Rezension: Frank Leinen/Guido Rings (Hg.): Bilderwelten – Textwelten – Comicwelten.

Frank Leinen/Guido Rings (Hg.): Bilderwelten – Textwelten – Comicwelten. Romanistische Begegnungen mit der Neunten Kunst. München: Martin Meidenhauer 2007. 386 S., zahlr. Ill. € 59,90.

Druckfassung (pdf)

rez_leinen2007

Der vorliegende Band geht auf eine Sektion des XXIX. Deutschen Romanistentages zurück, der Ende September 2005 unter dem Titel “Europa und die romanische Welt” in Saarbrücken stattfand. Ein erster Vergleich der insgesamt 16 Beiträge von “Bilderwelten – Textwelten – Comicwelten” mit dem Programm der titelgleichen Sektion 25 des Romanistentages zeigt, daß zwischen Veranstaltung und Publikation etliche Veränderungen eingetreten sind: Von den ohnehin nur zehn Vorträgen in Saarbrücken haben lediglich sieben den Weg ins Buch gefunden, nicht weniger als neun Aufsätze erscheinen mithin neu jedenfalls gegenüber den im Netz zugänglichen Unterlagen des Kongresses von 2005.

Mehrere der nun vorliegenden (in Deutsch, Spanisch, Französisch, Italienisch und Englisch geschriebenen) Beiträge befassen sich monographisch mit einem Autor oder einer Serie aus dem frankophonen Bereich, darunter Rodolphe Töpffers “Bilderromanen” und Marc-Antoine Mathieus Acquefacques-Alben. Gewichtig vertreten sind auch die spanischsprachigen Beispiele vom Argentinier H. G. Oesterheld über F. Ibañez’ “Mortadela y Filemón” bis wieder zum Argentinier R. Fontanarrosa. Nur ein Aufsatz ist Portugal mit einer hierzulande wenig bekannten Trilogie gewidmet. Etliche Beiträge gehen ihren Gegenstand in Gestalt von umfänglicheren Korpora aus verschiedenen Autoren und diversen Serien unter geschichtlichem oder sozialkulturellem Aspekt an; solche Themen sind der spanische Comic im franquismo bis zur Mitte der fünfziger Jahre, die Jugendpresse und ihre bandes dessinées im NS-besetzten Frankreich oder die Unterscheidung von individuellen und kollektiven Helden in argentinischen Bildgeschichten. Eine historisch begründete Korpusbildung findet sich auch im (einzigen Italien ins Blick nehmenden) Aufsatz über die politisch inspirierte Gruppe der 77er Protestbewegung. Generisch ist das Material ausgewählt im Fall von Comics mit Stoffen aus dem Mittelalter. Andere in der Sache eher problemorientierte Beiträge stellen sich ihre Demonstrationsobjekte meist beliebiger zusammen; so finden sich unter postkolonialen oder formgeschichtlichen Fragestellungen verschiedenartigste Werke und Serien in überraschender Nachbarschaft. Eine einzige linguistisch- semiotische Formanalyse strengeren Zuschnitts stützt sich auf ein Album aus der “Gaston”-Reihe.

Ein reichhaltiges Angebot, wie man sieht. Nicht zuletzt gibt (und das ist ganz unironisch gemeint) der Service der jeweiligen Literatur- und Quellenverweise eine willkommene Übersicht über den Stand der Comicforschung in der Romania. Die Aufsätze selbst indes fallen, wie kaum anders zu erwarten, in Zugriff und Qualität unterschiedlich aus.

