CFP: Landkarten und Zeitleisten: zur Funktion von Bildern in der Literaturgeschichte

Publication
Germanica 71/2022
Stichtag: 15.07.2021

Als Versuche, die Beziehungen zwischen den Akteuren der Literaturgeschichte zu modellisieren, werden literarische Netzwerke gerne in Schemata oder Graphiken dargestellt, die den literarhistorischen Texten beigegeben sind.1 Ein Netzwerk kann jedoch auch als Metapher angesehen werden, so dass ihm die grundsätzliche Ambivalenz eines Bildes eignet: es ist sowohl Metapher als auch Repräsentation. So ist der Begriff »Netzwerk« von der Frage nach der Repräsentation der Literaturgeschichte und der Repräsentation in den Literaturgeschichten nicht zu trennen. Er zwingt auch dazu, eine der Literaturgeschichte inhärente Schreibweise näher zu befragen, in der die Erzählung mit begrifflichen oder modellartigen Bildern verbunden wird, oder aber sich die Veranschaulichung komplexer Phänomene zum Ziel setzt, wobei man sich zwischen einer literarischen Schreibkunst, einem wissenschaftlichen Diskurs2 und pädagogischen Motiven bewegt. Die Feldtheorie beispielsweise, das von Pierre Bourdieu3 entwickelte Modell der Literaturgeschichte, beruht auf einer als Begriff gebrauchten Metapher, die zahlreiche Schemata hervorbringt, von denen die einzelnen Kapitel der Regeln der Kunst begleitet werden. Als eine besondere Form gelehrten Schreibens nimmt die Literarhistorie Anleihen bei verschiedenen Disziplinen, im Besonderen bei der Literatur, der Soziologie, der Anthropologie (Trautmann-Waller 2018), der Didaktik und der Geschichte.

Die Ausgabe der Zeitschrift Germanica wird dieser Vielfalt möglicher Aktualisierungen des Bildbegriffs in der Literaturgeschichtsschreibung gewidmet sein, wobei zwei vorherrschende Repräsentationsweisen zu unterscheiden sind und als Ausgangspunkte dienen mögen: die Landkarte und die Zeitleiste. Tatsächlich lassen sich in der heutigen akademischen Literaturgeschichtsschreibung zwei Tendenzen ausmachen. Die erste schließt an die Arbeiten der Literaturgeographie an (Moretti 1997, Schmitz-Emans 2005, Piatti 2008), und geht auf Franco Morettis provozierendes Buch Graphs, Maps, Trees : Abstract Models for a Literary History (2005) zurück. Die zweite lehnt sich mehr an Hollier (1989) oder Wellberry (2004) an, bei denen die Literaturgeschichte die Form einer Chronik annimmt und versucht, der Singularität des literarischen Ereignisses Rechnung zu tragen und das Verhältnis des einzelnen Werks zur Geschichte in Form von Konstellationen oder benjaminischen Tigersprüngen zu erfassen (Wellbery 21, 15)4. Gegenstand der Beiträge könnten unter anderem verschiedene Bilder sein, die die Diskurse der Literaturgeschichte bzw. der Literaturgeschichten als Schemata, Begriffe und Metaphern durchziehen, begleiten oder beherrschen. Als Quellen können Handbücher dienen, Paratexte verschiedenartiger Werke, Anthologien oder auch fiktionale Werke, ob sie nun von Wissenschaftlern, mehr oder weniger populär agierenden Literaturvermittlern, Übersetzern oder Schriftstellern hervorgebracht wurden. Im Anschluss an den Begriff des »Netzwerks« könnte man sich Begriffen wie »Gruppe«, »Bewegung«, »Strömung« und anderen maritimen und fluvialen Metaphern zuwenden ; zu denken wäre auch an das Bild des »Museums« und an die Bezeichnung »Archiv« oder »Bibliothek« für Anthologien und damit verwandte Formen. Auch die Umkehrung der Beziehung zwischen Erzählung und räumlicher Repräsentation in topographischen Darstellungen der Literatur, etwa in Gestalt von Atlanten oder Reiseführern, die den Begriff des Erinnerungsortes verwenden, könnte untersucht werden4.

Mit der Untersuchung ihrer bildlichen Sprache soll ein wichtiger Aspekt der Literaturgeschichtsschreibung erschlossen werden, die hier als eine Gattung für sich und als ein Ort aufgefasst wird, an dem literarisches Wissen erzeugt und vermittelt wird.

Bitte richten Sie Ihren Vorschlag (max. 1 Seite mit Kurzbiographie) bis zum 15. Juli 2021 an Bénédicte Terrisse (benedicte.terrisse@univ-nantes.fr) und Werner Wögerbauer (werner.woegerbauer@univ-nantes.fr).

