Neues aus der ComFor

ComFor-Leseempfehlungen 2023

Auch in diesem Jahr wünscht die Redaktion und der Vorstand der Gesellschaft für Comicforschung all ihren Leser_innen  und Freund_innen einen guten Start ins neue Jahr 2024 und präsentiert zu diesem Anlass wieder aktuelle Leseempfehlungen von Comicforscher_innen, die wir zum Jahresabschluss gesammelt haben. (Die Leseempfehlungen der letzten Jahre finden sich hier.) Viele unserer Mitglieder haben uns erneut ganz subjektive Lektüretipps geschickt, die aus den vergangenen zwölf Monaten im Gedächtnis geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer. Darunter haben sich auch ein, zwei Titel eingeschlichen, die bereits zuvor publiziert worden sind, aber in diesem Jahr nochmal besonders im Gedächtnis geblieben sind.

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Aleta-Amirée von Holzen

Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM

Rina Jost: Weg

WegIn ihrem beeindruckenden Graphic-Novel-Debüt lässt die Rina Jost ihre Protagonistin eine fantastische Reise erleben, die offen als Metapher steht für die Frage, wie man mit der Depression eines geliebten Menschen umgehen kann. Die Schweizer Künstlerin konnte eigene Erfahrungen in die Fiktion einfliessen lassen und hat die komplexe Thematik kreativ und einprägsam, doch stets zugänglich umgesetzt. Am Anfang wirkt die Redensart «in einer Depression versinken» sozusagen buchstäblich: Malins Schwester Sibyl mutiert von einem Deckenberg zu einem Felsen und versinkt durch ihre Matratze. Malin taucht hinterher und landet in fantastischen Gefilden. Hier versucht sie, Sybil zu finden – diese ist jedoch stets schon weitergegangen. Doch hat Malin zumindest in Dackel Wilma eine treue Begleiterin, während sie diese surreale Welt durchstreift und auf Figuren trifft, die oft mythologische Anspielungen verkörpern. Für den wohl eindrücklichsten Schreckensmoment sorgen die schwarzen Raben, die Malins Angst verkörpern, selbst an einer Depression zu erkranken. Schliesslich muss sie erkennen, dass sie ihrer Schwester eigentlich nicht helfen kann und jeder seinen Weg selber finden muss. Malins Reise zieht einen durch die sympathische Hauptfigur, die fantasievollen Stationen und allem voran ihrer Bildmächtigkeit in ihren Bann. Die Texte dazu sind knapp formuliert, und so erhält die Geschichte eine erzählerische Leichtfüssigkeit, die aber die Gewichtigkeit des Themas nicht untergräbt – womit «Weg» durchaus auch schon eine kindlich-jugendliche Leserschaft anspricht.

Flore Vesco und Kerascoët, aus dem Französischen von Ulrich Profröck: Mit Mantel und Worten

Mit Mantel und Worten«Majestät, ihr seid noch bezaubernder als eine Espalüne!» Mit diesem extravaganten Kompliment sichert sich Serine, die Tochter eines verarmten Landadeligen, im barocken Frankreich überraschend eine Stellung als Hofdame der Königin. Obwohl niemand weiss, was das von Serine spontan erfundene Wort bezeichnet, wird es sofort der Hit im höfischen Getue. Trotz der Gunst der launischen Königin erkennt Serine bald, dass sich hinter den Oberflächlichkeiten des Hoflebens handfeste Skrupellosigkeiten verbergen. Doch sie manövriert sich so unbekümmert wie geschickt durch die höfischen Intrigen, bis sie ihre Stellung verliert und in den Fluss gestossen wird. Da beschliesst Serine, dass der Spass nun vorbei ist – und kehrt im Kostüm eines Hofnarren ins Schloss zurück. In dieser Rolle läuft sie zu Hochform auf und gewinnt die Gunst des alten Königs, während sie – unterstützt nur vom Henkerlehrling – herauszufinden versucht, wer dem König nach dem Leben trachtet. Die Literaturadaption präsentiert Serines Abenteuer in kleinteiligen Panels, die aber vom Schwung der wenigen Striche leben, die Serines Unbeschwertheit und ihre soziale und körperliche Agilität abbilden. Viele sprachspielerische Elemente sind immer wieder kreativ ins Bild integriert. Die Lächerlichkeit der Höflinge wird mit viel Augenzwinkern ausgestellt – umso mehr ist Serine mit ihrer Offenheit und Spontanität eine so liebenswerte wie clevere Heldin. Auch wenn sie in der Komödie und im Spielerischen verhaftet bleibt, ist Serine eine emanzipierte Version von Mantel-und-Degen-Helden à la Scaramouche, womit das zurzeit eher wenig produktive Genre hier eine lesenswerte Bereicherung erhält.

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Dietrich Grünewald

Kunstdidaktiker, Emeritus Universität Koblenz-Landau, ehem. 1. Vorsitzender der ComFor