In der zu Themenvorschlägen einladenden Ankündigung der Sektion 25 hatten die jetzigen Herausgeber als zwei besonders erwünschte Bereiche “(post-)moderne Gestaltungs- und Erzählverfahren” sowie “Experiment und Innovation” genannt. Das sieht ein wenig so aus, als hätte sie der Mut, Comics in die Veranstaltung einer Standesorganisation zu tragen, alsbald wieder zur Hälfte verlassen. Etwas high-brow sollte es dann doch wohl sein, wie bezeichnenderweise der Mitherausgeber Frank Leinen demonstriert, der über Marc-Antoine Mathieu und seinen “Julius Corentin Acquefacques, prisonnier de rêves” (1990-2004) handelt, Bildgeschichten mit einer Figur, deren Name ein Palindrom des Namens Kafka ist; Mathieus Serie gehört denn auch nach Leinens Fazit zu den “herausragenden autoreferentiellen und subversiven Kunstwerken der Postmoderne” (259). Ansprüche an ihr Publikum stellen wohl ebenso die drei Bände der ihrerseits postmodernen Detektivserie “As aventuras de Filipe Seems” (1993-2003) von Nuno Artur Silva und António Jorge Gonçalves, die Dietmar Frenz einer informativen Analyse unterzieht. Hartmut Nonnenmacher hat sich mit der Metalepse, einer gleichfalls anspruchsvollen Figur, in der mit den Grenzen zwischen der inner- und der außerfiktionalen Wirklichkeit gespielt wird, ein aktuelles Lieblingskind der Narratologie ausgesucht und demonstriert deren Varianten nun allerdings an einer Reihe populärer Comics von Daniel Torres’ “Roco Vargas” aus den achtziger Jahren bis zu Benoît Sokals “L’Affaire belge” (2005).

Bietet “Bilderwelten – Textwelten – Comicwelten” mit den genannten Aufsätzen gut nachvollziehbare Untersuchungen im ersten thematischen Feld der Saarbrückener Sektion, so läßt sich dies von Martina Hertrampfs Beitrag “PHOTO-COMIC-ROMAN und COMIC-PHOTO-ROMAN” über u. a. Schuiten / Peeters, Jean Teulé und Guibert / Lefèvre / Lemercier ganz und gar nicht sagen. Der Aufsatz (und das rechtfertigt eine etwas längere Einlassung) ist eines der nicht seltenen Beispiele für jene Arbeiten, die den Anspruch der ihrem Gegenstand immanenten Komplexität und Hybridisierung als Erlaubnis für Stringenzlosigkeit in Terminologie und Argumentation nehmen. Typisch schon, daß Hertrampf die Begriffe mise en abyme und Dekonstruktion unsinnig verwendet (291); wenn an der gleichen Stelle der Photo-Roman einerseits Merkmale wie “Brechung und Fragmentarisierung” zugeschrieben erhält, verwundern andererseits der adversative Beginn des Folgesatzes und überhaupt der ganze Satz: “Doch der scheinbar so realistische [??] Eindruck der Bilder trügt in vielerlei Hinsicht”. Daß “ein unsichtbar werdendes Subjekt in ein referentenloses Objekt transponiert” werden kann, wäre semiotisch möglicherweise mit Schwierigkeiten beschreibbar (ich würde mich der Aufgabe nicht gern unterziehen), ist im Kontext der Ausführungen 295 aber sowieso reiner Unsinn. Qualitäten wie “synthetisch” und “analytisch” werden Bildern nach unplausiblen Strukturbefunden zugesprochen (295 u. 304), bei der Dichotomie von “analog” und “digital” scheint die Kenntnis zu fehlen, daß sie im technischen und im semiotischen Sprachgebrauch völlig verschiedene Dinge meinen (299), und wenn von “syntagmatische[r] Lektüre” bzw. deren Verhinderung die Rede ist, liegt komplettes Mißverstehen vor (301). Zudem enthält Hertrampfs Aufsatz grobe sprachliche Schnitzer, auch sie leider beispielhaft für nicht wenige heutige Verlautbarungen in und aus dem universitären Raum. Immer geht es um den Genitiv, der nicht am Dativ stirbt, wie ein populärer Slogan es will, sondern der hier umgekehrt dem dritten Fall den Garaus macht. Wenn etwas “neben seines quantitativen Ausmaßes” sich auch durch mehr auszeichnet (289) oder ein Erzähler “entgegen der offensichtlichen Bezüge” noch anderes sagt (291) oder ein Autor “[g]emäß des Objektivitäts- und Authentizitätsanspruchs” etwas tut (304), dann weiß der in der akademischen Lehre erfahrene Leser sich hier auf schmerzlich-unglückliche Weise zu Hause. Des Flickwortes “diesbezüglich” (291 u. 308, also in moderater Frequenz) bedürfte es da nicht mehr. Das Monitum geht aber an die Herausgeber: Wer einen eigentlich zur Veröffentlichung ungeeigneten Beitrag dennoch der Öffentlichkeit vorlegen will, muß sich eben die Mühe machen, ihn mit großer Sorgfalt selbst zu redigieren.

