COMFOR-LESEEMPFEHLUNGEN 2020 (Teil 1/3)

Die Redaktion der Gesellschaft für Comicforschung wünscht ihren Leser_innen  und Freund_innen einen guten Start ins neue Jahr!

Auch 2020 ist, ob man es glaubt oder nicht, vorbei. Ob wir neben allem anderen auch noch Zeit zum Lesen hatten, sei mal dahingestellt. Zumindest konnten wir aber den Blick zur Genüge über das heimische Bücherregal schweifen lassen – und wie jedes Jahr wollen wir den Leser_innen des ComFor-Blogs auch diesen Winter wieder aktuelle Leseempfehlungen von Comicforscher_innen präsentieren. (Die Leseempfehlungen der letzten Jahre finden sich hier.)

Auch dieses Jahr haben wir unsere Mitglieder unter der Redaktion von Robin-M. Aust und Michaela Schober um ganz subjektive Lektüretipps gebeten, die aus den vergangenen zwölf Monaten im Gedächtnis geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer.

Anders als in den letzten Jahren haben wir uns dieses Jahr entschieden, die Empfehlungen auf mehrere Posts aufzuteilen, um den einzelnen Beiträgen mehr Raum bieten zu können. Hier also nun der erste Teil – der zweite und dritte folgen in Kürze!

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Jörn Ahrens

Professor für Kultursoziologie, Justus Liebig Universität Giessen

 

Uli Oesterle: Vatermilch. Buch 1: Die Irrfahrten des Rufus Himmelstoß

Mit Vatermilch legt Uli Oesterle eine atemberaubende, auf vier Bände angelegte Autofiktion vor. Darin erzählt er die Geschichte seines Vaters und zugleich seine eigene und nennt dies im Nachwort eine „fiktive Biografie“. Dieses sehr persönliche Nachwort verleiht dem Buch das Air der Authentizität, was zweifellos zu dessen Faszination beiträgt. Zugleich fiktionalisiert Oesterle programmatisch und ganz offensichtlich, sodass nie wirklich unterscheidbar ist, wo die Erinnerung in Fiktion übergeht oder Fiktion zu Erinnerung wird. Wie er selbst über das von ihm Erdichtete schreibt: „Jedes einzelne Wort davon ist wahr“. Schöner wurde der Wahrheitsanspruch von Erinnerung selten dekonstruiert, in einer chronologischen und dennoch elliptischen Erzählung. Insbesondere ist dieser Comic auch eine Augenweide. Wo es um den Vater geht, in den 1970er Jahren angesiedelt, reicht die Ästhetik zurück bis in Designs der 1950er und 60er Jahre. Oesterle arbeitet im Grundsatz in schwarz-weiß, zumeist unterlegt mit einer Variation an Grautönen; mal löst er Panelstrukturen auf, mal lässt er Konturlinien weg, sodass die Bilder aussehen, wie Illustrationen aus Kinderbüchern jener Zeit. Erzählt er von der Gegenwart, markiert Oesterle diese Zeitspur mit einem Lilaton, der nichts schönt. Auch seinem Alter Ego schenkt er nichts. Ein großer Comic, auf dessen Fortsetzung man sehr gespannt sein darf.

 

Hub: Schlange und Speer. Teil 1: Schatten-Berg

Mit seiner neuen Serie entwirft Hub eine im Grunde klassisch angelegte Kriminalgeschichte im Reich der Azteken. Außerhalb der Hauptstadt werden Mumien offenbar ermordeter und verunstalteter Mädchen gefunden. Die Mumien und das dahinter stehende Verbrechen sind unheimlich und erschrecken den Vizekönig zutiefst, der einen skrupellosen Sonderermittler beauftragt, die Fälle zu klären. Zugleich ist ein Hohepriester aufgeschreckt von den Vorfällen und beauftragt seinerseits einen Vertrauten mit Ermittlungen. Erzählerisch wie auch in den Zeichnungen ist der Franzose Hub ein Routinier. Da gibt es keinen unnötigen Originalitätswillen. Die Zeichnungen dienen der Geschichte, die klassisch filmisch gebauten Panels unterstreichen die Spannung und den Verlauf der Geschichte. Die wiederum ist ebenso schnörkellos wie gekonnt erzählt. Spannung baut Hub gleich auf mehreren Ebenen auf. Nicht nur gilt es, das Geheimnis der Mumien aufzuklären, auch zwischen den drei Protagonisten gibt es eine Verbindung, die im ersten, voluminösen Band (von dreien) nur angedeutet wird. Die für die Azteken unbedeutende Jahreszahl 1454 zeigt an, dass die Erzählzeit noch deutlich vor Einsetzen der Invasion durch die Spanier liegt. Ein gelungener Band für eine unterhaltsame Abendlektüre.