Sid Sharp, aus dem Englischen von Alexandra Rak: Der Wolfspelz

Der WolfspelzDas Buch ist ein Erstlingswerk – kommt aber routiniert und sehr gelungen daher. Wie der Verlag vermuten lässt: ein Bilderbuch für jüngere Kinder – und eine höchst amüsante, lesens- und sehwürdige Bildgeschichte für alle, die in Doppelbildern, Einzelbildern und zwei, drei oder vier Bildern auf einer Seite erzählt, stellenweise mit integriertem kurzen Erzähltext, mit Sprechblasen, aber bildmächtig auch mal ganz ohne Text. Im Wald, düster, angsterregend, spielt die Parabel; entsprechend betont die Farbgebung mit meist schwarz hinterlegtem Grund die Stimmung. Auf den ersten Blick wirken die aquarellierten Zeichnungen ein wenig ungelenk, sehr zeichenhaft und flach, die Akteure z. T. wie Schablonenfiguren. Aber man merkt schnell, dass diese einfache und unmittelbar ansprechende Bildsprache der Thematik wie der intendierten Zielgruppe genau entspricht. Man sieht sich ein, identifiziert sich, spielt mit, fühlt mit, wenn Bellwidder sein Morgenbad genießt, bis weit in den Morgen tanzt, und dann ängstlich im Wald bei der Suche nach Beeren sich beim leisesten Knacken das Schlimmste vorstellt. Angst hat Bellwidder vor Wölfen, denn Bellwidder ist ein Schaft. Doch bei aller Ängstlichkeit: Er lässt sich nicht unterkriegen. Er schneidert sich ein Wolfskostüm, dreht das bekannte Sprichwort herum und begibt sich – nun selbst ganz in der Wolfsrolle – mutig ins Walddickicht. Und Bellwidder trifft tatsächlich auf drei Wölfe, freundet sich mit ihnen an – und dann beginnt sein Wolfspelz Fäden zu verlieren, wird aufgezupft und enthüllt schließlich das Schaf. Der überraschende Clou der Geschichte, der auch Kinder wirkmächtig zum übertragenden Weiterdenken anregt, erweist sich, als Bellwider ergeben die Augen schließt und darauf wartet, von den Wölfe gefressen zu werden: Auch die drei Wölfe tragen nur Kostüme, entpuppen sich als Huhn, Hirsch und Ziege… Der Schluss ist programmatisch symbolisch: Bellwidder lädt die neuen Freunde zu sich ein – und zieht die Vorhänge auf: „Ich möchte hier nur ein wenig Licht hereinlassen.“

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Hanspeter Reiter

Comicoskop-Redakteur

Jan Novak / Jaromir99: Čáslavská

ČáslavskáDiese ausgesprochen farbenfrohe Bildgeschichte von 176 Seiten zeichnet das Leben der berühmten tschechischen Kunstturnerin Věra Čáslavská nach. Sie war eine außergewöhnliche Frau, die bei Olympischen Spielen insgesamt sieben Gold- und vier Silbermedaillen gewann. Sie war eine Frau, die sich nicht verbiegen ließ und für ihre Überzeugung kämpfte. Dieser Band würdigt diese Frau, die sich nicht unterkriegen ließ. Die Farben sind flächig eingesetzt und variieren mit den Erzähl-Strängen. Die Panels sehr variabel, mal sechs, mal vier, mal drei oder auch zwei, dazu ganz- und doppelseitige Bilder (meist angeschnitten), teils mit ergänzenden Auszügen als Kreisflächen. Ebenso flexibel sind Sprechblasen eingesetzt, dazu kommen erläuternde Fußzeilen-Texte und integrierte Kästen. Besonders interessant sind farblich abgesetzte Schattenwürfe bei Gesichtern, während sie in anderen Darstellungen nur in einer Art Ligne-Claire-Stil gestaltet sind. Nun, viele Seiten erinnern gar an PopArt, was Comics als Neunte Kunst verdeutlicht! Ein Kunstwerk mit gestaltetem Vorsatz. Interessant zudem für alle Turn-Interessierten, sind doch vielerlei der komplizierten Übungen an diversen Geräten sequenziell illustriert, etwa Stufenbarren oder Boden… Schön, dass diese exzellente Graphic-Novel nun auf Deutsch verfügbar ist, nachdem ich sie im Rahmen des Münchner Comic-Festivals schon mal im tschechischen Original hatte durchblättern können, beim Tschechischen Zentrum München, Programm siehe https://munich.czechcentres.cz/de.

Käthe Leipold: Die vergessene Hälfte

Die vergessene Hälfte… ist natürlich ein feines Wortspiel zur „besseren Hälfte“, was im Übrigen hier bei vielen der vorgestellten Ehefrauen absolut zutrifft – nur waren sie quasi zur falschen Zeit geboren und wurden so untergebuttert: Wie lebte es sich mit Bach, Mozart, Chaplin, Einstein oder Georg I. von England? Offensichtlich nicht gerade einfach! Manche kennt die Leserschaft wohl schon durch bewusstes Hervorholen in den vergangenen Jahren, zumindest für Minerva Einstein-Maric sollte das zutreffen. Die Künstlerin spielt auf diversen darstellerischen Ebenen mit der Illustration, neben reinem Bild nämlich auch mit kreativen Schriften (plus Hervorhebungen in Farbe und mit Konturierungen à la Schatten, S. 51 z.B.). Gar Sprechblasen kommen ins Spiel (S. 34f. z.B. bei den Mozarts oder S. 129 Ludwig XIV.). Klischees nutzt sie durchaus, seien es Profil-Vorlagen oder bekannte Darstellungen wie Einsteins ausgestreckte Zunge (S. 105). Wer mag, kann vielem folgen, weil S. 136ff. die Quellen für Zitate aufgeführt sind, seien sie textlich, seien sie bildlich. Knapp 150 Seiten fein gezeichneter „Graphic Novel“ im weitesten Sinne – lesen & betrachten! PS: Auch „am Rande“ des Genres Illustration/Bild-Geschichte wird mehr und mehr auf die „vergessene Hälfte“ geachtet: So wurde das berühmte Museum im Münchner Isartor umgetauft in „Valentin-Karlstadt-Musäum“, immerhin…

