Rezension: Martin Schüwer: Wie Comics erzählen

Rezension zu Martin Schüwer: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur. Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier 2008 (WVT Handbücher und Studien zur Medienkulturwissenschaft 1). 574 S., zahlr. Ill. € 59,50.

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Stattliche 574 Seiten Umfang und das satte Gewicht von einem Kilogramm bringt eine neue, im Anspruch grundlegende Arbeit zur Comic-Narratologie in ihrer Geburtsurkunde mit: Martin Schüwers 2008 als Buch erschienene Gießener Dissertation von 2006. Das äußere Signalement und der Titel sowie vor allem der Untertitel des zugleich eine neue Reihe Handbücher und Studien zur Medienkulturwissenschaft eröffnenden Bandes markieren kein geringes Selbstverständnis.

Der Aufriß von Schüwers Studie ist nicht konsequent systematisch aus einem einzigen theoretischen Modell deduziert. Das ist ebenso festzuhalten, wie es keineswegs etwa von vornherein gegen die Konzeption der Untersuchung spricht. Schüwer lässt sich vor allem für die erste (größere) Hälfte seiner Studie wesentlich inspirieren von Gilles Deleuzes Arbeiten (1983/85) zur Filmtheorie. Deren Leitkategorien ‚image-mouvement‘ und ‚image-temps‘ geben die Richtung an: Einer „Theorie des visuellen Erzählens“ wird die Aufgabe gestellt, „das Verhältnis von senso-motorischem Bild und Zeitbild [zu] untersuchen“ (35). Gemeinsam mit dem sich gewissermaßen selbsttätig hinzufügenden Aspekt ‚Raum‘ bilden also ‚Bewegung‘ und ‚Zeit‘ die ersten drei Kapitel des Untersuchungsganges (Kap. 2 bis 4). Die zweite Hälfte von Wie Comics erzählen erörtert die Übertragbarkeit philologisch-narratologischer Begriffe auf die Befunde der graphischen Literatur und orientiert sich stärker als an Deleuze z. T. an Scott McClouds Buch Understanding Comics (1993), bei dem sich Schüwer, der als Anglist übrigens den größten Teil seines Belegmaterials aus der neueren englisch-amerikanischen Comicliteratur bezieht, freilich schon in Kap. 2 und 4 gelegentlich Unterstützung geholt hatte (Kap. 5). Ein resümierendes und perspektivierendes Kap. 6, einige Exkurse, Farbtafeln sowie drei Register (die jeder Benutzer mit Dank begrüßen wird) beschließen die Studie. – Was erbringt die Untersuchung nun?

Das relativ kurze Kapitel über ‚Bewegung‘ (41–82) erarbeitet im Blick auf die Darstellung von Handlungsvorgängen im einzelnen Panel als originellsten Befund eine Dichotomie von Bewegungswechsel und Zwischenbewegung; Erkenntnisse der Sportpsychologie ergänzen hier in glücklicher Weise einige Vorgaben aus der französischen Philosophie. Der operative Wert der Dichotomie wird unmittelbar einsichtig. Auch die Unterscheidung von Bewegungs- und Fließlinien verdient herausgehoben und festgehalten zu werden.