 

Sylvain Runberg / Francois Miville-Deschenes: Zaroff

Da gab es 1932 die Verfilmung einer Kurzgeschichte von 1924, The Most Dangerous Game, worin Schiffbrüchige auf eine Insel geraten und dort von einem Lebemann wie Wild gejagt werden, dem exilierten russischen Aristokraten Zaroff. Sowohl das Buch als auch diese, scheinbar bekannteste, Filmadaption enden mit dem Tod des Übeltäters. Variationen gab es einige, ob man das alles kennen muss, ist fraglich. Nun folgt eine Variante für den Comic, die eine Fortsetzung entwirft, worin Zaroff überlebt und eine neue Insel bezogen hat. Darin verfolgt die Tochter eines der Opfer seiner Spur, bis sie nicht nur das Inselversteck aufspürt, sondern auch die Familie seiner Schwester. Zaroffs Unglück ist, dass jenes Opfer selbst ein Gangsterboss war, weshalb die Tochter über die nötigen Mittel verfügt, Zaroffs Schwester und ihre drei Kinder auf dessen Insel zu verfrachten und dort selbst zu Objekten eines Jagdspiels zu machen – entweder Zaroff findet sie zuerst oder die Männer der Tochter töten sie. Nun beginnt eine atemlose Jagd durch den Dschungel. Das ist spannend und geradlinig erzählt. Und auch wenn der Realismus der Figuren zuweilen etwas steif wirkt, ist das Dschungel-Ambiente grandios in Szene gesetzt. Zaroff ist ein klassischer Genre-Comic, der, um der stilistischen Geradlinigkeit willen, auch vor Klischees nicht zurückscheut. Gerade das macht ihn aber aufregend und angesichts des offenen Endes wünscht man sich gleich eine Fortsetzung.

 

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Romain Becker

 

Moreil, Roxanne; Pedrosa, Cyril, L’âge d’or. Volume 2, Aire Libre

Klar, L’Âge d’Or ist eine klassische, unterhaltsame Fantasy-Geschichte, in der es um Ritter, Kriege und Schätze geht; sie ist aber auch viel mehr. Einerseits ist da Cyril Pedrosas wundervoller und unvergesslicher Zeichenstil, der hervorragend zur Atmosphäre passt. Inspiriert von mittelalterlichen Wandteppichen und von klassischen Disney-Filmen (der Künstler hat übrigens eine Zeit lang bei Disney als Trickfilm-Animator gearbeitet), mit satten und teils surrealen Farben koloriert, sind die auf Doppelseiten dargestellten Landschaften und Schlachten wahrhaftig beeindruckend – das übergroße Format spielt hierbei auch eine Rolle. Hinzu kommt, dass Pedrosa hier – in mittelalterlicher Manier – im Allgemeinen wenig Panels verwendet und lieber seine Figuren auf ein- und derselben Seite mehrfach durchs Bild laufen lässt: So ist wirklich jede Seite des Comics ein Augenschmaus. Andererseits hinterlässt aber auch die Geschichte, für die Roxanne Moreil und Pedrosa zusammen verantwortlich sind, einen bleibenden Eindruck. Denn die an sich schon interessanten Intrigen rund um die Thronanwärterin Tilda sind eigentlich eine Metapher für die politische und soziale Situation Frankreichs (und anderer Länder): So kann man beispielsweise in den Bauern Gelbwesten und in Tildas Kontrahent*innen und Gefährt*innen verschiedene politische Parteien und Ideologien erkennen. Wie bereits der erste, ist dieser zweite Teil von L’Âge d’Or, der nächstes Jahr auch auf Deutsch (Das Goldene Zeitalter), nämlich bei Reprodukt, erscheinen soll, ein mitreißendes und zutiefst engagiertes Werk.

