CFP: Posthumanistische Narrationen und Narratologien

Workshop
Auftaktworkshop zur Konstitution und Vorbereitung eines DFG-Netzwerks
Dr. Charlotte Coch
Universität zu Köln
September 2023
Stichtag: 10.04.2023

In den unter dem Stichwort ‚Posthumanismus‘ zusammenzufassenden philosophischen und kulturwissenschaftlichen Strömungen der jüngeren Zeit taucht beständig der Begriff des Narrativs oder des narrativen Elements auf. Einerseits werden in einem kritischen Außenblick die Häufung katastrophischer Narrative innerhalb des posthumanistischen und neu-materialistischen Diskurses beobachtet, gleichzeitig wird von den Vertreter:innen eines neuen Verhältnisses zur Technik und/oder zur Natur das Narrative als Alternative zu einem logisch-szientifischen Weltverhältnis imaginiert, welches die Entfremdung zwischen Mensch, Tier und Natur vertieft und allererst hervorgerufen hat.

Dies ist insbesondere bemerkenswert, insofern die erzählerische Aktivität in der Konzeption des homo narrans (Walter Fisher) gleichzeitig als Urszene des Menschlichen gilt. Diese Bestimmung des Erzählens als eigentliche Distinktion des Humanen bildet nach wie vor den Ausgangspunkt auch neuerer Ansätze der Narratologie (z.B. Koschorkes Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie [2012]). Selbst David Hermans Buch Narratology beyond the Human. Storytelling and Animal Life (2018) bezieht sich auf die strukturalistische Terminologie von Gérard Genette, die zwar mit der Technisierung des erzähltheoretischen Vokabulars eine potentielle Erweiterung der erzählerischen Agentialität andeutet, diese angesichts der zentralen Stellung einer Kategorie wie ‚Stimme‘ jedoch wieder zurücknimmt.

Angesichts der Bedeutung des Narrativen in posthumanistischen Diskursen und der zahlreichen Versuche literarischer Texten, eine nicht-menschliche Erzählperspektive zu entwickeln, etwa tierische Erzählperspektiven wie Kafkas Forschungen eines Hundes (1922), Woolfs Flush (1933); oder Jakob Noltes Schreckliche Gewalten (2017), dingliche Erzählperspektiven wie Otoos Adas Raum sowie Algorithmen wie Meckels Next (2011) und Edelbauers Dave (2020), gilt es, die Konzeption, Ein- und Abgrenzung des Erzählens von anderen diskursiven und epistemischen kulturellen Aktivitäten und damit auch die narratologische Theoretisierung des Erzählens einer grundlegenden Revision zu unterziehen. Ist der Aktivität des Erzählen eine anthropomorphisierende Tendenz inhärent? Oder ist diese vielmehr Resultat einer noch im Humanen verhafteten narratologischen Theoretisierung des Erzählens?

Eine entscheidende Rolle für die Bearbeitung solcher Fragen im 21. Jahrhundert spielt die Frage nach der Medialität und Technizität des Erzählens, welche von den strukturalistisch operierenden narratologischen Terminologien gerade ausgeblendet wird. In der Rede vom Erzählen etwa in Bezug auf Filme, Serien, Comics, sogar einzelne Bilder drohen mediale Eigenlogiken zu verschwimmen. Angesichts der drängenden Frage nach dem erzählerischen Potential algorithmisch gesteuerter (deep learning) oder gerade ungesteuerter Prozesse (glitches) ist es notwendig, den Beitrag der menschlichen Akteure neu zu definieren, sei es als Datenlieferant:innen, Rezipient:innen oder Programmierer:innen. Ein Rückblick auf die materielle Medienkommunikationsgeschichte des Erzählens, in ihren Brüchen, Kontinuitäten und Latenzen, von der Mündlichkeit über den Buchdruck bis hin zur Digitalisierung trägt dazu bei, je spezifische mediale Eigenlogiken des Erzählerischen für historische und aktuelle Zeiträume zu beschreiben, den darin ermöglichten Raum für (menschliche) Souveränität auszuloten und die wechselseitigen Beziehungen zwischen technisch-medial-materiellen Milieus des Erzählens und seiner (post)humanen Akteurslogik terminologisch zu erfassen.

