CFP: Biografische Fiktion in Literatur, Graphic Novels und Film seit 1990

Publication
Germanica n° 70/2022
Editors: Elisabeth Kargl and Aurélie Le Née
Stichtag: 15.01.2021

Wie Alexandre Gefen in der Einleitung zu seinem Buch Inventer la vie schreibt, ist das biografische Genre derzeit nicht nur im filmischen, sondern auch im literarischen Bereich in Mode:

Während Kinoplakate für zahlreiche Biopics werben, erinnern uns die Schaufenster unserer Buchhandlungen an Verfasser von Nachrufen des 18. Jahrhunderts oder an die didaktischen Reihen der Klassiker des 19. Jahrhunderts: Wir erinnern uns an alles, wir lassen uns von den Toten beherrschen, wir bauen unsere Zukunft auf der Suche nach der Vergangenheit auf. Von Jean Rouaud bis Jacques Roubaud, von Patrick Modiano bis Antoine Volodine, von Pascal Quignard bis Pierre Michon, von Jean Echenoz bis zu den „Incultes“ werden heute die unterschiedlichsten „biografoiden“ Formen als Leben bezeichnet, von der reinen Autofiktion über die konventionelle Biographie bis hin zu historischen Romanen. [1]

Obwohl Alexandre Gefen hier nur französischsprachige Autoren zitiert, lässt sich seine Beobachtung zweifellos auf andere Sprachräume, insbesondere den deutschsprachigen, ausdehnen. Die 70. Ausgabe der Zeitschrift Germanica möchte sich nun diesem Genre, das seit zwanzig Jahren wieder auf öffentliches Interesse stößt, für den deutschsprachigen Raum widmen.[2]

Damit stellt sich auch die heikle Frage nach der passenden Terminologie. Das Zitat von Alexandre Gefen verdeutlicht die Vielfalt der Begriffe, die zur Bezeichnung dieser Art von Produktion verwendet werden: „Biopics“, „Leben“, „‘biografoide‘ Formen“, „Autofiktion“, „konventionelle Biografie“, zu denen man die Begriffe „fiktionalisierte Biografie“, „biografische Fiktion“, „Biofiktion“ und das aktuell gängige Substantiv „Exofiktion“ hinzufügen könnte.[3] Während die Definition eines Biopics als „filmisches Werk, in dessen Mittelpunkt die biografische Beschreibung einer wirklich existierenden Persönlichkeit steht“[4]  auf Einverständnis stößt und sich dieser Begriff seit den 1990er Jahren in der Filmwelt durchgesetzt hat, scheint im literarischen Bereich keine Einstimmigkeit bez. der Terminologie zu herrschen. Wie Florian Henke aufzeigt, kursieren im wissenschaftlichen Diskurs drei konkurrierende Begriffe: „Biofiction, aber auch fiction biographique oder biographie romancée sind zwischenzeitlich etablierte Untergattungen innerhalb der Gattung der Biografie.“[5] Hingegen hat die feuilletonistische Literaturkritik in den letzten Jahren das Konzept der „Exofiction“ eingeführt, um „literarische Texte zu beschreiben, die in expliziter Abgrenzung von der Praxis der autofiction Lebensgeschichten bekannter oder unbekannter Personen erzählen und dabei changieren zwischen Faktizität (Historiografik, Biografik) und Fiktionalität (Literatur), zwischen Dokumentation und projektiver Überformung“.[6] In allen Fällen gilt die komplexe Beziehung zwischen Realität und Fiktion als wesentlicher Ansatzpunkt für die geplante Ausgabe von Germanica.