Walter Trier: Nazi-German in 22 lessons – Nazi-Deutsch in 22 Lektionen

Nazi-German in 22 lessons – Nazi-Deutsch in 22 Lektionen
„Walter Triers Karikaturen gegen die Nazis“ und „including useful information for Führers, fifth Columnists, Gauleiters and Quislings“ sind zwei Bände, die einen exzellenten Ein- und Überblick bieten, zu des Illustrators gelungenen Werks anti Nazi. Beide wertig als Hardcover, mit weiterführenden Analysen, fein! U.a. von Antje M. Warthorst, die es geschafft, diesen deutschen Cartoonisten dem Vergessenwordensein zu entwinden: Das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte hat gerade für Interessierte an Bild-Geschichten viel zu bieten, vom Illustrator Erich Kästners. Und gerade in wieder verdunkelnden Zeiten wie diesen wird es wichtiger denn je, sich zu erinnern. Etwa mit dem Logo X als Begleitung der russischen Aggression, das hiermit als weitere Zwangs-Adoption
erscheint: „Widerstand bis zum Sieg über die Nazis, dafür stand das V.“ Von den Alliierten gut als starkes Signal an und in die Bevölkerung erkannt und eingesetzt. Phasenweise absolut comicesk kommen die Cartoons daher, hier endlich gesammelt zu erleben! Und im zweiten Band ist tatsächlich ein Comic geboten, nämlich sequenziell wirkende Panels, gepackt in ein Flugblatt. Auch hier mit engen Bezügen zur Gegenwart 2023… Nachdruck des illustrierten Original-Flugblatts mit allen „22 Lektionen“ und Kommentaren. Mit Vorwort von Max Czollek sowie wertvollen Anmerkungen der Walter Trier-Expertin Antje M. Warthorst. Zweisprachige Ausgabe.“ Gilt für beide.

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Janika Frei-Kuhlmann

Literaturdidaktikerin, Institut für Germanistik, Justus-Liebig-Universität Gießen

Nando von Arb: Fürchten Lernen

Fürchten LernenMit Fürchten lernen (2023) legt Nando von Arb ein ausdrucksstarkes Werk zum Thema Angsterfahrungen vor. In seinem unverkennbaren Stil widmet sich von Arb in kurzen Episoden den unterschiedlichen Facetten von Angst: der Angst vor Dunkelheit, Einsamkeit, Krankheit, Tod, Versagen und Verlust. Dabei zeigt er nicht nur die verschiedenen Ebenen und Nuancen individueller Angsterfahrungen auf, sondern stellt sich einer besonderen Herausforderung: der Angst ein Gesicht verleihen. In expressiven und kontrastreichen Darstellungen gibt sich die Angst in Fürchten lernen in Form von grotesken, unheimlichen Fratzen, die den Protagonisten nachts aufsuchen oder als organische Auswüchse, die sich durch den Körper der Figur fressen, zu erkennen. Albträume werden grafisch ausdrucksstark festgehalten und durch die Gedanken des Protagonisten kommentiert und kontextualisiert. Neben den individuellen Bewältigungsstrategien mit Angsterfahrungen, bei denen die direkte Konfrontation neben der Flucht vor der Angst skizziert wird, wird dabei gleichermaßen die Frage nach der gesellschaftlichen Akzeptanz von Betroffenen mit Angsterfahrungen aufgeworfen. Die Ängste, Albträume und Panikattacken werden stets individuell – mit und in sich selbst – verhandelt, wodurch eine weitere Dimension von Angst eröffnet wird: die Angst davor, mit anderen über Angst zu sprechen. Nando von Arb gelingt es in Fürchten lernen in besonderer Weise, abstrakte, vielschichtige und persönliche Gefühlszustände, die sich oft nur fließend und nuanciert wahrnehmen lassen, greifbar zu machen. Auf sensible und gleichermaßen eindringliche Weise gelingt es dem Autor durch eine entschiedene Komposition aus Licht, Schatten, Form und Farbwahl ein überzeugendes Werk vorzulegen, das nicht nur durch seine inhaltliche Komplexität und Tiefe, sondern auch durch die stilistisch-grafische Raffinesse beeindruckt. Sein besonderes Talent für die bildhafte Konservierung des ‚Unsagbaren‘ bezeugt er damit auf vielfältige Weise.

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Jörn Ahrens

Kultursoziologe, Justus Liebig Universität Giessen

Jean-Christophe Brisard/Alberto Pagliaro: Hitler ist tot!, 3 Bände

Hitler ist tot!Zwischen Januar und August hat Splitter diese Mini-Serie vorgelegt, deren Handlung am 02. Mai 1945 einsetzt. Die Rote Armee hat Berlin erobert; nun will Stalin zeigen, dass Hitler wirklich tot ist. Das ist schwierig, denn eine Leiche fehlt. Zwei Geheimdienste, der NKWD und die SMERSch, treten in einen Wettlauf darum ein, Hitlers Leiche oder zumindest Beweise für seinen Tod zu finden. Dabei bekämpfen sie sich innerhalb des von Konkurrenzen und Misstrauen durchzogenen sowjetischen Systems unerbittlich. Brisards Plot geht vielschichtig vor. Gezeigt wird die kleinteilige Suche nach Hitlers Leiche, die Elemente einer Detektiv-Serie aufnimmt. Im Trümmer-Berlin des Kriegsendes werden immer wieder die deutschen Informanten thematisiert. Im Vordergrund steht aber der Kampf der beiden ausführende Dienste, die für konkurrierende Fraktionen im System der sowjetischen Führung stehen. Auch deren Intrigen im Hintergrund, speziell um NKWD Chef Beria, werden nicht ausgespart. In atmosphärisch dichten Zeichnungen entfaltet Pagliaro diese Geschichte. Sein kantig abstrahierter Stil erinnert mal, gerade auch in der Kolorierung, an expressionistische Holzschnitte, mal bleibt er skizzenhaft und lehnt sich an die Illustrationsgraphik der 1940er/50er Jahre an. Dass die ebenso glaubwürdig wie fantastisch anmutende Geschichte außerdem historisch gut recherchiert ist, zeigt der Begleitteil im dritten Band.