Erheblich umfangreicher präsentiert sich das anschließende Kapitel über den Parameter ‚Raum‘ (83–207). Henri Bergson, im Gefolge Deleuzes zum wichtigen Gewährsmann Schüwers aufgerückt, liefert den Grundriss zumindest für die ersten beiden Abschnitte, insofern „eine jede bildliche Raumdarstellung“, so das Urteil nach einem Bergson-Referat, „die Beziehung zwischen Betrachter und dargestelltem Raum einerseits und die Beziehung zwischen diskontinuierlichen Körpern und homogenem Raum andererseits“ gestalte (87). Im Hinblick auf den ersten Aspekt buchstabiert Schüwer mit Unterstützung der kunstgeschichtlichen Spezialforschung und didaktischer Begeisterung Ein-, Zwei- und Dreifluchtpunkt-Perspektiven sowie Parallelperspektiven und ‚planimetrische‘ Räume auseinander; sehr glücklich gewählte Beispiele von Little Nemo bis zur League of Extraordinary Gentlemen dienen als Demonstrationsmaterial. Die Ausführungen über die Beziehung zwischen Raum und Körper als den zweiten Aspekt erbringen das Begriffspaar ‚Aggregatraum‘ / ‚Systemraum‘, das die jeweilige Dominanz von Raum oder Körper erfasst und dessen Beschreibungsdienlichkeit die künftige Forschung gleichfalls nutzen sollte. Beide Aspekte nimmt Schüwer anschließend noch einmal und gemeinsam auf, um die Formen comicspezifischer Raumdarstellung genauer zu erfassen. Hier gibt der dem jeweiligen Panel zuschreibbare ‚implizierte Beobachter‘ (der nicht mit einem impliziten oder realen Leser identisch wäre, 198) auch Anlass, nach point of view und Subjektivitätsgraden der Bildsicht sowie der Rahmung zu fragen, dies mit etlichen filmisch orientierten Seitenblicken und Anleihen.

Stärker als die Ausführungen über den Raum unterstellt sich das Kapitel ‚Zeit‘ (209–302) den Vorgaben Deleuzes. Leitfaden von Schüwers Argumentation ist nun das Theorem, in erzählenden Bildmedien gebe es neben den die Narration wesentlich tragenden ‚Bewegungs-‘ oder ‚senso-motorischen Bildern‘ noch „übergeordnete Strukturen abstrakter Natur (etwa Korrespondenz- und Kontrastrelationen), die die Handlung organisieren“ und die generell mit dem Begriff des ‚Zeitbildes‘ zu erfassen seien (210). Ein derartiges ‚Zeitbild‘ sieht Schüwer in dem die lineare Sequenz der Einzelpanel überformenden Layout der Comicseite. Die dichotomische Spannung zwischen Sequenz und Tableau (die sich übrigens in den hier praktisch unberücksichtigt gelassenen dailies nicht findet) wird in eine durch Benoît Peeters (1991) inspirierte Matrix aus vier Varianten umkonstruiert (213). Weiter befasst das Kapitel sich mit so unterschiedlich auf die Kategorie der Zeit zu beziehenden Phänomenen wie den motivischen Spiegelungen innerhalb eines Werks, den Rückblenden auf vergangene Ereignisse der dargestellten Welt und den Dialogen von Werken mit ihren Prototexten – intra- und intertextuellen Befunden mithin, die hier sämtlich unter den Begriff des kulturellen Gedächtnisses und die entsprechende Theoriebildung subsumiert werden. Schließlich kommt Schüwer über die Technik der Montage und ihre Formen wieder auf sein von Deleuze übernommenes Konzept des ‚Zeitbildes‘ zurück.

