Tagungsbericht: 9. ComFor-Jahrestagung in Berlin

Termin:
25.09.2014 - 28.09.2014

9. Jahrestagung zum Thema “Grenzen ziehen, Grenzen überschreiten” an der Humboldt-Universität zu Berlin

Tagungsbericht von Nina Heindl, Laura Oehme und Lukas R.A. Wilde
Fotos von Jeff Thoss und Laura Oehme

Zum Programm

Vom 25.–28. September 2014 trafen sich deutsche und internationale Comicforscher_innen zur 9. Jahrestagung der Gesellschaft für Comicforschung in Berlin und diskutierten zum Thema „Grenzen ziehen, Grenzen überschreiten“.

comfortagung2014_01Dank sieben thematischen Panels mit insgesamt 22 Vorträgen, zwei Werkstatt-Panels, zwei Abendvorträgen, einer Podiumsdiskussion und gleich zwei Ausstellungen waren die vier Konferenztage bis zum Anschlag gefüllt. Das Gesamtprogramm umfasste sage und schreibe 38 Stunden (davon 25,5 Stunden allein für Vorträge und Diskussionen) und hatte mit 42 Sprecher_innen aus den unterschiedlichsten Disziplinen für alle der zahlreichen Zuhörer_innen etwas zu bieten. Was die Aufteilung zwischen Geschlechtern angeht, so muss sich die ComFor mit über 45 Prozent weiblichen Vortragenden offensichtlich keine Gedanken über eine “Frauenquote” machen, denn vor allem im Nachwuchsbereich setzen Frauen derzeit die meisten Impulse. Zudem war die ComFor-Tagung diesmal so international aufgestellt wie nie zuvor, denn von den insgesamt 33 Vorträgen bzw. Präsentationen wurden rund 40 Prozent auf Englisch gehalten und blieben so auch den vielen renommierten Comicforscher_innen aus dem Ausland zugänglich.

Donnerstag, der 25. September 2014

ABENDVORTRAG SABIN

Roger Sabin (London) eröffnete die Tagung mit einer weiten historischen Betrachtung, welche viele der kommenden Themen bereits anschneiden sollte: „Crossing Boundaries of Taste in the 19th Century: Satire versus Slapstick; Pictures versus Text; and What It Might Be ‚Acceptable‘ for the Working Class to Enjoy”. Anhand der gegen Ende des 19. Jahrhunderts öffentlich geführten, emotionalen Debatten um neu aufkommende “Comics” (wie die enorm populäre Serie Ally Sloper’s Half Holiday) lassen sich bereits die meisten Ängste und Hoffnungen ausmachen, die die Wahrnehmung des Mediums auch im 20. Jahrhundert bestimmen sollten: Neben der Sorge um steigenden Analphabetismus und Jugendkriminalität, sowie um die moralische und geistige Verwahrlosung der Leserschaft, entwickelte sich am Comic auch die Hoffnung nach einer neuen Vernakularsprache. Diese stünde näher am “authentischen Empfinden der Volkstraditionen” als die bürgerliche Kultur, argumentierte etwa die Kritikerin Elizabeth Pennell („die Begründerin der soziologischen Comic Tradition“). Da sich in dieser Zeit, so Sabins Zusammenfassung, die Frage nach ‚Leisure Time‘ für die Arbeiterklasse erstmalig stellte, ging es bei dieser Diskussion um nichts weniger als darum, erstmalig Populärkultur zu definieren – „with Comics right at the center of the discussion.“

AUSSTELLUNGSERÖFFNUNG

comfortagung2014_02Der Comicexperte und Künstler John Jennings (Winter Park, USA) eröffnete die Ausstellung „BLACK KIRBY: In Search of… The Mother Boxx Connection“ mit einem Abendvortrag über seine Arbeit. BLACK KIRBY ist der Name eines Kollaborativs aus Jennings und Stacey Robinson, das sich insbesondere mit den Schwerpunkten blackness und soziale Identität auseinandersetzt und dazu mit einer großen Bandbreite popkultureller Collagen, Remixe und Samples experimentiert. Jack Kirbys energetische Designformen und Figurendarstellungen dienen Jennings dabei ebenso als Ausgangspunkte wie Afro-Futurismus und Hip-Hop-Kultur, um Konzepte afroamerikanischer Agency zu hinterfragen: etwa indem bekannte Ikonographien von Marvel-Helden oder den New Gods mit stereotypen Darstellungen ‚des Schwarzen‘ überschrieben werden. Die Ambivalenz zwischen ‚empowerment‘ und rassistischen Konnotationen, die z. B. einem schwarzen Hulk oder einem Hip-Hop-Galactus innewohnt, sieht Jennings dabei als Chance, die Performanz bestimmter Darstellungsweisen, sowohl seitens der „conceptual crossroads of comics“, als auch seitens unserer Vorstellungen von ethnischer und kultureller Identität zu hinterfragen; das Plenum konnte am eigenem Unbehagen mit bestimmten Motiven gut beobachten, wie unkomfortabel schmal die Spanne zwischen ironischem Spiel und gefährlichem ‚Othering‘, zwischen Ausstellen und Bloßsstellen schnell werden kann.