Marcello Quintanilha: Hör nur, schöne Márcia

Hör nur, schöne MárciaWie beschränkt der Blick auf Comics (nicht nur) hierzulande nach wie vor ist, zeigt sich an ihrer Herkunft, die selten den europäischen oder nordamerikanischen Raum verlässt. Verdienstvoll hat der Reprodukt Verlag nun, nach Tungsténio bei Avant, das zweite Album des Brasilianers Marcello Quintanilha vorgelegt. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Krankenschwester Márcia, die sich sorgt, ihre Tochter Jaqueline, sorglos und ignorant, könne auf die schiefe Bahn geraten. Das bestätigt sich spätestens, als Jaqueline nach einer Festnahme rasch wieder freikommt. Márcia und ihr Freund Aluísio gehen der Sache nach und geraten in einen Strudel aus Drogenkriminalität und Milizen, bis Jaqueline dafür sorgt, dass Aluísio krankenhausreif geprügelt wird und selbst in den Knast geht. Am Ende des Comics aber ziehen Márcia und Aluísio aufs Land zu Jaqueline und deren Familie, ausgerechnet im Gefängnis war sie vom evangelikalen Priester schwanger geworden. Seine ziemlich bittere Geschichte von der Innenseite Brasiliens inszeniert Quintanilha in grellbunten Farben, einschließlich der menschlichen Körper. Viele Konturlinien fehlen. Konturen werden durch die Farben markiert, schwarze Linien gibt es nur dort, wo sie benötigt werden. Die Panels sind nie durch Linien gerahmt, was dem ansonsten nicht experimentell angelegten Band eine große Leichtigkeit in der Graphik verleiht. Zeichnungen und Narrativ stehen in maximalem Kontrast zueinander. Das alles macht Lust auf mehr, mehr von Quintanilha und mehr aus der offensichtlich schwer interessanten Comic-Szene in Brasilien.

Matz/Jörg Mailliet, nach Olivier Guez: Das Verschwinden des Josef Mengele

Das Verschwinden des Josef MengeleIm Juni 1949 erreicht Josef Mengele Argentinien. Unterstützt durch ein gut ausgebautes Netz vor Ort, aber auch durch den niemals abreißenden Kontakt zu seiner Familie, die ein florierendes Unternehmen für Agrartechnik betreibt, baut Mengele sich zunächst eine gut situierte Existenz in Argentinien auf. Das Leben unter den ehemaligen Nazis ist mondän und gut situiert. Mengele reist unbehelligt nach Deutschland ein, um familiäre und finanzielle Belange zu klären, um den Vater zu beerdigen, holt seine Familie nach. Scheinbar geht das Leben im Exil und unter falscher Identität gut auf. Doch im Hintergrund versuchen sowohl der Frankfurter Staatsanwalt Fritz Bauer als auch der israelische Mossad Mengele ausfindig zu machen. Nach der Ergreifung Adolf Eichmanns wird es auch für Mengele eng, aber die deutsche Polizei und innenpolitische Prioritätensetzungen in Israel sorgen am Ende dafür, dass er unbehelligt bleibt. Unter dem Druck der Ermittlungen muss Mengele immer weiter flüchten, seine Netzwerke brechen sukzessive weg, seine Frau verlässt ihn. Die Familie kappt die Unterstützung; am Ende haust Mengele heruntergekommen in Brasilien. Mit 67 Jahren ertrinkt er beim baden im Meer. Basierend auf dem Roman von Olivier Guez hat Matz (Der Killer) ein dichtes, weitgehend chronologisch vorgehendes Script erstellt, das von Jörg Mailliet in flächigen Zeichnungen, die die Tradition der argentinischen Comics der Zeit aufgreifen, gekonnt und mit einer sehr schönen Kolorierung umgesetzt ist. Der Band bleibt konsequent an seinem Protagonisten und lässt dennoch keine falsche Nähe aufkommen; mit Flashbacks geht er angemessen sparsam um, es reicht völlig aus, zu wissen, um wen es geht.

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Lukas R.A. Wilde

Medienwissenschaftler, NTNU Trondheim

JH, Engl. Übersetzung von Ultramedia: The Horizon

The HorizonDank Yen Press hat dieser koreanische manhwa von JH von auch den Sprung vom Webtoon in Print geschafft! Sicherlich eines der düstersten und bedrückendsten Comics der letzten Jahre, überwältigt die Lektüre aber doch vor allem durch das unglaublich präzise, überwiegend visuelle Erzählen, in dem die wenigen gesprochenen Worte kaum mehr als einen düsteren Soundtrack bilden. Trotzdem werden die beiden kindlichen Protagonist*innen, mit denen wir durch eine postapokalyptische Schreckenswelt à la The Road (McCarthy) oder Parable of the Sower (Butler) wandern, vielschichtiger und komplexer als in der schillerndsten Prosa. Auf ihrer hypnotischen, oft phantasmagorischen Alptraumreise entsteht eine zerbrechliche Nähe, vielleicht auch eine Art von Hoffnung, die aber nie ganz die Einsamkeit und das Schweigen zwischen ihnen zu vertreiben vermag. Alle 21 Kapitel der Webtoon-Serie sind online zu lesen und abgeschlossen, die ummontierte Print-Ausgabe (vol.1 enthält chapter 1-5) funktioniert aber auch erschreckend schön.