Das letzte große, besonders lange Kapitel der Studie (Kap. 5, 303–478) behandelt Fragen und Aspekte, die man innerhalb der Narratologie als grundlegender noch denn Raum-, Zeit- und Bewegungsdarstellung ansehen (und die man daher eigentlich in einem ersten Kapitel erwartet haben) würde. Für die fundamentalen Dinge, um die es gehen soll, nämlich das ‚Wie‘ und das ‚Was‘ des Erzählens, Erzählinstanz, Fokalisierung und ähnliches, wählt Schüwer einen eigentümlich dilatorischen Einstieg beim Verhältnis von Bild und Sprache (bzw. Schrift) mit Beispielen aus der Geschichte der graphischen Literatur. Das hat freilich System, wie sich bald zeigt, denn die Gesamtheit der Theorieargumentation soll aus den Wort-Bild-Interaktionen des Mediums heraus entfaltet werden. Im zentralen und deshalb auch mit gut sechzig Seiten besonders umfänglichen Abschnitt des Kapitels geht es um die Frage, die sich seit langem ähnlich auch der Filmtheorie stellt, ob Comics nach dem Vorbild literarischer Erzählwerke prinzipiell eine Erzählerfigur als Vermittlungsinstanz zuzuschreiben wäre. Wir erhalten eine eigentümliche Antwort: Einen Erzähler hat die graphische Literatur nur in jenen Passagen, genauer noch: an jenen Stellen, wo narrativer Blocktext vorliegt, sei Erzählen doch grundsätzlich an Sprache gebunden; sämtliche Bildanteile haben nicht nur keinen Erzähler, sie erzählen eigentlich überhaupt nicht, sondern bieten einem ‚implizierten Betrachter‘ eine ‚visuelle Inszenierung‘. Ist damit in Kategorien Gérard Genettes (1972) die ‚Stimme‘ für den Comic nur im einzelnen und besonderen Fall vorhanden, so soll gleichwohl die ‚Fokalisierung‘, freilich beschränkt auf externe und interne Fokalisierung, in beiden Fällen zum Tragen kommen. Wie das Kapitel mit Erörterungen über Bild und Sprache begann, wie es diese Frage dann zum Leitfaden seiner Prüfung der Nutzbarkeit narratologischer Elemente (großenteils) der Genette-Schule machte, so schließt es mit Überlegungen zum Wort in der inszenatorischen und in der diegetischen Dimension sowie zu weiteren Punkten der verbal-ikonischen Hybridisierung.

Damit sei – auch wenn das Buch hier noch keineswegs seinen Schluss hat – das Referat von Wie Comics erzählen beendet. Es wird deutlich geworden sein, dass Schüwers Studie außerordentlich viele Aspekte ihres Themas anspricht. Dabei kommt sie zu Befunden, die sowohl in sachlicher als auch nicht zuletzt in terminologischer Hinsicht für die künftige Forschung fruchtbar werden können. Das gilt zuvörderst, wenn auch nicht nur, für die glänzenden Kapitel über Bewegung und Raum. Vielleicht noch stärker als mit seiner theoretischen Argumentation wirkt das Buch allerdings durch seine zahlreichen Einzelanalysen und Werkinterpretationen, die von stupender Aufmerksamkeit und beeindruckender Sensibilität zeugen. Damit aber entsteht auf die Länge fatalerweise der Eindruck, die Beispiele müssten der Theorie immer wieder zu Hilfe eilen. Jedenfalls erklärt sich der enorme Umfang von Schüwers Studie nicht aus einer bloßen Reichhaltigkeit systematischer Reflexion.

Diese, die Theoriearbeit also, zeigt eine auffällige Dispersion, deren Charakter das Referat demonstriert haben wird. Zwar spricht, wie gesagt, zunächst nichts gegen eine solche Konzeption, aber nach dem Durchgang durch die Untersuchung dürfte dem Leser diese Form des Zugriffs doch etwas unbefriedigend erscheinen. Vor allem mit dem Kapitel ‚Zeit‘ und seinen diversen ganz verschiedenen Zeitbegriffen will man nicht recht glücklich werden. Hier wirkt sich der permanente Rückgriff auf das wahrlich nicht unproblematische Philosophieren Deleuzes stärker als sonst in der Studie aus. Gerade in diesem Kapitel aber auch muss man verwundert konstatieren, wie wenig offen Schüwer sich für gängige Konzepte oder Befunde der Literaturwissenschaft zeigt. Was in der Art einer Neuentdeckung unter dem Titel des ‚Zeitbildes‘ als Komplex von Superstrukturen atemporalen Typs (‚Korrespondenz- und Kontrastrelationen‘) im Comic ausgemacht wird, ist ein von der Theorie des literarischen Kunstwerks derart breit erörtertes Phänomen, dass man über den Gestus von Wie Comics erzählen an solchen Stellen nur staunen kann. Ähnlich die Vernetzung durch und Spiegelung über (Leit-)Motive, seit der Romantik eine strukturelle Option (nicht nur) der Literatur und als eine solche Schüwer offenbar unbekannt. An sich könnte nun zwar die Subsumption solcher Phänomene (zusammen mit prima vista ganz anderen Werkelementen wie Rückblenden, Anspielungen oder Dialogizität) unter ein neues übergreifendes Konzept zu einem erkenntnismächtigen Blick auf die Dinge führen; dass aber hierfür, wie die Studie vorschlägt, ausgerechnet der gegenwärtige Diskurs über das Gedächtnis das geeignete Organon wäre, darf bei der geringen Theoriekomplexität der einschlägigen Arbeiten von Maurice Halbwachs bis Aleida Assmann auf jeden Fall bezweifelt werden.