Die Ausgabe von Germanica erscheint im Dezember 2022, und die Beiträge in deutscher oder französischer Sprache (max. 40 000 Zeichen) sollten der Redaktion bis spätestens 15. Mai 2022 vorliegen.

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Bibliographie

  • BERENDSE, Gerrit-Jan: Die „Sächsische Dichterschule”. Lyrik in der DDR der sechziger und siebziger Jahre. Frankfurt am Main, Peter Lang, 1990.
  • BOURDIEU, Pierre: Les Règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire. Paris, Seuil, 1992.
  • BUSCHMEIER, Matthias / ERHART, Walter / KAUFFMANN, Kai (Hrsg.): Literaturgeschichte. Theorien, Modelle, Pratiken. Berlin, de Gruyter, 2014.
  • GOODWIN, Jonathan / HOLBO John (Hrsg.): Reading Graphs, maps, trees: responses to Franco Moretti. Anderson S.C., Parlor Press, 2011.
  • HOLLIER, Denis (Hrsg.): A New History of French Literature. Harvard, Harvard University Press, 1989.
  • JAUSS, Hans-Robert: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1970, S. 144-207.
  • JEANNELLE, Jean-Louis (dir.), Fictions d’histoire littéraire. La Licorne 86 (2009), Rennes, PUR, 2009.
  • MACE, Marielle : « “La valeur a goût de temps”, Bourdieu historien des possibles littéraires », Fabula-LhT, n° zéro, « Théorie et histoire littéraire », février 2005, URL : http://www.fabula.org/lht/0/Mace.html, page consultée le 11 avril 2020
  • MORETTI, Franco : Atlante del romanzo europeo. Turin, Giulio Einaudi editore, 1997.
  • MORETTI, Franco: Graphs, Maps, Trees: abstract models for a literary history. London, New York, Verso, 2005.
  • OBERHAUSER, Fred/ OBERHAUSER Gabriele, Literarischer Führer durch die Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1974.
  • PIATTI, Barbara : Die Geographie der Literatur. Göttingen, Wallstein, 2008.
  • PURNELLE, Gérald/ DOZO, Björn-Olav : « L’apport des revues et de la statistique à l’approche des réseaux », in Delphine de Marneffe et Benoît Denis (éd.) : Les Réseaux littéraires. Bruxelles, Le CRI / CIEL, 2006, p. 151-174.
  • RAUCH, Marja / GEISENHANSLÜKE, Achim (Hrsg.): Texte zur Theorie und Didaktik der Literaturgeschichte. Stuttgart, Reclam, 2012.
  • SCHMITZ-EMANS, Monika, „Topographien der Weltliteratur: ‘Museum’, ‘Atlas’, ‘Luftfracht’ und ‘Imaginäre Bibliothek’”, in Hartmut Böhme (Hrsg.), Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Stuttgart, Weimar, Metzler, 2005, S. 371-392.
  • TRAUTMANN-WALLER, Céline: „Weltliteratur ‘aus dem Dorf’? Milan Parrys oral-formulaic Theory in wissenschaftsgeschichtlicher und kulturdiagnostischer Perspektive”, Weimarer Beiträge 64 (2018) 3, S. 325-341.
  • WELLBERY, David E./ Judith Ryan/ Hans Ulrich Gumbrecht, Anton Kaes, Joseph Leo Koerner / Dorothea E. von Mücke (dir.) : A New History of German Literature. Cambridge, Harvard University Press, 2004.

Endnoten

1 Vgl. Gerrit-Jan Berendse, Diagramm 1, Diagramm 2, in: Die „Sächsische Dichterschule” Lyrik in der DDR der sechziger und siebziger Jahre. Frankfurt am Main, Peter Lang, 1990, S. 2 u. 3. Gérald Purnelle/ Björn-Olav Dozo, « L’apport des revues et de la statistique à l’approche des réseaux », in: Delphine de Marneffe / Benoît Denis (Hrsg.): Les Réseaux littéraires, Le CRI / CIEL, 2006, p. 151-174.

2 Vgl. dazu den Call for papers von Sarah Neelsen und Julia Prager « Organitechnoscience. Organicité et technicité dans le discours de la littérature », https://ages-info.org/de/2019/06/17/deutsch-cfp_organitechnoscience-orga…, abgerufen am 7. 7. 2020.

3 Marielle Macé, „ “La valeur a goût de temps”, Bourdieu historien des possibles littéraires“, Fabula-LhT, n° zéro, „Théorie et histoire littéraire“, Februar 2005, URL : http://www.fabula.org/lht/0/Mace.html, abgerufen am 11. 4. 2020.

4 Vgl. z.B. Fred Oberhauser/ Gabriele Oberhauser, Literarischer Führer durch die Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main, Insel, 1974.