Yuu Morikawa, Engl. Übersetzung von Julie Gonwich: Mr. Villain’s Day Off

Mr. Villain's Day OffDas Jahr war weltpolitisch ja nicht gerade einfach, manchmal tut daher Feel Good-Lektüre und gepflegter Eskapismus ganz wohl. Etwas Schöneres als Morikawas Kyūjitsu no Warumono-san, 2023 endlich auf Englisch übersetzt, findet man wahrscheinlich nicht so leicht. Episodische slice of life-Szenen laden zu kleinen „mental health“-Ausflügen in den Panda-Zoo oder den Konbini um die Ecke ein, wo sich ein außerirdischer Superschurke kurze Pausen von seinen Weltvernichtungsplänen gönnt. „That being said, today is my day off!“ wird so zu einer Formel, die nicht nur eine ganz zauberhafte Repetition entfaltet, sondern Genre-Regeln und Tonalitäten auch immer wieder neu überblendet und damit neben zauberhaftem Humor und unaufgeregtem Humanismus durchaus auch immer wieder poetische Qualitäten erzeugt.

Paul B. Rainey: Why Don’t You Love Me?

Why Don't You Love Me?Ehrlicherweise ist der Einstieg in dieses seltsame, oft geradezu surreale Drawn&Quarterly-Buch nicht gerade einfach. Schon das Erzählformat lässt sich auf keinen rechten Nenner bringen: Paul B. Rainey bündelt hier ein schnelles Feuerwerk aus einseitigen Punchline-Strips, die häufig in beliebiger Reihenfolge gelesen werden können, langsam aber stetig jedoch immer größere Arcs und ein übergreifendes Gedächtnis entstehen lassen. Der beißend schwarze, mitunter geradezu bizarre Humor lässt Lachen aber nicht wirklich zu: Die kurzen Schnappschüsse aus häuslichen Familienszenen präsentieren das genaue Gegenteil einer Idylle, in der jedes Alltagsdetail von den Depressionen, Verletzungen und Suchtproblemen der Eltern Claire und Mark überschattet ist, die sich nicht einmal die Namen ihres Sohnes merken können und ihre Ehe lange, lange schon aufgegeben haben. Von dieser  schwer verdaulichen „baseline“ aus kippt der Plot aber immer weitere ins Surreale und Phantastische – präzise um die Frage herum, ob dies wirklich nicht die Realität ist, die Claire und Mark leben sollten und alles zuvor – selbst das merkwürdig episodische (Nicht-)Gedächtnis – verblüffend motiviert ist! Am Ende der 210 Episoden ist immer noch nicht ganz klar, was man da eigentlich genau gelesen hat, und angenehm war es auch meistens nicht, ganz sicher aber sehr einzigartig und bewegend unter den Publikationen der letzten 12 Monate.

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Natalie Veith

Anglistin und Mediendidaktikerin, Goethe-Universität Frankfurt

Tom Gauld: Revenge of the Librarians

Revenge of the Librarians“Believe me: you do NOT want to make an enemy of a librarian.” Diese Warnung stellt der schottische Comiczeichner Tom Gauld seiner jüngsten Sammlung von Comic Strips, die nun schon seit mehreren Jahren den Literaturteil des Guardian zieren, voran. Gauld zeichnet in seinen Comics eine Welt, in der Literatur mit groteskem Ernst behandelt wird und man sich vor der Poetry Police in Acht nehmen muss, die bei trivialliterarischen Äußerungen in der Öffentlichkeit sofort eingreift. Auch reimaginiert Gauld gerne die Entstehung der großen Texte der Weltliteratur, etwa wenn Jane Austen bei der Konzeption ihres berühmten Anfangssatzes von Pride und Prejudice darüber sinniert, was ein alleinstehener Mann denn besitzen muss, um eine Frau zu brauchen (Ein sprechendes Pferd? Eine Zeitmaschine? Oder vielleicht doch lieber ein beträchtliches Vermögen?). Gaulds Comics zeugen von einer immensen Liebe zu Büchern – und kombinieren diese gekonnt mit ebenso klugem wie absurdem Humor und einem minimalistischen visuellen Stil, der Comics mit Diagrammen, Pfeilbildern und Anleitungstexten vereint (beispielsweise in einer Studie über das lokale literarische Ökosystem, die über Habitat und gängige Verhaltensmuster der Spezies der Autor*innen aufklärt). Hier offenbart sich nicht zuletzt dann auch das kritische Potenzial der Strips, die bei aller Absurdität dazu anregen, den Blick zurück auf die Realität zu richten und auf die Rolle, die Literatur und literarische Akteur*innen in unserer Welt spielen und spielen sollten. Eine deutsche Version ist unter dem Titel Die Rache der Bücher erhältlich.