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Helene Bongers

Kunsthistorikerin, Freie Universität Berlin

 

Hannah Brinkmann: Gegen mein Gewissen

Brinkmann verarbeitet die eigene Familienhistorie und bettet die Biografie ihres Onkels in den gesellschaftlichen und politischen Diskurs um die Kriegsdienstverweigerung im Deutschland der 1960er und 1970er Jahre ein. Der 18-jährige Hermann ist Pazifist und verweigert den Kriegsdienst. Trotz der Verweigerung und eines erniedrigenden und laufenden Verfahrens wird er zum Wehrdienst eingezogen. In der Folge begeht er Suizid. Die Familie sieht in Hermanns Suizid das Versagen des gesellschaftspolitischen Systems. Brinkmanns Spurensuche drückt sich in der Darstellung von Dokumenten, Fotografien und Briefen aus, geht aber darüber hinaus. Sie lässt das bürgerliche Nachkriegsdeutschland anhand von Orten, wie die Kneipe Kehrwieder und das Haus der Großeltern, visuell auferstehen. Interieur- und Gegenstandsdarstellungen, beispielsweise die Libelle in Plexiglas, werden detailreich und wirklichkeitsnah ausgearbeitet. Dieses Abarbeiten an den Oberflächen wird durch die Ästhetik der Bilder unterstützt. Der monochrome Einsatz gedeckter Farben und die klaren schwarzen Konturen generieren eine Flachheit, die in einem spannungsreichen Kontrast zu den Darstellungen des Innenlebens des Protagonisten stehen. Besonders eindrucksvoll ist dabei die formal und inhaltlich zentrale Sequenz der gerichtlichen Anhörung: Die Angst und der Schmerz des Protagonisten werden durch psychedelische Kompositionen vermittelt. Der Schmerz wird körperlich und die Körperlichkeit wird visuell seziert. Am Ende bleibt die Wut über eine Zeit, in der Gesellschaft und politisches System noch eng mit der Nazivergangenheit verbunden waren und das Grundgesetz sich gegen die Menschen wendete. Ein erschütterndes Kapitel des jungen Nachkriegsdeutschlands, bildgewaltig umgesetzt.

 

Melanie Garanin: NILS. Von Tod und Wut. Und von Mut

NILS ist Garanins autobiografische Chronik über die Leukämieerkrankung und den Tod ihres jüngsten Sohnes. Sie umspannt mehrere Jahre und begleitet die Familie aus Sicht der Mutter und Künstlerin durch die Diagnose, den Krankheitsverlauf, den Tod und vor allem auch durch das erste Trauerjahr. Mitweilen humorvoll schafft die Künstlerin Zeichnungen, die eindrucksvoll den Schmerz, die Ohnmacht und den Kontrollverlust und gleichsam die gesellschaftliche ausgesparte Alltäglichkeit und Normalität von Krankheit und Tod vermitteln. Die Dokumentation des Krankheitsverlaufs beinhaltet auch die Krankenhausaufenthalte, die endlosen Gespräche mit den Ärzt*innen, die rechtlichen Folgen und die Friedhofsbesuche. Die Erzählung wird von einer fantastischen Kinderwelt überformt: die Ärzt*innen haben Namen wie Frau Antibiotika-Aber, Tiere und Gegenstände werden zum Leben erweckt und helfen der Protagonistin wie auch uns als Rezipient*innen, das Leid zu ertragen. Die humorvoll detaillierten lavierten Zeichnungen beinhalten kleine Vögel mit Ritterhelmen und Laserschwertern oder die diskutierende Schreibtischlampe, die für die Protagonistin einsteht. Sie erinnern an Sven Nordquists Illustrationen von Pettersson und Findus und greifen Nils‘ kindliche Perspektive innerhalb des ausgewachsenen Leids auf. Diesem fantastischen Realismus folgt auch das bewegende letzte Kapitel, in dem die Künstlerin zu einer Katharsis führt, die sie nur innerhalb ihrer Zeichnungen eigenständig konstruieren kann. Zeichnen fungiert bei Garanin als Trauerbewältigung und Tabubruch.