Freitag, der 26. September 2014

INTERMEDIALITÄT I

Der zweite Tag der Konferenz stand unter dem übergeordnetemThema der Intermedialität. Das erste Panel zu diesem Thema umfasste insgesamt vier Vorträge. Den Anfang machte Stephan Packard (Freiburg) mit seinem Beitrag zu „Sagbares und Sichtbares jenseits von Schrift und Bild: Aufteilungen des Sinnlichen im Comic“, der sich mit den Grenzziehungen und -überschreitungen, also den historisch wechselhaften Zuständigkeiten von Bild und Schrift, beschäftigte. An Jacques Rancière anknüpfend, stellte Packard diese Trennlinie als eine von zahlreichen Verhandlungen zwischen Sagbarkeit und Unsagbarkeit, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit dar. Eine These, die er mit Beispielen aus Alan Moore’s Watchmen (1986–87), demian5s Webcomic When I Am King (2000), Kieron Gillens Three (2013) und Matt Fractions Hawkeye (2013-2014) eindrucksvoll illustrierte und so auch einer vorschnell befundenen semiotischen Opposition von Text und Bild widersprach.

Lukas R. A. Wildes (Tübingen) Vortrag zu „Medien-Grenzen: Comics, Gebrauchs-Comics, Piktogramme“ befasste sich mit zwei konkreten Grenzüberschreitungen zwischen dem Comic als “konventionell-distinktem Medium” einerseits und verwandten, comic-ähnlichen Darstellungssystemen in funktionalen Verwendungskontexten andererseits: der angewandten Formensprache und den daran herangetragenen kulturellen Erwartungshaltungen. Mit Rückgriff auf den häufigen Einbezug diagrammatischer Formen in aktuellen Comics, sowie auf ein verändertes Webcomic-Verständnis als Kommunikationsmedium zur Alltagsbeobachtung und -kommentierung wies Wilde die ‚Medialität’ des Comics als wandelbare Erwartungshaltung über eben diese Grenzen aus, die selbst wiederum genreübergreifend von Werken wie David Mazzucchellis Asterios Polyp (2009), Matt Fractions Hawkeye (2013) oder Frank Flöthmanns Grimms Märchen ohne Worte (2013) aufgegriffen und ‚remediiert’ werden können, um als ästhetisch und narrativ motivierte ‚eigene’ Formen zu fungieren.

comfortagung2014_03Im Vortrag über „Die Grenzen der Panelgrenzen: Zur Verbindung von mathematischen ‚Beweisen ohne Worte‘ und Comics“ setzte sich der Amerikanist Lukas Etter (Bern) mit der Abgrenzung von ‚abstract comics’ auseinander. Als Diskussiongrundlage wählte er hierfür die sogenannten ‚proofs without words‘, also rein visuelle Veranschaulichungen von mathematischen Sätzen. Anhand dieser ‚Beweise ohne Worte‘ hinterfragte Etter die Rolle von Narrativität und/oder Ästhetik im Bezug auf ‚abstract comics‘ und kam zu dem Schluss, dass sich beide vor allem durch eine hohe Ambivalenz auszeichnen. Es sind genau solche Grenzfälle bzw. die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihnen, die sie letztlich für eine etwaige Grenzziehung bzw. -verlegung eines Medienbegriffs von Comics produktiv mache.

Der Abschluss des ersten Intermedialität-Panels wurde Ralf Palandt (München) zuteil, der über „Experimentelle Comics: Erweiterungen der Erlebniswelt durch das Spiel mit dem (Träger-)Medium“ sprach. Palandts Vortrag befasste sich mit dem Aspekt der Synästhesie in Comics, also der Substituierung und Adressierung aller fünf Sinne, welche bereits zum Gegenstand spannender Experimente mit der Comicform und seinem traditionellen Trägermedium Papier gemacht wurde. Anhand von zahlreichen und u. a. sehr skurrilen Beispielen präsentierte Palandt Comics als eine narrative Kunstform mit noch vielen unverwirklichten Möglichkeiten im Bezug auf die Sinneswahrnehmung ihrer Leser_innen.

INTERMEDIALITÄT II

Nach einer kurzen Mittagspause folgte das zweite Panel zum Thema Intermedialität mit vier englischsprachigen Vorträgen. Eröffnet wurde das Panel von Ian Hague und Simon Grennan (Chester, UK) mit ihrem Vortrag „It’s a book! It’s a game! It’s Building Stories! Play, Plot, and Narration in Graphic Narratives“. Hague und Grennan beschäftigten sich darin mit den Grenzen zwischen Comics und Spielen; genauer gesagt mit den Parallelen und Unterschieden zwischen Chris Wares Comic Building Stories (2012) und Computerspielen wie Fallout: New Vegas (2010) oder The Elder Scrolls V (2011). Mit Hilfe von Seymour Chatmans Konzept von Narration als einer “double time”-Struktur (ein Ansatz, den sie durchaus kritisch hinterfragten), stellten die Vortragenden verschiedene Grade an Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen Comic und Videogame heraus. Als Scharnier wurden dabei die Möglichkeiten der Rezipient_innen gesehen, verständnisrelevante Entscheidungen zu treffen, was die Frage nach eines zusätzlichen “user time” aufwarf, die in Comic und Game ganz unterschiedlich zwischen “discourse time” und “story time” vermitteln könne.

Direkt im Anschluss sprach Nina Heindl (Bochum) über „Chris Ware’s Acme Novelty Library between the poles of trivialization and ennoblement“. Heindls Auseinandersetzung mit den Grenzziehungen und -überschreitungen in Wares fortlaufender Serie Acme Novelty Library (1993–) basierte auf der Opposition von Mechanismen der Trivialisierung und Nobilitierung. Diese verdeutlichte sie anhand von Beispielen für die Unterbrechungen des Narrativs, wie Werbegrafiken und diagrammatische Darstellungen, und den Paratexten der einzelnen Ausgaben. Laut Heindl benutzt Ware solche ästhetischen Gegensätze bewusst um das Leseerlebnis seines Publikums zu intensivieren und eine Reflexion der Konventionen von Comics sowie der kulturellen Geprägtheit der Rezipient_innen anzustoßen.

Es folgte ein Vortrag zu „Incognegro and Intermediality“ von Michael Chaney (Dartmouth College, USA). Incognegro (2008) von Waren Pleece und Mat Johnson beschäftigt sich mit der traumatischen Zeit der Lynchmorde in den Vereinigten Staaten der 1930er Jahre. Der Comic bedient sich dafür bei diversen Genres, aber auch visueller Tropen und Archetypen aus den traditionellen Superheldencomics – grundlegende intermediale Spannungen zwischen explizit Gesagtem, bildlich Gezeigtem und zitathaft Angedeutetem dient so auch als Grundlage der Auseinandersetzungen von Pleese/Johnson. Mitgeführt werden so etwa stets auch historische Bildvorlagen tatsächlicher Lynchmorde. Chaney versteht zusammenfassend Incognegros „politics of space” als Grundlage für die Auseinandersetzungen mit Identität (Essenz vs. Erscheinung), Zeit (damals vs. heute) und Raum (Vordergründe vs. Hintergründe).

comfortagung2014_04Abgerundet wurde das zweite Panel dieses Tages von Stefanie Weege (Potsdam), die das Publikum mit ihrem Vortrag zu „Punch’s Great Exhibition of 1851: Visual Accounts of Self & Other“ ins London des 19. Jahrhunderts zurückversetzte. Dabei analysierte sie die visuelle Darstellung der Londoner Industrieausstellung in dem bekannten britischen Satire-Magazin Punch, in dessen Cartoons eine alternative Weltaustellung abgebildet wurde, anstatt sie einfach nur zu dokumentieren. Weege liest die Cartoons als einen Ort, in dem das Fremde objektiviert wird und durch den die vorrangig weißen und männlichen Zeichner aus der Mittelklasse eine klare Hierarchie der britischen Gesellschaft gegenüber dem Fremden zu etablieren suchten. Zu ihrer Zeit beeinflussten die Punch-Cartoons die öffentliche Meinung maßgeblich, wurden aber bisher kaum genauer analysiert, wozu Stefanie Weege mit ihrem Vortrag den Anstoß geben wollte.

WERKSTATT I

Nach einer kurzen Pause fand das erste Werkstatt-Panel der diesjährigen Tagung statt. Darin wurden insgesamt vier Projekte präsentiert. Es handelte sich dabei zum einen um das Dissertationsprojekt von Jakob Kibala (Hamburg), welches er mit seinem Vortrag zum Thema „Zitieren und Verweisen im anglo-amerikanischen Comic“ vorstellte. In seiner Anaylse von The League of the Extraordinary Gentlemen arbeitete Kibala zahlreiche Unterschiede zwischen Alan Moores „Literaturadaption“ und der Verweisstruktur klassischer Superheldencomics heraus. Das fertige Projekt wird sich laut Kibala nicht nur mit der genauen Analyse von Text- und Bildelementen in diversen Primärtexten beschäftigen, sondern soll auch eine ‚user study‘ umfassen, die sich mit der intensiven Fan-Aktivität um diese Comics auseinandersetzen wird.

Des Weiteren stellte Jane Goltzsch (Würzburg) ihr englischsprachiges Promotionsprojekt zum Thema „‘We need these fictional lenses, otherwise we cannot see’: Examining Intertextuality, Trauma, and Identity in Comic Book Novels“ vor. Am Beispiel von Michael Chabons The Amazing Adventures of Kavalier & Clay (2000) illustrierte Goltzsch die einzigartige Auseinandersetzung mit Trauma und Identität in Comic Book Novels, „a new literary genre, which has brought the subject of comics squarely into the arena of literary criticism“, wie Goltzsch erklärt. Ihre Arbeit wird sich letztlich auch generell mit dem Genre der Comic Book Novel auseinandersetzen und erforschen, inwiefern dessen Erzählstrategien mit traditionellen Comics vergleichbar sind.

Mit „Dämonische Moral. Konzeptionen des freien Willens in Mike Mignolas Hellboy“ präsentierte Timo Saalmann seinen Beitrag zur Comicforschung. Der Vortrag entstammte einem geschichtswissenschaftlichen Projekt, welches den Fokus auf die Rolle von Nationalsozialismus und typologischen “Nazi-Schurken” in Comics legt und sich mit deren zeitgeschichtlicher Einordnung beschäftigt. Saalmann befasste sich im Fall von Hellboy vor allem mit der stereotypen Darstellung der Nationalsozialist_innen und den unterschiedlichen Verständnissen von freiem Willen der einzelnen Charaktere. Letztere, so Saalmann, dienen der “moralischen und ethnischen Grenzziehung zwischen Menschen und Nichtmenschen” in Hellboy.