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Ole Frahm

Comicforscher, Arbeitsstelle für Graphische Literatur (ArGL) Hamburg

Div.: namesandfaces.il

namesandfaces.ilWährend des Massakers durch die Hamas am 7. Oktober dieses Jahres in mehreren süd-israelischen Kibbuzim und einem Techno-Festival haben sich einige der Angreifer Kameras um den Hals gehängt, um die Bilder ihrer Gräueltaten in der ganzen Welt zu verbreiten. Unabhängig davon, dass ein Sprecher der Hamas inzwischen behauptet, nur militärische Ziele angegriffen zu haben – eine Behauptung, die ihren eigenen Aufnahmen Hohn spricht –, zirkulieren seitdem zahlreiche Bilder – und täglich kommen neue hinzu. Den auch in Deutschland plakatierten Bildern der von der Hamas entführten Menschen kontert die Terrororganisation mit Bildern von Kindern zwischen Trümmern – sie führt auch einen Krieg der Bilder. namesandfaces.il ist eine Initiative israelischer Illustrator*innen, die ihre Ablehnung des Massakers und des dadurch ausgelösten Krieges durch eine Serie von Zeichnungen auf der social media Plattform Instagram veröffentlicht. Kein Comic im eigentlichen Sinne, aber eine Serie von Bildern und Geschichten, die sich den nicht selten für Verschwörungstheorien dienenden Filmbildern auf derselben Plattform entgegenstellt. Nicht sehr laut, eben ohne die dramatische Musik die den Videos, die behaupten, Wahrheiten über den 7. Oktober zu verbreiten, eigen ist, reiht sich ein Beitrag an den anderen – ganz unterschiedliche Bilder: Skizzen, Portraits, Blumenbilder, Graphiken. Schon diese Heterogenität spricht eine andere Sprache als die Fotos, die Filme, die doch behaupten dokumentarisch zu sein, aber unschwer in jeden neuen Kontext gestellt werden können. Diese Bilder sind jeweils zugeeignet, sie sind nicht nur der Betrachtung, sondern auch jeweils einer Person gewidmet, die ermordet oder verschleppt wurden, die Menschen vor den Mördern gerettet haben, aber auch den Menschen in Gaza, „where darkness entered their homes“. Vielen ist wie in Bildergeschichten ein kurzer Text beigeordnet: was die Gezeichneten auszeichnete, was ihnen widerfuhr – Geschichten, die sonst kaum gehört würden, wie die von dem Busfahrer Haim Ben Aryeh: „On Saturday night, the end of Simchat Torah, Haim went to drive the children of Be’eri to safety on his bus. The horrors he had seen that night broke his heart, and he had not been himself since. In the morning of October 25th he was found dead inside his bus”. Diese kleinen digitalen Bilder wirken wie Talismane, uns vor dem Bösen zu schützen, von dem sie künden.

Anke Feuchtenberger: Genossin Kuckuck

Genossin KuckuckSchon der Goldschnitt verkündet etwas Besonderes. Er verbindet die verschiedenen Seiten, deren Figuren mal als Menschen, mal als Katzen, aber auch als andere Tiere gezeichnet sind. Der Stil wechselt von Kapitel zu Kapitel, auch wenn Feuchtenbergers eindrückliche Kohlezeichnungen, wie sie aus Der Spalt bekannt sein könnten, dominieren. Grad wenn sich die Lesenden an den Rhythmus aus zwei Bildern die Seite gewohnt haben, wird dies unterbrochen. So einfach ist die Geschichte, die im ländlichen Raum der Deutschen Demokratischen Republik angesiedelt ist, nicht zu haben. Sie fügt sich zu keiner übersichtlichen Erzählung wie sie im Genre der Graphic Biography so gängig geworden ist. Die Zeiten springen, die Figuren wechseln, manches erscheint als erinnerte Anekdote, anderes wirkt wie im Traum, die Übergänge sind fließend. Nur langsam setzen sich die Fragmente zusammen. Es geht um sexuellen Missbrauch, die Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges, es geht um Gewalterfahrung und Vergewaltigung und wie damit nicht umgegangen wurde. Genossin Kuckuck ist ein verstörendes, mutiges Buch, ein Comic, der mit einer Lektüre längst nicht ausgelesen ist. Es stellt uns die Frage, wie überhaupt solche Bücher mit Goldschnitt zu lesen sind, weil sie das Sehen und das Verstehen historischer Zusammenhänge neu denken lehren.

George Herriman: Krazy Kat. Daily Strips 1924. Hgg. von Snorre Smári Mathiesen

Krazy Kat. Daily Strips 1924Die Einigkeit über die unvergleichliche Bedeutung George Herrimans Krazy Kat für die Geschichte der Zeitungscomics ist unter Comicforscher*innen groß. Die Wiederveröffentlichung des „Werks“ entspricht dieser Bedeutung allerdings nur zur Hälfte: die oft experimentellen Sonntagsseiten, die zwischen 1917 und 1944 erschienen, sind gleich mehrfach veröffentlicht seit Bill Blackbeard mit seinem San Francisco Academy of Comic Art Ende der 1980er Jahre begonnen hatte, diese jahrgangsweise zu edieren. Das Projekt stockte ab 1925, auch weil es für manche Jahre ausgesprochen kompliziert war, die Seiten zu finden, weil sie anders als die Tagesstrips oft nur in wenigen Zeitungen erschienen – sie waren von den Comic-Seiten ins Feuilleton verbannt worden, wo Redakteure sie gerne wegließen. Fantagraphics hat die Reihe dann ab 2002 übernommen und fortgesetzt – jüngst werden je drei Jahre ebendort in einer sehr schönen großformatigen Reihe zusammengefasst. Aber die Tagesstrips? Sie harren ihrer systematischen Veröffentlichung. Auch hier gab es vereinzelte Initiativen: Schon 1991 erschien in der letzten Ausgabe von RAW die Tiger Tea-Episode aus dem Jahr 1936. 2001 brachte ein Verlag namens Stinging Monkey als Volume 1 die Strips von 1918-1919 mit einem Vorwort von Blackbeard heraus. In der sehr verdienstvollen Library of American Comics, die verschiedene Strips jahrgangsweise veröffentlicht, läßt sich das Jahr 1934 nachzulesen. Ein opulentes Querformat macht die experimentellen Strips des Jahres 1920 bei Fantagraphics zugänglich. Die Strips 1921-23 sind beim Pacific Comics Club verlegt. Der norwegische Cartoonist Snorre Smári Mathiesen hat sich nun in Eigeninitiative einer Fortsetzung angenommen und begonnen, die Strips ab 1924 unabhängig, bei Amazon in Polen gedruckt, zu verlegen. Die Ausstattung ist bescheiden, die Gestaltung fragwürdig, die Ausgabe bleibt unvollständig, weil eben nicht alle Strips aufgefunden wurden, und Mathiesens Einleitung kann mit Blackbeards Sprachwitz nicht konkurrieren, zeitbezogene Kommentare schließlich, wie Blackbeard sie rudimentär zur Verfügung stellte, fehlen ganz. Doch die Qualität des Drucks der Strips ist meistens gut und wenn die Rückseite der Zeitung durchscheint, betont dies nur ihre Herkunft. Die Qualität der Strips indes bleibt auch 99 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen überragend.
1924 begann Herriman eine längere Erzählung, die sich mit kleinen Unterbrechungen bis 1925 fortsetzt: Krazy Kat nimmt durch einen Zufall das Kind des reichen Katnip-Produzenten Mr. Max Meeyowl bei sich auf, während sie vor Joe Stork, der bekanntlich die Kinder bringt, flieht – hier oft sie, aber einmal benennt sich die Katze auch als Unkil („How evva I ain’t got no ibjections to being a ‚unkil‘ or a ‚ent‘ to you“, die Barkschen Genealogien vorwegnehmend – 30. Mai). Dem little kitten gefällt es bei Krazy natürlich viel besser als bei dem reichen Vater, doch 1925 sieht es sogar so aus, als könnten die beiden, die arme Kat und der reiche Kater heiraten, wären da nicht die Ziegelsteinwürfe von Ignatz, die Krazy natürlich vermisst… Aber auch die zweite längere Episode des Jahres 1924, in der Madam Kwakk-kwakk fordert, die Ziegelstein-Produktion einzustellen, samt Demonstrationen und einem ziegelsteinwerfenden Offissa Pupp entbehrt nicht der Komik und erinnert daran, wie sehr Charles M. Schulz Peanuts von diesen Seiten profitierte. Am erstaunlichsten erscheint mir bei der Lektüre, wie zugänglich viele der Strips noch sind, wie gut sie die Zeit überdauert haben – vielleicht auch weil die Gewaltverhältnisse und Identitätsfragen der Gesellschaften sich offenbar nicht so umfassend verändert haben wie manche denken.