Wir haben uns schlussendlich für den Begriff „biografische Fiktion“ entschieden, der sowohl für die literarischen als auch für die grafischen und filmischen Produktionen zutreffend zu sein scheint, die Fiktion und Realität in eine interessante Wechselbeziehung stellen. So wird dieser Begriff als die Erzählung des Lebens einer Person, die real existiert(e), verstanden, wobei diese Erzählung Fakten mit fiktionalen Elementen mischt, was zu einer Fiktionalisierung der realen Vita einer Person führt. Die biografische Fiktion unterscheidet sich somit von der historischen Biografie oder dem Dokumentarfilm. Sie wird hier auch nicht als die Erzählung des Lebens einer fiktiven Person verstanden, eine Definition, die ihr manchmal zugeschrieben wird,[7] und schließt auch die autofiktionale Erzählung nicht mit ein. Ziel ist vielmehr, die Behandlung von Lebensgeschichten in verschiedenen künstlerischen Formen zu hinterfragen, indem die Artikulation zwischen Realität und Fiktion (ihre Ursprünge und Auswirkungen) hervorgestrichen wird: in Literatur, Comics und Graphic Novels und Film von den 1990er Jahren bis heute, unter Berücksichtigung der Produktionen deutschsprachiger, aber auch nicht-deutschsprachiger Künstler, die sich mit dem Leben deutscher, österreichischer oder schweizerischer Persönlichkeiten auseinandersetzen, wie z. B. Andrea Wulf und Lillian Melchers Die Abenteuer des Alexander von Humboldt (2019) oder Raoul Pecks Der junge Karl Marx (2017). Es ist unmöglich, eine vollständige Liste des zu untersuchenden Korpus zu erstellen, dennoch können einige Titel erwähnt werden, wie Flughunde (1995) von Marcel Beyer, Hammerstein oder Der Eigensinn (2008) von Hans Magnus Enzensberger, Die Herrlichkeit des Lebens (2011) von Michael Kumpfmüller, Jägerstätter (2013) von Felix Mitterer, Sunset (2011) von Klaus Modick, Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft (2014) von Volker Weidermann in der Literatur;  Red rosa (2015) von Kate Evans,  El Ángel Dadá: venturas y desventuras de Emmy Ball-Hennings, creadora del Cabaret Voltaire (2017) von Fernando González Viñas und José Lázaro  (2020 von André Höchmer mit dem deutschen Titel Alles ist Dada) in den Graphic Novels; John Rabe (2009) von Florian Gallenberger, Elser (2015) von Oliver Hirschbiegel, Der Staat gegen Fritz Bauer (2015) von Lars Kraume, Sophie Scholl – Die letzten Tage (2005) von Marc Rothemund, Vor der Morgenröte – Stefan Zweig in Amerika (2016) von Maria Schrader, Paula (2016) von Christian Schwochow, Hannah Arendt (2012) von Margarethe von Trotta im Film.

Folgende Themenbereiche könnten in den Beiträgen behandelt werden:

  • eine Hinterfragung der ästhetischen Strategien des Genres, der Abgrenzung gegenüber dem Dokumentarfilm, der historischen Biografie usw.
  • die Frage nach der Inszenierung eines Kontexts, dem Verhältnis von Fiktion und Realität bzw. historischen/biografischen Fakten; Fiktionalisierung und Interpretation[8]
  • die Phänomene der Intermedialität (Prosatexte und deren Adaption in Comics oder deren filmische Umsetzung)
  • eine sozio-historische Vorgehensweise: welche Vita wird zu welchem Zeitpunkt thematisiert? Wie wird der historische Kontext interpretiert bzw. aktualisiert?
  • aus einer komparatistischen Perspektive: der Vergleich mehrerer biografischer Fiktionen über dieselbe Persönlichkeit, zum Beispiel der Roman Die Herrlichkeit des Lebens von Michael Kumpfmüller und die Graphic Novel Kafka (2013) von David Zane Mairowitz und Robert Crumb; der Film Hannah Arendt von Margarethe von Trotta und die Graphic Novel The Three Escapes of Hannah Arendt: A Tyranny of Truth (2018) von Ken Krimstein.
  • diachroner Ansatz: Vergleich von Filmen, Texten usw. über dieselbe Persönlichkeit zu verschiedenen Zeitpunkten (z.B. Sophie Scholl, Andreas Baader)
  • Einbezug des internationalen Kontextes: wie sehen Künstler anderer Nationalitäten deutschsprachige Persönlichkeiten (z.B. Rosa Luxemburg aus der Sicht von Kate Evans, Stefan und Lotte Zweig aus der Sicht von Laurent Seksik, Alexander von Humboldt aus der Sicht von Andrea Wulf)?

Einreichefrist und Abgabe

Bitte richten Sie Ihren Vorschlag (max. 1 Seite mit Kurzbiographie) bis zum 15. Januar 2021 an Elisabeth Kargl (elisabeth.kargl@univ-nantes.fr) und Aurélie Le Née (lenee@unistra.fr).

Die Ausgabe von Germanica erscheint im Juni 2022, und die Beiträge in deutscher oder französischer Sprache (max. 40 000 Zeichen) sollten der Redaktion bis spätestens 31. Oktober 2021 vorliegen.