Eine umfassende Neubewertung und -konzeption des Narrativen in Form einer posthumanistischen Narratologie widmet sich dieser Unternehmung und verspricht damit eine wesentliche Bereicherung zweier Forschungsbereiche:

  1. eine Theoretisierung des ‚Narrativs‘ differenziert das verschwimmende Verhältnis von Humanismus und (kritischem) Posthumanismus als Frage nach spezifischen Prozessen, Verfahrensweisen, Kommunikationstechniken und Epistemologien aus
  2. die posthumanistische Perspektive bietet konkretes Potenzial einer medien- und techniksensiblen Weiterentwicklung der oft kritisierten aber nie maßgeblich revidierten narratologisch-strukturalistischen Begrifflichkeiten

Der geplante Workshop dient als Auftakt und erste Konzeption eines zu beantragenden DFG-Netzwerks zu „Posthumanistische Narrationen und Narratologien“. Gesucht werden interessierte Wissenschaftler:innen aus den Bereichen Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften, Ethnologie, Soziologie, Anthropologie und Informatik, die sich, vorbehaltlich eines erfolgreichen Förderantrags, für einen Zeitraum von etwa drei Jahren aus einer literatur- oder kulturwissenschaftlichen, soziologischen, ethnologisch oder anthropologischen oder auch technischen Perspektive mit Praktiken und Theorien posthumanen Erzählens und posthumaner Narratologie beschäftigen möchten.

Im Rahmen des Auftakt-Workshop, der im September 2023 an der Universität zu Köln stattfinden wird, werden Beiträge zu Fallstudien aus dem Bereich Literatur, Film, bildliche ‚Erzählungen‘ [z.B. Comics] aber auch posthumanistische Diskursbeiträge gesucht, die nicht-menschliche, also tierische, dingliche, künstliche oder natürliche Erzählinstanzen präsentieren und die sich insofern zu einer Revision und Neukonzeption des narratologischen Vokabulars eignen. Mittel zur Förderung der Reise- und Unterbringungskosten werden beantragt, können aber noch nicht zugesichert werden. Interessierte schicken bis zum 10. April 2023 ein Abstract (max. 300 Wörter) mit einem Themenvorschlag und kurzen biographischen Angaben im Rahmen der skizzierten Fragestellungen an charlotte.coch@uni-koeln.de.

Literatur:

  • Rosi Braidotti: The Posthuman. Cambridge 2013.
  • Bruce Clarke: Posthuman Metamorphosis. Narrative and Systems. New York 2008.
  • Brigitte Georgi-Findlay, Katja Kanzler (Hg.): Mensch, Maschine, Maschinenmenschen. Multidisziplinäre Perspektiven auf die Serie Westworld. Wiesbaden 2018.
  • Gérard Genette: Die Erzählung. München 1994.
  • Christa Grewe-Volpp und Evi Zemanek (Hg.): Mensch – Maschine – Materie – Tier. Entwürfe posthumaner Interaktionen. Berlin 2016.
  • N. Katherine Hayles: How we became posthuman. Chicago 1999.
  • N. Katherine Hayles: Writing Machines. Cambridge 2002.
  • David Herman: Narratology Beyond the Human. Storytelling and Animal Life. Oxford 2018.
  • Peter Hühn (Hg.): Handbook of Narratology. Berlin 2009.
  • Bernhard Irrgang: Posthumanes Menschsein? Künstliche Intelligenz, Cyberspace, Roboter, Cyborgs und Designer-Menschen. Anthropologie des künstlichen Menschen im 21. Jahrhundert. Stuttgart 2005.
  • Daniel Kehlmann: Mein Algorithmus und Ich. Stuttgarter Zukunftsrede. Stuttgart 2021.
  • Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt am Main 2012.
  • Matias Martinez (Hg.): Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2017.
  • Corinna Müller, Irina Scheidgen (Hg.): Mediale Ordnungen. Erzählen, Archivieren, Beschreiben. (Schriftenreihe der Gesellschaft für Medienwissenschaft 15). Marburg 2007.
  • Ansgar Nünning, Vera Nünning (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier 2002.
  • Dominik Orth, Michael Scheffel, Wolf Christoph Seifert: Zukunft erzählen. Special Issue Diegesis, Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung/Interdisciplinary E-Journal for Narrative Research, Vol. 9 (2020) Nr. 1, S. 1-109.
  • Nicolas Pethes: Posthumanismus. In: Benjamin Bühler, Stefan Willer (Hg.): Futurologien: Ordnungen des Zukunftswissen. Berlin 2015, S. 363–378.
  • Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.): Algorithmuskulturen. Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit. Bielefeld 2017.
  • Sheryl Vint: Bodies of Tomorrow. Technology, Subjectivity, Science Fiction. Toronto 2006.