 

Bernd Kissel und Marc-Uwe Kling: Die Känguru-Comics

Seit Dezember durchbricht auf Zeit Online ein Webcomic in klassischer Comicstrip-Ästhetik das tägliche Doomscolling. Bernd Kissel gewährt dem prominentesten Beuteltier Deutschlands nach Buch, Radio und Film nun auch den Einzug in das Medium Comic. Mit subversiver Leichtigkeit gehen das Känguru und der befreundete Kleinkünstler durch den Corona-Alltag dieses Jahres. Die lakonischen Kommentare zu Kinderbetreuung, Verschwörungstheorien, einschlägigen Videokonferenzplattfomen, Schlangestehen vor dem Späti oder vollen U-Bahnen verpacken eine Prise erbauliche Gesellschaftskritik in kurze und kurzweilige Strips und Tableaus. Formal orientieren sich die Känguru-Comics nostalgisch an klassischen Formaten der Druckpresse: samstags erscheint ein farbiges Tableau im Stil einer ganzseitigen Wochenendbeilage, werktags ein einzeiliger Strip monochrom in Schwarzweiß und Grau. Erstere sind besonders gut für die Rezeption auf dem Smartphone geeignet, letztere für die Rezeption am PC. Kissels Umsetzung von Klings abgeschlossenen Kurzerzählungen zeichnen sich durch aufmerksamen Detailreichtum in Kombination mit reduzierter Strichführung aus, die an Calvin und Hobbes von Bill Watterson erinnert. Insgesamt sind die kurzen Reflexionen des tagesaktuellen großstädtischen Alltags erfrischend und eignen sich als humorvolle Abwechslung zur Lockdown-Depressivität am Ende des Jahres 2020.

 

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Ole Frahm

Literaturwissenschaftler, Arbeitsstelle für Graphische Literatur (ArGL) Hamburg

Rutu Modan: Tunnel

Wenige Tage vor Weihnachten trudelte Rutu Modans neue Graphic Novel ein. Sieben Jahre ist die Veröffentlichung von Das Erbe her, sieben Jahre hat sie an diesen 275 Seiten gearbeitet. Am Ende des Bandes ist eine Liste der Menschen, die für sie die vielen verschiedenen Figuren dargestellt haben – wen das an Hergé erinnert, liegt richtig, denn Zeichenstil, aber auch Figurenrepertoire orientieren sich an der ligne claire, nur dass in der komplexen Welt Israels alles nicht ganz so klar ist. Anders gesagt: 44 Jahre nach dem letzten Tim und Struppi-Album Tim und die Picaros schließt Modan da an. Es gibt verrückte Wissenschaftler, zwielichtige Händler und die karge Landschaft, wie sie aus Im Reiche des schwarzen Goldes oder auch Die Zigarren des Pharaos bekannt ist. Doch tritt auch der Islamische Staat auf, die Mauer, die Israel von der Westbank trennt, spielt ihre Rolle und die sagenumwobende, seit Jahrtausenden verschollene Bundeslade dient als Handlungstreiber. Kurzum: es ist die beste Graphic Novel, die ich seit langem gelesen habe.

 

Paul C. Tumey: Srewball. The Cartoonists who Made the Funnies Funny

Mit einiger Verzögerung ist bei mir wiederum dieser sehr schöne quadratische Band angekommen, der in die frühe Zeit der Comics zurückführt. Neben alten Bekannten wie Frederick Burr Opper oder E.C. Segar, gleichwohl mit Material aus dem Archiv, das wenig wahrgenommen wurde, gibt es tolle Zeichnende zu entdecken wie Clare Victor Dwiggins alias ‚Dwig’ oder George ‚Swan’ Swanson, der so tolle Titel wie Nonsense und $alesman $am gezeichnet hat. Tumeys Texte stehen in der Tradition von Coulton Waugh mit vielen unerlässlichen Informationen, kurzum ein Muß für alle, die sich entfernt für die Geschichte der Comics vor 1939 interessieren.

 

Linda Berry: Making Comics.

Dieser Band wurde mir in dem Hamburger Comic-Laden meines Vertrauens empfohlen und ich habe das nicht bereut. Linda Berry ist eh großartig und hier faßt sie ihre Lehre als Comic-Zeichnerin an der University of Wisconsin-Madison in wunderbare Text-Bild-Seiten zusammen. Ihre Aufgaben für die angehenden Zeichner*innen sind auch ohne Ergebnisse unterhaltsam zu lesen, weil sie die Möglichkeiten der Comics elegant nebenher aufzeigen. „My way of teaching comics is not about developing characters, it’s about waiting to see who shows up in certain circumstances“. Und entsprechend wartet die Sektion über Monster mit sehr lustigen Gefährten auf – um dann auf Batman zu kommen. Für Comic-Forschende eine, wie ich meine, notwendige Ergänzung für jeden Blick auf dieses seltsame Medium.