Nicht ganz glücklich wird man auch mit Guido Rings über Rodolphe Töpffer und dessen “Les amours de M. Vieux-Bois” (1827, Erstdruck 1837). Vor allem leidet die Darstellung, die unter dem Titel “Gebrochene Romantik” steht, an einem unklaren Romantik-Konzept, das bei Rings einerseits, dem zeitgenössischen Gebrauch folgend, d. h. dem Gebrauch der Zeitgenossen Töpffers folgend, Liebe zum Mittelalter (oder gar zum Rokoko?) meint, unter dem andererseits aber auch die Bewegung der Chateaubriand und Hugo mit all ihren auf die Moderne vorausweisenden ästhetischen Implikationen verstanden wird. Gute Befunde wie der, daß Töpffers Werk manches mit der Boulevardkomödie seiner Zeit gemein habe, drohen zudem im willkürlichen Zitieren nicht naheliegender Quellen unterzugehen.

Am überzeugendsten wirken jene Arbeiten, die wie die Beiträge von Jessamy Harvey und Joachim Sistig erkennbar aus umfangreicheren historischen Materialstudien erwachsen sind und die (wie Harvey) ein differenziertes Bild der zunehmenden Reglementierung des Lesestoffes für Kinder und Jugendliche im Spanien der fünfziger Jahre bzw. (wie Sistig) im Frankreich unter der Occupation zeichnen. Andere Aufsätze, die sich nüchtern an (einfacheren oder einfacher rekonstruierten) historischen Konstellationen orientieren, sind Monica Borias Beitrag “Il Movimento del Settantasette e il fumetto” über die Gruppe um Andrea Pazienza und Stefano Tamburini sowie Maria Noriega Sánchez’ und Alicia Peña Calvos Analyse des Albums “Mortadelo de la Mancha” (2000) aus Francisco Ibañez’ Serie “Mortadelo y Filemón”, deren Entwicklung seit 1958 einleitend knapp skizziert wird. Während das Interesse der beiden spanischen Forscherinnen vornehmlich am Einsatz des Comics im Fremdsprachenunterricht besteht, geht es Oliver Emanuel in seinem gleichfalls lesenswerten Beitrag über dieselbe, in Deutschland bekanntlich unter dem Titel “Clever & Smart” sehr erfolgreiche, Serie um das Stereotyp des “Deutschen” in den jüngeren Episoden. “Imagologische Dimensionen” hatte die Einladung zur Sektion 25 seinerzeit unmittelbar hinter den Stichworten ” (Post-)Moderne” und “Innovation” angefordert. So befaßt sich denn auch Ian Horton mit “Colonialist Stereotypes in Innovative European Comic Books”, wobei freilich das Korpus (“Astérix”, “Victor”, Moebius, Alan Moore) recht beliebig bleibt und den Schluß, “that the colonial past is a more problematic topic for mainstream French comic books than it is for British ones” (138), wohl kaum ausreichend stützen kann.