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*Die ComFor-Redaktion bedauert den Mangel an Diversität in dieser Zusammenstellung, die mehrheitlich aus männlichen Comicschaffenden besteht. Zukünftig würden wir uns sehr über diversere Einreichungen sowie über mehr Beiträge von Forscherinnen in der ComFor freuen. An dieser Stelle wollen wir lediglich auf beides aufmerksam machen, um ein Bewusstsein für diese Umstände zu schaffen.

CLOSURE #9.5 / ComFor-Konferenz 2021 »Coherence in Comics. An Interdisciplinary Approach«* erschienen

CLOSURE #9.5Soeben ist die neueste Sonderausgabe #9.5 von Closure: Kieler e-Journal für Comicforschung unter der Gastherausgeber*innenschaft von Elisabeth Krieber (Salzburg), Markus Oppolzer (Salzburg) und Hartmut Stöckl (Salzburg) erschienen: »Coherence in Comics. An Interdisciplinary Approach«. Die Ausgabe stellt gleichzeitig die Dokumentation der 16. ComFor-Jahrestagung (Oktober 2021, Salzburg), „Kohärenz im Comic: Eine interdisziplinäre Annäherung an das Verbindende“, dar. Sie enthält Beiträge der ComFor-Mitglieder Elisabeth Krieber, Markus Oppolzer, Lukas R.A. Wilde, Barbara M. Eggert und Stephan Packard:

Elisabeth Krieber, Markus Oppolzer und Hartmut Stöckl:
Coherence in Comics. An Interdisciplinary Approach: Über diese Ausgabe

Lukas R.A. Wilde:
Essayistic Comics and Non-Narrative Coherence

Barbara M. Eggert:
Comics as Coherence Machines? Case Studies on the Spectrum of Functions that Comics perform in Museums

J. Scott Jordan und Victor Dandridge, Jr.:
Invincible: Multiscale Coherence in Comics

Mark Hibbett:
Image Quotation of Past Events to Enforce Storyworld Continuity in John Byrne’s Fantastic Four

Amadeo Gandolfo:
Do The Collapse: Final Crisis and the Impossible Coherence of the Superhero Crossover

Stephan Packard:
Inferential Revision in Comics Page Interpretation: A Hermeneutic Approach to Renegotiating Panel Comprehension

Weiter zu CLOSURE #9.5: »Coherence in Comics. An Interdisciplinary Approach«

 


*Die ComFor-Redaktion bedauert den Mangel an Diversität in dieser Publikation. Wir sind bestrebt, möglichst neutral über das Feld der Comicforschung in all seiner Breite zu informieren und redaktionelle Selektionsprozesse auf ein Minimum zu beschränken. Gleichzeitig sind wir uns jedoch auch der problematischen Strukturen des Wissenschaftsbetriebs bewusst, die häufig dazu führen, dass insbesondere Comicforscherinnen sowie jene mit marginalisierten Identitäten weniger sichtbar sind. Wir wissen, dass dieses Ungleichgewicht oft nicht der Intention der Herausgeber_innen / Veranstalter_innen entspricht und möchten dies auch nicht unterstellen, wollen aber dennoch darauf aufmerksam machen, um ein Bewusstsein für dieses Problem zu schaffen.

Tagung „Comics, the Children and Childishness“

Termin:
18.09.2023 - 19.09.2023

Vom 18. bis zum 19. September 2023 wird an der Ghent University die englischsprachige internationale Tagung „Comics, the Children and Childishness“ am KASK & Conservatorium in Präsenz stattfinden. Sie ist eine der abschließenden Ergebnisse des ERC-Projekts „Children in Comics: An Intercultural History (1865-)“ unter der Leitung von Prof. Maaheen Ahmed, Ghent University. Das Projekt zielt darauf ab, eine Kulturgeschichte europäischer Comics zu rekonstruieren, mit besonderem Fokus auf Großbritannien, Frankreich, Belgien, Deutschland, Spanien und Italien.