Zu guter Letzt bekam die Projektgruppe der Universität Kiel, bestehend aus Julia Ingold, Susanne Schwertfeger, Dennis Wegner, Lukas Städing, Rosa Wohlers, Cord-Christian Casper und Nikolai Ziemer die Gelegenheit, die erste deutschsprachige Online-Zeitschrift Closure vorzustellen. Das „Kieler e-Journal für Comicforschung“ entstand aus einem Projektseminar und zeichnet sich durch ein großes interdisziplinäres Team aus. Das Gründungsteam veranstaltete im Vorfeld drei Workshops, in denen eine gemeinsame Grundlage für die zukünftige Zusammenarbeit definiert wurde. Closure wird zum einen wissenschaftliche Artikel und zum anderen Rezensionen zu Primär- und Sekundärtexten enthalten, welche dank open access, als PDF-Dateien heruntergeladen werden können. Neben der ersten Ausgabe, die bereits im November 2014 erschienen ist, wurden auch schon die Ausgaben #1.5 für Mai 2015 (nur Rezensionen) und #2 für November 2015 angekündigt.

PODIUMSDISKUSSION

comfortagung2014_05Abgerundet wurde der Freitag mit einer öffentlich zugänglichen Podiumsdiskussion zum Thema „Welche Grenzen überschreitet der Comic?“ Diese Frage stellte die Moderatorin Brigitte Helbling den fünf Teilnehmer_innen, die Expertisen aus ganz unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen mitbrachten. Stephan Packard vertrat als Vorsitzender der ComFor gemeinsam mit dem Kulturwissenschaftler Thomas Becker die akademische Comicforschung, während Jens Meinkrenken nicht nur als Kunsthistoriker, sondern auch als Vorsitzender des Deutschen Comicvereins und Mitbegründer des Comic-Manifests zu Wort kam. Demgegenüber repräsentierten die Egmont Verlegerin Alexandra Germann und die Künstlerin Susanne Buddenberg die praxisnahe Beschäftigung mit dem Comic. Im Laufe des zweistündigen Austauschs wurden die unterschiedlichsten Themenkomplexe abgetastet, die von der kulturellen Legitimation des Comics über das Verhältnis von ‚Mainstream‘ zu politischem Engagement, bis hin zu konkreten ökonomischen Aspekten reichten. Auch populäre Comics könnten selbstverständlich gesellschaftliche Grenzen adressieren, wurde schnell deutlich, ohne dabei notwendig in Konflikt zu ihrer Popularität zu geraten oder umgekehrt auf bloße Widerständigkeit festgelegt zu sein – nichtsdestotrotz wäre im (als solchen bezeichneten) Graphic Novel-Bereich tendenziell dennoch eher inhaltliche Innovation zu erwarten. Während Fragen nach dem Verhältnis von Mainstream, Avantgarde und Gesellschaftsrelevanz nicht spezifisch für das Medium sind, betonte Becker doch die Eigentümlichkeit, dass im Bereich des Comics zumindest die institutionelle Legitimation nie stattgefunden habe. Hier nun, bei dem Interesse der Wissenschaft am Comic, hole Deutschland derzeit auch gegenüber dem Vorbild Frankreich deutlich auf. Was aber damit impliziert sei und welche Rolle die akademische Comicforschung gegenüber der sowohl künstlerischen als auch verlegerischen Praxis tatsächlich einnehmen könne, dies wurde schnell zum spannendsten Thema der Runde, auch anhand der eigenen Gesprächskonstellation: zwar schienen die inhaltlichen Konsenspunkte schnell gefunden – vielleicht zu schnell wie in Publikumsbeiträgen geäußert wurde – doch der eigentliche Austausch fand eher innerhalb des akademischen Teils der Runde statt. Erwogen wurde hier etwa, ob ein Comicforscher auch in Auswahlgremien zu Comicstipendien wichtige Impulse setzen könne oder im Gegenteil nicht gerade die Beobachterposition wahren müsse. Die Hoffnung der Organisatoren jedenfalls, auch ein weiteres Publikum aus dem nicht-universitären Umfeld für die Veranstaltung zu erreichen, wurde nur bedingt erreicht. Trotz Meinrenkens abschließendem Plädoyer gegen vorschnellen Schematismus in starr gedachte Gesellschaftsbereiche überraschte doch eine solch deutlich spürbare, und vor wenigen Jahren noch weniger vorstellbare Ausdifferenzierung zwischen Comicforschung und -praxis.

Samstag, der 27. September 2014

GRENZEN DES MENSCHLICHEN

Das erste, englischsprachige Panel am Samstag beschäftigte sich mit dem Ausloten der Grenzen von Menschlichkeit. Essi Varis (Jyväskylä, Finnland) näherte sich diesem Thema im Vortrag “Cognitive Frankenstein Machines. Charting Humanity in Comic” über das Feld der ‚theoretical character research’. Varis stellte ihre Forschungsfragen vor: Ihr gehe es um die Situierung von Comic-Charakteren zwischen Menschlichem und Unmenschlichem und darum, wie die Unmenschlichkeit von Charakteren von Leser_innen dennoch in menschliche Formen gegossen werde. Als theoretische Bezugspunkte dienten Varis hierfür die Human Reader’s Cognition Theory, um die sich u. a. Baruch Hochman und Monika Fludernik verdient gemacht haben. Vor der Folie dieser theoretischen Konzepte argumentierte Varis, dass Comic-Charaktere aufgrund ihrer Produktion, Konstitution und Rezeption genuin und strukturell im Modell von Frankensteins Monster begriffen werden können. Leser_innen werden diesem Modell folgend selbst gewissermaßen zu Dr. Frankenstein und verleihen den Comic-Charakteren durch Sympathie und Identifikation Züge von Menschlichkeit.