Auf verschiedene Weise etwas isoliert wirken der erste und der letzte Aufsatz von “Bilderwelten – Textwelten – Comicwelten”. Albert Barrera-Vidal präsentiert recht schematisch die Ergebnisse einer breiten Untersuchung über ein umfassendes Korpus von historischen Comics über das Mittelalter, Mechtild Bierbach fragt nach den Wirkungen der Onomatopoetika in Comics und setzt zwar nur geringes Belegmaterial (zwei Passagen aus einem “Gaston”-Album André Franquins), aber einen breiteren methodischen Hintergrund aus Linguistik, Semiotik und Kognitivistik ein.

Im imagologischen Zusammenhang befindet man sich in gewisser Weise auch in den jenseits wissenschaftlicher Kategorien wohl bewegendsten Beiträgen des Bandes. Es sind die beiden von Ricardo Feierstein und von Liliana Ruth Feierstein verfaßten Aufsätze. Präludiert werden sie von Susanne Schütz’ kenntnisreicher und informativer Darstellung der seit 1972 in Argentinien erscheinenden, die Gaucho-Kultur parodierenden (und für Ausländer vermutlich kaum zugänglichen) Serie “Inodoro Pereyra” von Roberto Fontanarrosa, die nach einer neueren Umfrage als der viertbeliebteste Comic des Landes gelten kann. Ricardo Feierstein, für den die Nutzung von Stereotypen im Comic rezeptionsästhetisch nötig ist, auch wenn sie in manchen Fällen rassistische Resultate zeitigen mag, führt das von Schütz begonnene Bild weiter aus mit der Analyse komplexer Identitätsspiele im argentinischen Comic (ein Beispiel auch aus “Mafalda”) sowie einer Unterscheidung von Individualheld und Gruppenheld; als Fluchtpunkt dieser Differenzierung erscheint das Oeuvre von Héctor G. Oesterheld, der dann ganz im Zentrum des Beitrags von Liliana Ruth Feierstein steht. Was einen Europäer dabei in bewegender Weise anspricht (und die im Aufsatz eigentlich leitende Frage, ob Oesterheld und sein “Eternauta” mit Kafka in einen Modellvergleich gestellt werden können, nebensächlich macht), ist die geradezu stupende Bedeutung, die Comics offensichtlich für die politischen Positionsbestimmungen und vor allem für die Selbstverständigung der Demokraten und Linken während der furchtbaren Militärdiktatur in den siebziger und achtziger Jahren in Argentinien haben. Zwischen den Zeilen zu lesen, welche Rolle der vermutlich 1978 als “Verschwundener” heimlich ermordete Autor und Zeichner Oesterheld heute für die Erinnerungskultur der Überlebenden spielt, macht mit einer Dimension der “Comicwelten” bekannt, die, wenn gebührend zur Kenntnis genommen, es künftig unmöglich machen sollte, der Gattung (oder dem Medium) noch einmal mit dem Trivialitätsverdacht zu begegnen.

Als zum Romanistentag eingeladen wurde, wiesen die jetzigen Herausgeber auf das “wachsende Angebot an romanistischen Lehrveranstaltungen zu Comics” hin. Das mochte auch damals eher Wunsch als Wirklichkeit und in der Absicht gesagt sein, die Sektion überhaupt durchzusetzen. So formulieren Leinen und Rings in der Einleitung zum vorliegenden Band denn zutreffender: “Während Filmanalysen in romanistischen Lehrveranstaltungen mittlerweile zum Alltag zählen, sind Seminare, die sich mit Comics beschäftigen, noch vergleichsweise selten” (12). Daß die schmale Sektion von 2005 sich zügig zu einem stattlichen Buch gemausert hat, ist jenseits des einen oder anderen kritischen Einwands gegen diesen Band vielleicht ein Indiz, daß die in der Romania so wesentlichen Bildgeschichten in der universitären Romanistik in Deutschland allmählich zu einem obligatorischen Lehrangebot avancieren. Ein Motiv dafür sollte es aber auf jeden Fall sein.

Günter Dammann (Hamburg)

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *