: First Results“ den Stand der Kognitionsforschung in Sachen Bild- und Schriftrezeption. Beide sind für die Forschungsgruppe “Digital and Cognitive Approaches to Graphic Narrative“ von elementarer Bedeutung. Anhand Beispielen aus der Forschung zeigte der Vortrag u.a. wie mittels Eye-Tracking-Verfahren Einblicke in die oftmals halb- oder gänzlich unbewussten und in gewissem Maße kulturspezifischen Bewegungen des menschlichen Auges bei der visuellen Rezeption von Informationen gewonnen werden können, und welche Rückschlüsse sie erlauben. Dabei können mit bislang vorläufigen Ergebnissen Scott McClouds theoretischen Überlegungen zu Panelübergängen zumindest in der Tendenz bestätigt werden, insofern der Zeitaufwand für die Verarbeitung von Panelübergängen im Gehirn McClouds Einschätzung von deren Komplexitätsgrad weitgehend entspricht. Laubrock und Hohenstein zeigen aber auch auf, dass es nicht nur bei einzelnen der McCloud’schen Kategorien noch Klärungsbedarf gibt, woraus sich die Notwendigkeit der von der Paderborn-Potsdamer Forschungsgruppe zu leistenden Arbeit ergibt. Leitfragen lauten hier u.a.: Welche Elemente werden bei der Lektüre graphischer Narration mit wie viel Aufmerksamkeit betrachtet, und welchen Effekt hat die Sequentialisierung der Informationen in Einzelbildern bspw. auf die Wahrnehmung von Zeitabläufen?

Die CBML-Datenbank stützt die empirische Forschung, insofern sie zum Beispiel bei mittels Eye-Tracking durchgeführten Studien erlaubt, diejenigen Bereiche einer Comicseite zu identifizieren, die leserseitig besonders viel Aufmerksamkeit erhalten. Werden diese Daten wieder in die Datenbank eingespeist, lässt sich damit die Aufmerksamkeitsverteilung ganzer Comics kartieren und für weitere Forschung zugänglich machen.

An ähnlichen Fragestellungen wie Laubrock und Hohenstein arbeitet Tim J. Smith (London). Smith übertrugin seinem Vortrag über „Transmedia Continuity: The Cognitive Foundations of Visual Storytelling in Comics and Film“ versuchsweise Erkenntnisse aus seiner kognitionswissenschaftlichen Filmforschung auf den Comic. Gemeinsam ist beiden Erzählformen, dass sie sich Sequenzen von bildlichem Material bedienen. Panelübergang und Filmschnitt sieht Smith entsprechend als analog an, ohne jedoch ihre medienspezifischen Unterschiede zu nivellieren (etwa die spatiale Anordnung von Bildern im Comic gegenüber der temporalen Sequenz im Film). Die Aufmerksamkeit der Zuschauer, mithin ihr Blick, ist zwar nicht im Einzelfall vorhersehbar, doch sie ist weit davon entfernt, zufällig verstreut zu sein. Techniken der Aufmerksamkeitssteuerung, die von Film-Praktikern seit den 1910er Jahren entwickelt werden und längst in Konventionen und codifzierte Regeln übergegangen sind, gelingt es beispielsweise, Schnitte im gewissen Maße ‚unsichtbar‘ zu machen. Es lässt sich statistisch zeigen, dass Zuschauer bei gelungemen continuity editing bestimmte Schnitte nicht registrieren. Für die Zuschauer leicht zu verstehen und daher leicht auszublenden sind Cuts u.a. dann, wenn sie sich an der Richtung von Handlungen orientieren, wobei die Bildränder eine evidente Rolle spielen: Verlässt eine Figur eine Szene am linken Bildrand, sollte sie das Bild in der nächsten Szene vom rechten Rand aus betreten (Smith illustrierte dies sehr schön mit Beispielen aus Buster Keatons Neighbors, 1920, youtub). Hier schließen sich für Smith Frage danach an, welche Rolle Bildränder im Comic spielen und wie Aufmerksamkeit von unbewegten Bildern im Vergleich zum filmischen Bewegtbild des Films gesteuert wird.

Neil Cohn (San Diego) hat in seiner 2013 erschienenen Monographie The Visual Language of Comics, in zahlreichen Aufsatzpublikationen, und nicht zuletzt mit seiner Website Visual Language Lab (www.visuallanguagelab.com) gezeigt, welchen Nutzen die Erforschung der neurokognitiven Vorgänge der Comic-Lektüre haben kann. Cohn geht von einer ‚visuellen Grammatik‘ aus, die er unter Rückgriff auf etablierte Verfahren und bekannte Reaktionen des Gehirns auf bestimmte Sorten von Stimuli überprüft. Cohn setzt dazu u.a. auf die Elektroenzephalographie (EEG), die auf so genannte ereigniskorrelierter Potentiale zugreift, anhand derer sich Aussagen über Verstehensprozesse im Gehirn machen lassen. Seine Arbeit richtet sich nicht im engeren Sinne auf Comics, sondern auf übergeordnete Phänomene des Erzählens mit Bildern, namentlich kulturspezifischen ‚Bildsprachen‘, deren sich Comics und andere Bildnarrationen bedienen. Cohn modelliert diese Sprachen analog zu Modellen von Verbalsprachen, wie sie aus der Linguistik vertraut sind. Er hat mehrere Funktionen identifiziert, die Bilder in einer narrativen Sequenz haben können (initial, peak usw.). Die Bilder sind wiederum zu Phrasen und Spannungsbögen verbunden, die er anhand von Baumdiagrammen abbildet. Aus den Ergebnissen der empirischen Studien leitet Cohn neben anderem ab, dass McClouds Panel-Übergänge nicht ausreichen, um die neurophysiologischen Prozesse der Rezeption von Comics hinreichend zu erklären. Es wurde durchaus Kritik an Cohns Modell in Stellung gebracht, u.a. daran, dass es Seitenlayouts ausblendet, weil Cohn sie als bestenfalls sekundär einstuft. Dennoch zeigt seine Arbeit, welches Potential kognitionswissenschaftliche Forschung für die Comicforschung birgt, die sich bei der Beschreibung der Funktionsweisen von Comics bislang häufig auf die Intuition und den scharfen Verstand einzelner Forscher verlässt.