comfortagung2014_052Christina Kochs (Marburg) Vortrag “Comic-Grotesque Metamorphoses. Drawing Boundaries between Illness and Health in Ken Dahls Monsters” knüpfte durch die Thematisierung des Monströsen und (imaginierter) Verwandlungsstadien hin zum Monster direkt an den vorhergehenden Vortrag von Essi Varis an. Die thematische Orientierung Kochs war jedoch eine andere: Sie fokussierte die Darstellung der Unsichtbarkeit von Geschlechtskrankheiten bei gleichzeitiger Kenntnis und Scham darüber bei der/dem Betroffenen. In Ken Dahls Comic Monsters wird dies im Spannungsfeld der metaphorischen visuellen Entmenschlichung hin zum Monströsen verhandelt, was allerdings nur für den betroffenen Protagonisten und die Leser_innen, nicht für die direkte diegetische Umwelt sichtbar wird. In ihrer ästhetisch und kulturwissenschaftlich orientierten Untersuchung mit Anlehnung an Konzepte der Groteske (u. a. Mikhail Bakhtin, Mark Dorrian und Frances S. Connelly) und der Disability Studies (Rosemary Garland-Thompson) machte Koch so die Selbstwahrnehmung und die von außen herangetragene Wahrnehmung von vermeintlicher Gesundheit bzw. Krankheit anschaulich.

Andreas Heimann (Mainz) griff die Pole von Gesundheit und Krankheit sowie Menschlichkeit und Monstrosität in seinem Vortrag “Antiheroes and the Limits of the Panel. Observations on Narrative in Charles Burns‘ Black Hole” ebenfalls auf, doch erfuhr die Grenzüberschreitung zum Unmenschlichen in Black Hole im Gegensatz zum Comic Monsters, den Christina Koch vorgestellt hatte, eine positive Wendung: Krankheit als Möglichkeit. Die jugendlichen Protagonist_innen bilden durch ihre körperlichen Deformationen, die von einer sexuell übertragbaren Krankheit verursacht werden, eine eigene, von der Gesellschaft abgekapselte Gruppierung. Heimann untersuchte das aus Superhelden-Comics bekannte Narrativ der Mutation und die damit einhergehenden Implikationen auf formaler, motivischer sowie narratologischer Ebene und schlug, an verschiedenen Beispielen argumentiert, den von Gilles Deleuze und Felix Guattari geprägten Begriff des „Werdens“, in diesem Zusammenhang spezifisch des „Ich-Werdens“, als Analyseinstrumentarium vor.

WERKSTATT II

Im zweiten Teil der Werkstattgespräche, dem Forum für die Vorstellung von in Entstehung bzw. Durchführung begriffenen Projekten, stellte Anna Beckmann (Berlin) gemeinsam mit weiteren Studierenden das auf ein Jahr angelegte Projekttutorium “Keine Grenzen. Der Comic in der interdisziplinären Forschung” an der Humboldt-Universität zu Berlin vor. Der Schwerpunkt der Vorstellung lag auf Ergebnissen Studierender zum Thema der auf Geschlecht und Rasse fokussierten De-Konstruktion von Identität.

Daran anschließend stellte Beate Wild (Berlin) die Forschungs- und Wanderausstellung ComiXconnection vor. Die Wanderausstellung beschäftigt sich mit Independent Comics sowie Comickünstler_innen aus den Ländern Serbien, Kroatien, Slowenien, Ungarn und Rumänien. Seit Juni 2013, Start in Pula/Kroatien, ist die Ausstellung nun auf Reisen und befand sich zum Augenblick der Tagung bereits am achten Standort, im Muzej Slavonije in Osijek/Kroatien. Bis 2015 sind weitere Stationen in Kroatien und Serbien geplant, bevor sie auch in Österreich, der Schweiz, Frankreich und Deutschland zu sehen sein wird. Über solche rahmenden Daten hinaus gab Wild zahlreiche Einblicke in die spannenden konzeptuellen, inhaltlichen und kulturspezifschen Fragen der Zusammenarbeit.

Nina Selzer (Berlin) stellte im Werkstattvortrag ihre Masterarbeit zu Thomas Bernhards ‚Komödie‘ Alte Meister und dessen Comicadaption von Nicolas Mahler vor. Anhand der Untersuchung der Kategorien Rahmen- und Blickstrukturen, Wiederholung und Fragmentierung ging Selzer der These nach, dass Mahlers Comicadaption eine neue Lesart auf die literarische ‚Vorlage‘ Bernhards eröffne und sich gleichzeitig mit den ästhetischen Möglichkeiten des Mediums Comic auseinandersetze.

Als Abschluss des Werkstattpanels stellte Katharina Küstner ihre empirische Studie “Identitätsentwürfe jugendlicher Comiczeichner_innen” im Vortrag “Aushandlungen von Sexualität und Gender in der Szene der jugendlichen Comiczeichner_innen” vor. Küstners Studie befragt die Rolle des Comiczeichnens, speziell des Zeichnens von Mangas und stilistisch am Manga orientierten Darstellungen, als Ausdrucks- und Kommunikationsmittel in der biographischen Entwicklung von Jugendlichen.