Eigentümlich quer zur literaturwissenschaftlichen Praxis steht auch die mehr oder weniger unausgesprochene Grundannahme der Studie, Werke erzählenden Typs fielen mit Haut und Haaren in das Feld der Narratologie als der für sie einzig zuständigen Disziplin. Besonders auffällig wird diese Meinung, wenn etwa eine Fußnote beklagt, „die translineare Struktur narrativer Texte [sei] ein Stiefkind der Erzählforschung“ (257). Derartige Strukturen, das ist communis opinio der Literaturwissenschaft, gehören vielmehr überhaupt nicht in die Erzählforschung. Es gibt sogar mehr als einen Grund für die Auffassung, das Wichtigste an einem Roman (und dann eben auch an einem Comic) sei mit den Instrumenten der Narratologie gerade nicht zu erschließen: Thema, Bedeutung, ästhetische Strukturen, Stil, um nur diese zu nennen, sind ebenso relevante Aspekte eines Werks wie Objekte jeweils einer eigenen, der Narratologie gleichberechtigten Teildisziplin. Der etwas diffuse Eindruck, den Wie Comics erzählen aller auch vorzüglichen Leistungen zum Trotz immer wieder macht, entspringt solchem Missverständnis, die Erzählforschung müsse sich mit allem beschäftigen, was sich in narrativen Comics nur so finden lässt.

Ein Wort sei abschließend noch zu Kap. 5 und damit zu dem Transfer einiger Konzepte der literaturwissenschaftlichen Narratologie auf die Verhältnisse im Comic gesagt – ein kurzes Wort nur, denn eigentlich wäre hier eine Stellungnahme von Aufsatzlänge vonnöten. Schüwer bekennt sich mehrfach zur kognitivistischen Wende der Erzählforschung (z. B. 28, 201, 389). Dennoch sieht er sich offenbar genötigt, die aus der ‚klassischen‘ Narratologie der Literaturwissenschaft stammenden Kommunikationsmodelle zu übernehmen. Die Modifikationen, denen er für die Bedürfnisse seines Mediums diese Modellierungen unterzieht (405–410), vermögen nun allerdings gar nicht zu überzeugen. Dies kann hier, wie gesagt, im einzelnen nicht mehr erörtert werden. Nur eins, als Beispiel: Eine nicht nur für den Film so wichtige Kategorie wie diejenige der ‚communicativeness‘ in Narration in the Fiction Film (1985) von David Bordwell, einem Autor, dessen Linien Schüwer doch wohl folgen will, verliert jedes Fundament, wenn man einen einheitlichen Ursprung der Aussage durch zwei sachlich (und logisch!) ganz verschiedene Instanzen wie den Erzähler und die Inszenierung ersetzt.

Wie Comics erzählen ist also nicht das Referenzwerk geworden, das neue Standards auf allen entscheidenden Gebieten seines Gegenstandes setzte. Unumgänglich wird die Studie für die Diskussion der Parameter Bewegung und Raum bleiben, das darf man wohl prognostizieren. In ihren anderen Teilen ist sie meist anregend, auch herausfordernd, mit vielen bedenkenswerten Befunden auf dem langen und gewundenen Gang ihrer Argumentation, aber auch mit überraschenden Einseitigkeiten und Schwächen.

Günter Dammann (Hamburg)

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