Karin Kukkonen (Turku) rekurrierte in ihrem Vortrag „Between Armchair and Laboratory: The Cognitive Study of Comics“ auf einen rezent publizierten Artikel (in Stein/Thon (Hg.): From Comic Strip to Graphic Novels. Berlin 2013), in dem sie ihren Zugang zu Comics über die kognitionswissenschaftliche Embodiment-Theorie vorgestellt hat. Deren Grundannahme ist, dass die menschliche Wahrnehmung an die eigene Körperwahrnehmung und Sensomortorik gekoppelt ist, und zwar – stark vereinfacht – so, dass das Wahrnehmen von Bewegungen anderer Körper vom eigenen Körper auf neurologischer Ebene gespiegelt wird. Diese augenscheinlich fachfremde Annäherung der Literaturwissenschaftlerin Kukkonen an den Comic ist ein praktisches Beispiel für den eigentlichen Kern ihres Vortrags. Dieser lautet sinngemäß, dass Comicforschung, die sich auf das Spiel zwischen den ‚zwei Kulturen‘ (Ch. P. Snow) einlässt, Forschungsprobleme in Form von intuition pumps (D. Dennett) formulieren kann, mittels derer die Annäherung an den Comic zwar auf zunächst ungewohnten Wegen, aber deswegen umso erfolgreicher verlaufen kann.

John A. Walsh (Bloomington, Indiana), der vor wenigen Jahren CBML vorgestellt hatte, präsentierte unter dem Titel „FOOM, Fan Mail and Fast Selling American Seeds: Building an Archive of American Comic Book“ vorläufige Ergebnisse aus einem laufenden Data-Mining-Projekt. Walshs Team wertet bereits digitalisierte Marvel-Comichefte hinsichtlich Informationen über die Fankultur aus. Im Vordergrund steht dabei die Erschließung personenbezogener Daten von Comicfans, die sich in Leserbriefen geäußert haben oder im Rahmen von Gewinnspielen und dergleichen in Erscheinung getreten sind. Erfasst werden, zunächst als Vorbereitung eines noch einzureichenden Förderungsantrags, u.a. Namen, Adressen und Beruf. Neben Informationen über einzelne Karrieren der teils schon sehr früh aktiven späteren Comickünstler und Verlagsmitarbeiter, verspricht das Projekt harte Fakten über die amerikanische Comicfankultur zu liefern, wobei kritisch eingewendet wurde, dass die in Marvel-Comics abgedruckten Informationen vor Veröffentlichung u.a. nach marktwirtschaftlich relevanten Aspekten gefiltert wurden, die so erhobenen Daten also nicht ohne weiteres für repräsentativ gehalten werden können.

Da der Vortrag „Encouraging Open Access to Comics Scholarship: Challenges and Opportunities“ von Ernesto Prieto (London) leider ausfallen musste, blieb zwar mehr Zeit für die anderen Beiträge und für den Austausch in der Mittagspause, dafür war der Blick auf die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung von Comics gegenüber der kognitionswissenschaftlichen Perspektive leider unterrepräsentiert.

Einem Workshop durchaus angemessen, lag der Fokus der Vorträge gleichermaßen darauf darzustellen, welcher Stand schon erreicht wurde, welche Fragestellungen und Anschlussaufgaben sich daraus ergeben und wie sie in Zukunft angegangen werden können. Die Abschlussdiskussion fand im ad hoc gebildeten Stuhlkreis statt. Hier wirkte sich die überschaubare Teilnehmerzahl positiv aus. Martin Fischer (Potsdam) respondierte der Reihe nach mit zentralen Stichpunkten den Vortragenden, woraus sich Diskussionen entwickelten, in denen zentrale Punkte des zuvor Gehörten noch einmal herausgestellt und im Lichte der über den Tag gewonnenen Erkenntnisse und eingebrachten Ideen reflektiert wurden. Man hätte der Veranstaltung mehr Teilnehmer gewünscht, dadurch hätte aber wohl die gewinnbringende Abschlussdiskussion nicht in dieser Form stattfinden können. Den ersten Zwischenergebnisse der Forschungsgruppe darf mit Vorfreude entgegengeblickt und eine Förderung des Projekts erhofft werden. Wünschenswert wäre – zusätzlich zur bestehenden internationalen – eine breitere Vernetzung der Forschungsgruppe mit der deutschsprachigen Comicforschung, von der beide Seiten leicht profitieren können, wenn sie bereit sind, ihr Labor bzw. ihr Studierzimmer zu verlassen und die Ideen und Herangehensweisen der jeweils anderen als intuition pumps wirken zu lassen.

(Christian A. Bachmann)

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