ERINNERUNG, TRAUM, REALITÄT

comfortagung2014_06Dietrich Grünewald eröffnete das Panel mit einer detaillierten und bezugsreichen Lektüre von Miguelanxo Prados Ardalén in: „Erinnern ist Leben. Intersubjektive Grenzüberschreitungen“. Anhand dieses, dem magischen Realismus nahestehenden „Comic-Romans“ demonstrierte Grünewald, wie die Bildgeschichte den Konstruktionsprozess von kollektiven wie individuellen Erinnerungen als dynamischen Prozess darzustellen vermag. Zwischen Veranschaulichungen von verbal Erzähltem, den quasi-objektiven Rückblenden des Geschichtsschreibers, weitreichenden Bild- und Textzitaten und intermedialen Ästhetiken (gezeichnete Photographien etc.) artikuliert Prado die Verflechtungen von Realität, Fiktion, Wahn und Traum. Weit über die Werkinterpretation hinaus reflektierte Grünewald diese Techniken auch im vergleichenden Kontext von Gedächtnisarbeiten in Comic-Erzählungen von Hergé über Jirô Taniguchi bis zu Matthias Gnehm und nahm dabei auch Bezug auf aktuelle Kunstprojekte wie Sigrid Sigurdsons Bibliothek der Alten in Frankfurt a. M.

Julia Ingold (Kiel) verdichtete das Zusammenspiel narrativer, ikonographischer, gattungs- und kulturhistorischer Grenzen anhand ihrer konzentrierten Ausdeutung eines anspielungsreichen Rotopol-Comics: „‚Ab und an wird diese Grenze übertreten. Aber nur in eine Richtung.‘ – Versuch einer Allegorese von Markus Färbers Reprobus“. Dieser symbolgeladene und voraussetzungsreiche Hypertext (Genette) auf die Legende des Heiligen Christopherus – und auf ihre kulturgeschichtlichen Transformationen – präsentiert zunächst eine topographische Grenzüberschreitung zwischen Mythos und Logos, die von Ingold mit Craig Owens Allegorical Impulse als postmodernes Palimpsest begriffen wurde. Dessen Qualität als Allegorie im Sinne der Benjamin’schen Philosophie stellte Ingold aber dahingehend in Frage, dass beide Seiten einander gegenübergestellt und gegenseitig bedingt, letztlich im Paratext aufgehoben scheinen. Ingolds Überlegungen und Anschlussfragen wurden unmittelbar vom Plenum aufgegriffen und in zahlreiche Richtungen weiter diskutiert.

Der abschließende Panel-Beitrag von Merle Koch (Kiel) schlug den Bogen zum Thema ‚Traum und Realität‘ zurück und präsentierte eine reiche Materialsammlung an Darstellungs- und Markierungsverfahren: „Grenzen und Grenzüberschreitungen zwischen erzähltem Traum und erzählter Realität im Comic“. Kochs Ansätze zu einer Typologie konzentrierten sich einerseits auf narrative Funktionen des Comic-Traums innerhalb verschiedener Gattungen, andererseits auf (oft medienreflexive) Markierungsverfahren, etwa im Durchbrechen von Panelgrenzen und Gedankenblasen. Insbesondere auch in Differenz zu filmischen Formen der Traumdarstellung diskutierte Koch so eine Medienspezifik des Comics und seinem surrealistischem Potential, welches sich bis zu Winsor McCay zurückverfolgen lässt.

TRANSNATIONALITÄT

Michael F. Scholz (Uppsala) kündigte eine „ganz theoriefreie Grundlagenforschung“ an und präsentierte ein reiches historisches Potpourri in: „US-Comics erobern Europa. Die Geschichte eines Kulturexports von der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges“. Ausgehend von umfangreicher archivarischer Forschung zur Geschichte von Zeitungen, Lizenzierungsverfahren und Syndikaten zeigte Scholz, wie sich die erfolgreiche Etablierung früher US-Comics in Europa einerseits nur durch das Wirken von gut vernetzten Einzelpersonen erklären lässt, und wie andererseits noch viele Fragen zum Zusammenhang marktwirtschaftlicher Faktoren (Devisen- und Copyrightfragen, Wirtschaftskrisen, Gründungen von Regionalbüros) und der Nachfrage nach Humor und ‚Geschmack‘ zu erarbeiten sind.

In „Polnische Geschichte im Comic: Grafische Vorlagen als Authentizitätsbeweis“ widmete sich Katharina Mann (Köln) den Bildzitaten in den Manga-Werken von Riyoku Ikeda, insbesondere in deren Beschäftigung mit einem polnischen Nationalmythos in Bis zum Himmel (1990). Anhand zahlloser Gegenüberstellungen des Manga-Materials mit historischen Gemälden diskutierte Mann die möglichen Funktionen dieser Zitate. Von identitätsbildenden, gezeichneten „Erinnerungsorten“ im Sinne Pierre Noras könne womöglich in der Übersetzung für polnische Leser 1996 gesprochen werden, im ursprünglich japanischen Kontext jedoch bleibe ein Spannungsfeld zwischen Authentizitätssignalen einerseits und Pathosformeln andererseits. Das anschließende Plenumsgespräch legte weitere Deutungsmöglichkeiten zutage, die von einer Ausstellung der ‚Manga-Medialität‘ bis zur schlichten Funktionalität bereits tradierter Bildlösungen reichten und so die wesentliche These der Deutungsoffenheit des Bildzitats bestätigten.

