Die Redaktion der Gesellschaft für Comicforschung wünscht ihren Leser_innen und Freund_innen nachträglich noch einmal einen guten Jahresstart. Auch zu diesem Jahreswechsel möchten wir uns an den Listen aus Leseempfehlungen beteiligen, die man zum Jahreswechsel allerorts finden kann (hier geht es zu Leseempfehlungen der Vorjahre 2014-2016). Unter der Redaktion von Lukas R.A. Wilde haben wir unsere Mitglieder um ganz und gar subjektive Lektüretipps gebeten, die aus den vergangenen zwölf Monaten im Gedächtnis geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer. Im Folgenden also einige Notizen zum Comicjahr 2017!
Juliane Blank
Literaturwissenschaftlerin (Germanistik), Universität des Saarlandes
Manuele Fior: D’Orsay-Variationen
Avant-Verlag
Auch wenn es sich um ein Auftragswerk des Musée d’Orsay handelt, erzählt der Comic nicht einfach die Geschichte des Museums. Stattdessen träumt sich Fior einen Streifzug durch die Kunstgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zusammen – und zwar ganz wörtlich. Die von den Besucher*innen und den Gemälden genervte Museumswärterin schläft während der Arbeit ein und sieht im Traum ‚ihre‘ Künstler, die sie so gut kennt: In Momentaufnahmen wird gezeigt, wie sich die impressionistischen Künstler*innen um Edgar Degas darüber streiten, ob Kunst in der Natur oder im Museum von den ‚Klassikern‘ gelernt wird. Was hier in Variationen durchgespielt wird, ist die Frage nach der Dynamik von Ablehnung und Verehrung, nach den Mechanismen der Zuschreibung von Kanon und Avantgarde. Die Anekdoten, die Fior erzählt, sind nicht immer belegt; aber der Band ist auch kein Lehrbuch der Kunstgeschichte. Er zeigt vielmehr, wieviel Bewegung in der Kunstgeschichte ist, die uns heute so fixiert und scheinbar unumstößlich entgegen tritt, zumal im Museum. Dabei sieht der Comic auch noch wunderschön aus. Fior demonstriert einmal mehr seine Spezialität, durch Variation des visuellen Stils zu erzählen. Die Überblendungen zwischen verschiedenen Bilderwelten lassen die Leser*innen abtauchen in den Traum von der Kunst, aber auch immer wieder in ihrer eigenen Welt aufwachen – vielleicht mit einem neuen Blick.
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Tillmann Courth
Comicjournalist und Blogger (COMIXENE, Comicoskop, tillmanncourth.de)
Emil Ferris: My Favorite Thing is Monsters
Fantagraphics
Das ganze Jahr schon mache ich Propaganda für dieses US-amerikanische Werk, das aus dem Nichts kam. Mein Comic des Jahres 2017! Die Comicdebütantin Ferris legt einen 380-Seiten-Klotz vor, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat: ein höchst eigenwillig illustriertes Werk um ein Mädchen aus Chicago, das im Jahr 1968 mit ihrer sexuellen Identität ringt und ihre Umwelt wie einen düsteren Horror-Krimi wahrnimmt. Auf liniertem und gelochtem Schreibheftpapier (!) breitet Ferris mit feinem Buntstift ein Panoptikum der Zeit und ein Sittengemälde der Nachbarschaft aus. Protagonistin Karen fantasiert sich aus ihrem elenden Unterschichten-Alltag heraus, indem sie sich in Kunst flüchtet, Selbstermächtigung aus Horror-Trash gewinnt und als kecke Detektivin einem realen Mordfall nachgeht. Dabei kommen noch dunkle Geheimnisse zu Tage, die bis in ein deutsches Konzentrationslager zurückreichen. Das alles klingt wahnsinnig verblasen, therapeutisch und anspruchsvoll. Dank der Brille der Naivität, durch die Karen blickt, kann Ferris jedoch ihre Themen federleicht und mit viel trockenem Witz jonglieren. My Favorite Thing is Monsters bewältigt auf spielerische Weise, woran sich Dutzende Kunstcomicschaffende die Zähne ausgebissen haben: ein popkulturelles, genderbewusstes, zeitkritisches Familiendrama mit Humor! Für mich ist dieser Comic „the great American GRAPHIC novel“ (eine extensive Besprechung findet sich auf meinem Kulturblog).
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