  • Auswahlbibliografie :
  • Alain Buisine, „Biofictions“, in Revue des Sciences Humaines 224/1991, S. 7-13.
  • Robert Dion / Frédéric Regard (Hrsg.), Les nouelles écritures biographiques : La biographie d’écrivain dans ses reformulations contemporaines, Lyon, ENS Editions, 2013.
  • Robert Dion, Frances Fortier, Barbara Havercroft, Hans-Jürgen Lüsebrink (Hrsg.), Vies en récit. Formes littéraires et médiatiques de la biographie et de l’autobiographie, Québec, Nota Bene, 2007.
  • Rémi Fontanel (Hrsg.), Biopic : de la réalité à la fiction, Condé-sur-Noireau, Editions Charles Corlet, 2011.
  • Alexandre Gefen, Inventer une vie. La fabrique littéraire de l’individu, Bruxelles, Les impressions nouvelles, 2017.
  • Alexandre Gefen, „La fiction biographique, essai de définition et de typologie“, Otrante : art et littérature fantastiques, Paris, Kimé, 2004, 16.
  • Maximilian Gröne / Florian Henke (Hrsg.), Biographies médiatisées – Mediatisierte Lebensgeschichten. Medien, Genres, Formate und die Grenzen zwischen Identität, Biografie und Fiktionalisierung, Berlin, Peter Lang, 2019.
  • Thomas Keller, „Transkulturelle Biographik und Kulturgeschichte. Deutsch-französische Lebensgeschichten“, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Band 38, Heft 1, 2013, S.121-171.
  • Christian Klein (Hrsg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart / Weimar, Metzler, 2009.
  • Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a. M., Fischer, 2012.
  • Sigrid Nieberle, Literaturhistorische Filmbiographien. Literaturgeschichte und Autorschaft im Kino, Berlin/ New York, De Gruyter, 2008.
  • Projet de recherche de Julia Novak : Experiments in Life-Writing https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-319-55414-3 [28.09.20]
  • Diana Tappen-Scheuermann, Literarischer Narzissmus: Spiegelverhältnisse zwischen Autor, Text und Leser, Marburg, Tectum Verlag, 2012.
  • Henry M. Taylor, Rolle des Lebens. Die Filmbiographie als narratives System, Marburg, Schüren, 2002.
  • Philippe Vasset, „L’exofictif“, in Vacarmes 54/2011.

 


[1] „Alors que les affiches des salles de cinéma abondent en biopics, les vitrines de nos librairies nous rappellent les nécrologues du XVIIIe siècle ou encore les séries didactiques des panthéons du XIXe siècle : on y fait mémoire en toutes choses, on s’y laisse gouverner par les morts, on y construit le devenir par la quête de l’antérieur. De Jean Rouaud à Jacques Roubaud, de Patrick Modiano à Antoine Volodine, de Pascal Quignard à Pierre Michon, de Jean Echenoz aux ‘Incultes’, s’appellent désormais vie les formes ‘biographoïdes’ les plus variées, allant de l’autofiction pure à la biographie conventionnelle en passant par le roman historique.“ Alexandre Gefen, Inventer une vie. La fabrique littéraire de l’individu, Bruxelles, Les impressions nouvelles, 2015, S. 13. Alle Übersetzungen, wenn nicht anders angegeben, von Elisabeth Kargl und Aurélie Le Née.

[2] Über das Interesse des Publikums für die Gattung des Biopics, siehe Rémi Fontanel, „Préambule : La réalité sera toujours plus captivante…“, in Rémi Fontanel (dir.), Biopic : de la réalité à la fiction, Condé-sur-Noireau, Editions Charles Corlet, 2011, S. 18.

[3] Siehe z. B. Florian Henke, „Jenseits von autofiction und exofiction : Gattungshybridisierung in fiktionalen Metabiografien bei Pierre Michon und Emmanuel Carrère“, in Maximilian Gröne / Florian Henke (Hrsg.), Biographies médiatisées – Mediatisierte Lebensgeschichten. Medien, Genres, Formate und die Grenzen zwischen Identität, Biografie und Fiktionalisierung, Berlin, Peter Lang, 2019, S. 79.

[4] Une „œuvre filmique centrée sur la description biographique d’une personnalité ayant réellement existé“. In Rémi Fontanel, a. a. O., S. 13.

[5] Florian Henke, a.a.O., S. 84.

[6] Ebd., S. 83.

[7] „Récit fictionnel qu’un écrivain fait de la vie d’un personnage, qu’il ait ou non existé, en mettant l’accent sur la singularité d’une existence individuelle et la continuité d’une personnalité“ in Alexandre Gefen, „La fiction biographique, essai de définition et de typologie“, Otrante : art et littérature fantastiques, Paris, Kimé, 2004, 16, S. 12.

[8] Philippe Vasset definiert die „exofiction“ als eine „littérature qui mêle au récit du réel tel qu’il est celui des fantasmes de ceux qui le font“ („L’exofictif“, in Vacarmes 54/2011).