Frederico Dal Bo (Italien) schloss das Panel mit einer Diskussion viel problematischerer Repräsentationen historischer Ereignisse: „From Ausschwitz to Srebenica: A Case of ‚‘Transnational“ Representation of the Shoah in Pascal Croci’s Comics“. Dal Bo kontrastierte Crocis Ausschwitz (2001) mit den verschiedenen Logiken der Referenz in Spiegelmans Maus, Lanzmanns Shoa und Spielbergs Schindler’s List. Anders als die beiden erstgenannten, überbiete Croci noch Spielbergs Tendenz, die Undarstellbarkeit der Shoa durch voyeuristische Ästhetiken zu trivialisieren. Daran anknüpfend problematisierte Dal Bo die „transnationale Argumentation“ der Graphic Novel, die Ereignisse in Ausschwitz sowohl mit dem Atombombenabwurf in Hiroshima und Nagasaki, als auch mit den serbischen Konzentrationslagern in den Balkankriegen vergleicht – eine Rekontextualisierung, die, wenn schon nicht grundlegend undenkbar, so doch einem reflektierteren Zugang bedürfte als in Crocis formelhaftem Szenario angelegt.

ABENDVORTRAG COHN

comfortagung2014_07In der zweiten Keynote der Tagung fasste Neil Cohn (San Diego, USA) die zentralen Thesen seiner viel diskutierten, empirisch-neurowissenschaftlichen Comic-Forschung zusammen: „What comics can teach us about the mind (and vice versa)“. In einer routiniert-schwungvollen Präsentation seiner Konzeption einer „visual language of comics“, die als kulturspezifische Variante eines durchaus universellen Bildsprachvermögens auch der Produktion und Rezeption von Comics zugrunde liege, erläuterte Cohn seine linguistischen Prämissen und stellte seine zentralen Begrifflichkeiten vor: Einerseits sind darin standardisierte visuelle Schemata oder “patterns” zentral, durch welche Unterschiede zwischen ähnlichen Darstellungen auf type-token-Relationen reduziert werden könnten; andererseits baut seine Forschung auf der Konzeption einer narrativen Grammatik auf, in welcher narrative Grundfunktionen sich quasi-syntaktisch auf hierarchische Baumdiagramme abbilden lassen (eine Rezension von Janina Wildfeuer in Closure 1 zu Cohens neuester Veröffentlichung verdeutlicht dies genauer). Gegenüber den kulturwissenschaftlichen Beiträgen war nicht nur in Cohns tatsächlicher Methodologie und Forschungspraxis (etwa Messungen per Elektroenzephalographie EEG), sondern auch in der Wahl von und im Umgang mit Begrifflichkeiten (wie „Narration“), sowie in der angenommenen Reichweite abgeleiteter Schlussfolgerungen die merklichste disziplinäre „Grenzziehung“ der Tagung zu beobachten. Die Nachfragen des Plenums kamen deshalb leider auch kaum über die Klärung von Verständnisfragen hinaus.

Sonntag, der 28. September 2014

GENDER

Das Panel zum Thema Gender leitete den Sonntag, den letzten Tag der Konferenz, ein. Kai Linkes (Berlin) Vortrag “Auf der Grenze zu Hause. Produktive Grenzräume in Jaime Cortez‘ Sexile” machte auf unterschiedliche Grenzphänomene in dem biographischen Comic aufmerksam, etwa die Bilingualität (Englisch und Spanisch), Intermedialität (Bild und Schrift) sowie die Geschichte des_der Protagonist_in Adela Vazquez (transnational und transgender). Linke zeigte an einzelnen Seiten des Comics auf, wie diese vielfältigen, das Medium Comic, die Buchform sowie die Geschichte um Adela Vazquez betreffenden Grenzziehungen und -überschreitungen produktiv gemacht werden. Mit Verweis auf Gloria Anzaldúas Buch Borderlands zeigte Linke auf, wie Sexile die verhandelten Grenzbereiche von Räumen des Durchgangs zu Orten des Aufenthalts, Geborgenseins und Lebens transformiert.

In “Gender (re)mediated. Das grenzüberschreitende Potenzial der Figur Jill Bioskop in Comic und Film” untersuchte Véronique Sina (Bochum) die Protagonistin Jill Bioskop aus Enki Bilals Bande-Dessinée-Reihe La Trilogie Nikopol sowie Bilals Comicfilm Immortel (Ad Vitam). Sina argumentierte auf Basis medienwissenschaftlich orientierter Comic- und Geschlechterforschung, dass es sich bei der Protagonistin um eine uneindeutige Figur handle, die sich in einem permanenten Prozess der Konstruktion, De- und Rekonstruktion befinde. Diesbezüglich legte Sina einen besonderen Fokus auf Bildästhetik, mediale sowie genderspezifische Grenzziehungen und -überschreitungen, die sie im Vortrag anhand ausgewählter Beispiele aus La Trilogie Nikopol sowie deren Remedialisierung in Immortel veranschaulichte. In Comicfilm und BD-Trilogie gleichermaßen, so zeigte Sina auf theoretisch hohem Niveau, werden die Mehrdeutigkeit der Figur Jill Bioskop sowie die Konstruktion (re)medialisierter Geschlechterrollen durch die jeweilige mediale Inszenierung und Hybridisierung offen gelegt.

Karolin Reinhold (Leipzig) schloss das Panel mit dem Vortrag “Border narratives: Die Verhandlung von Raum und Geschlecht in Jaime & Gilbert Hernández‘ Love & Rockets” ab und griff damit den thematischen Faden um Fragen der nationalen und genderspezifischen Grenzziehung des Vortrags von Kai Linke wieder auf. Reinhold verfolgte die verschiedenen Stränge der Thematisierung von Heteronormativität, Gewalt, sexueller sowie geschlechtlicher Grenzziehung und zeigte diese anhand von Beispielen der durch lateinamerikanische Protagonistinnen geprägten Serie Love & Rockets auf. Damit werden auch in Love & Rockets Fragen der nationalen, medialen und geschlechtlichen (De-)Konstruktion gestellt, aber in anderer Weise beantwortet, als in Cortez‘ Sexile oder in Bilals Figur der Jill Bioskop.

GRENZBEREICHE DES FREMDEN UND RELIGIÖSEN

Sebastian Bartosch (Hamburg) vertiefte noch einmal die Funktion von Bildzitat und Stereotyp in „Die Grenzen des Orientalismus in Craig Thompsons Habibi“. Vor dem von Edward Said geprägten Begriff des Orientalismus diskutierte Bartosch zwei Motive in Habibi, die beide sowohl exotisierende Klischees wiederholen, diese aber potentiell auch zitathaft ausstellen: auf der einen Seite die „Map of the Region“ als phantasmatische Raumdarstellungen, auf der anderen Seite die vom französischen Historienmaler Jean-Léon Gérôme übernommenen weiblichen Akte im Bild des Sklavenmarkts. Thompson ist anhand solcher Motive ein Rückfall in ausgrenzende Unterscheidungsmuster andernorts explizit vorgeworfen worden. Obgleich eine Festlegung, sowohl auf die Intentionen des Autors, als auch auf ein textimmanentes, subversives Programm schwierig sein dürfte, behielt Bartosch es sich mit Verweis auf Ole Frahms „Parodie der Wiederholung“ vor, das prinzipiell reflexive Potential des Comics hervorzuheben, welches die Möglichkeiten der zitierten Originalwerke in dieser Hinsicht strukturell übersteige.

Auch Hans-Joachim Hahn (Aachen) setzt bei Ole Frahm an, um ein weites kulturphilosophisches Argument zu entwickeln: „Transgressive Wiederholung oder tradierte Transzendenz? Zum Verhältnis von Comics und Religion“. Mit Bezügen bei Peter Sloterdijks Frage nach der „Privatisierung der Transzendenz“ diskutierte Hahn den scheinbaren Widerspruch zwischen einer parodistischen Ästhethik – der „exzessiven Wiederholung der Zeichen“ – zu dem vielfach geäußerten Verdacht (etwa bei Eco), der Comic reproduziere mythische Sehnsüchte und Erzählweisen. Vor einer derzeitigen „regelrechten Konjunktur religiöser Themen im Comic“, die scheinbar indifferent Faszination und Satire bedienen kann, verortete Hahn das Wechselspiel zwischen Warencharakter und „Köder zu Gott“ bereits in den „Picture Stories from the Bible“ der 1940er Jahre, um dann Robert Crumbs Genesis Illustrated genauer zu betrachten. Die Subversion dürfte hier, so die Feststellung, allenfalls in der Radikalität der Vollständigkeit liegen, da Crumb den Originaltext ungekürzt wiederzugeben und zu tradieren suchte. Die transgressive Interpretationsleistung wäre so, möglicherweise auch gegen die Absichten des Autors selbst, in der Betonung des Fleischlichen zu suchen, was Crumbs Linienführung zuzuschreiben ist und die Bibel so „als Kraftwerk des Erzählerischen, das vom Mensch handelt“ umdeutet.

PLENARDISKUSSION

comfortagung2014_08Die abschließende Plenardiskussion, „Per se grenzüberschreitend? Comicforschung transdisziplinär“, mobilisierte noch einmal die gesamte Teilnehmerschaft. Matthias Harbeck brachte als einer der Veranstaltenden zwei “Grenzen” zu Bewusstsein, zu denen trotz der vielfältigsten Zugänge zum Tagungsthema quasi keine Beiträge eingereicht wurden; einerseits ganz konkrete, geographische Grenzen und deren Überschreitungen als Gegenstand der Comic-Darstellung (man denke etwa an Joe Sacco); andererseits, und darum kreiste die anschließende Diskussion, das Thema der eigenen disziplinären Methodenreflexion. Ein kaum synthetisierbares Nebeneinander der unterschiedlichsten Perspektiven und Fragestellungen kann indes gerade als Chance der Comicforschung angesehen werden, kristallisierte sich schnell heraus: Die akademische Welt scheint in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine hybride Medienkultur zu entdecken, argumentierte etwa Markus Engelns, welche keinesfalls auf Comics beschränkt sei; im Gegenteil lasse sich so auch die „Mono-Disziplinarität“ von etwa Film- und Literaturwissenschaften hinterfragen. Neben einer grundlegenden, aber schwerlich definierbaren „Intuition für den Gegenstand“, welche immer wieder genannt wurde, scheint „Fachkompetenz“ in der Comicforschung vielleicht gerade darin zu bestehen, die Heterogenität des Forschungsfeldes zu kennen und fachkundige Gesprächspartner mit ihren jeweiligen Expertisen zu speziellen Fragestellungen zu finden. Wenn wir über die universitäre Institutionalisierung von Comicforschung sprechen, so ein abschließender Gedanke von Stephan Packard, sollten wir vielleicht weniger über Professuren nachdenken, als über Studiengänge. Einen mustergültigen Weg für eine solche Lehre sah Jens Meinrenken darum auch bereits im präsentierten Arbeitsbericht des Kieler Projektseminars zum Closure-Journal angelegt. Die von Grenzen durchzogene Multidisziplinariät der Comicforschung kann so vielleicht auch gerade als besonders modellhaft verstanden werden.

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