Organisiert wird die Tagung von Maaheen Ahmed und ComFor-Mitglied Giorgio Busi Rizzi (Ghent University). Die Veranstalter*innen beschreiben die Zielsetzung wie folgt: „The conference aims to further deepen the interests and achievements of the ERC project, with the goal of opening a crucial forum for dialogue between European and international researchers, focusing on a distinctly international corpus, covering comics not only from the dominant areas of Western Europe and North America, but also from Central, Eastern and Southeastern Europe, Asia and Latin America. In this way, the conference aims to inspire further research in this neglected but crucial aspect of comics studies.“

Das vollständige Tagungsprogramm findet sich hier. Unter den Beitragenden befinden sich neben Rizzi auch weitere ComFor-Mitglieder (Benoît Crucifix, Jaqueline Berndt, Eva Van der Wiele). Interessierte können sich hier registrieren. Fragen können an comics@ugent.be gerichtet werden.

Tagung „HistorioGRAPHICS: Framing the Past in Comics“

Vom 15. bis zum 17. Juni 2023 wird in München die englischsprachige internationale Tagung „HistorioGRAPHICS: Framing the Past in Comics“ stattfinden. Über drei Tage hinweg wird hier in insgesamt 21 Panels das Wechselspiel grafischen Erzählens mit der Darstellung und Auseinandersetzung mit Geschichte untersucht. Die spezifischen Themen reichen von indigener Geschichte über Holocaust-Darstellungen bis hin zu Postkolonialismus und Rechtsgeschichte. Abgerundet wird das Programm durch eine Keynote von Hillary L. Chute (Northeastern University) zum Thema „Comics at the End of the World“ (die auch live auf YouTube gestreamt wird) und ein Podiumsgespräch zwischen Barbara Yelin (Comic Künstlerin, München) und Prof Dr. Charlotte Schallié (University of Victoria) zum Thema “Witnessing – Remembering – Drawing: A Conversation about But I Live and Drawing Holocaust Memories”.

Organisiert wird die Tagung von PD Dr. Charlotte Lerg (Amerika-Institut, Ludwig-Maximilians-Universität München) und ComFor-Mitglied Dr. Johannes Schmid (Institut für Anglistik und Amerikanistik, Europa-Universität Flensburg), gefördert durch die DFG, mit freundlicher Unterstützung der Bayerischen Amerika-Akademie, der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor) und der Stadt München.

Die Tagung findet im Amerikahaus in Kooperation mit dem NS-Dokumentationszentrum statt. Die Teilnahme ist kostenfrei; die Anmeldung erfolgt online.

Weitere Informationen und Details zum Programm auf der Veranstaltungswebsite.

 

 

 

Publikationshinweis: „Transmedia Character Studies“

Seit März ist die Monografie Transmedia Character Studies, gemeinsam verfasst von Tobias Kunz und ComFor-Vorstandsmitglied Lukas R.A. Wilde, bei Routledge erhältlich. Neben einer ausdifferenzierten methodologischen Betrachtung des Themas enthält der Band auch zahlreiche konkrete Beispiele, unter Anderem zu Comics, Manga und Animation:

Transmedia Character Studies provides a range of methodological tools and foundational vocabulary for the analysis of characters across and between various forms of multimodal, interactive, and even non-narrative or non-fictional media. This highly innovative work offers new perspectives on how to interrelate production discourses, media texts, and reception discourses, and how to select a suitable research corpus for the discussion of characters whose serial appearances stretch across years, decades, or even centuries. Each chapter starts from a different notion of how fictional characters can be considered, tracing character theories and models to approach character representations from perspectives developed in various disciplines and fields. This book will enable graduate students and scholars of transmedia studies, film, television, comics studies, video game studies, popular culture studies, fandom studies, narratology, and creative industries to conduct comprehensive, media-conscious analyses of characters across a variety of media.“

Weitere Informationen auf der Verlagsseite.

Online-Ringvorlesung: Aktuelle Fragen der Comicforschung

Termin:
03.04.2023 je montags, 18:30-20:00 Uhr - 03.07.2023

Auch in diesem Semester organisiert das Netzwerk Comicforschung am Rhein wieder eine interdisziplinäre Ringvorlesung zu aktuellen Fragen der Comicforschung – diesmal unter dem Motto „Zeit“. Die Veranstaltung findet immer montags von 18:30 bis 20:00 Uhr via Zoom statt; unter den Vortragenden sind u.A. zahlreiche Mitglieder der ComFor vertreten. Die Anmeldung erfolgt per Email an comicforschung-rhein@uni-koeln.de.

Hier die Themen und Termine für das Sommersemester 2023

  • 03.04.2023
    ComFor-Mitglieder Nina Eckhoff-Heindl (Köln) und Stephan Packard (Köln): „Einführung: Comics & Zeit“
  • 17.04.2023
    ComFor-Mitglied Nicolas Gaspers (Köln): „‚There is no future. There is no past.‘ Zeitexperimente in Superheldencomics“
  • 08.05.2023
    ComFor-Mitglied Kirsten von Hagen (Gießen): „Zeit und Erinnerung: Stéphane Heuets Comic-Adaptation von Prousts Recherche“
  • 15.05.2023
    Werkstattgespräch mit dem Comicschaffenden Jens Harder: „Protagonist Zeit: Umgang mit zeitlichen Abläufen im sequentiellen Medium Comic“
  • 05.06.2023
    Marina Ortrud Hertrampf (Passau): „Das Anthropozän durchwandern: Étienne Davodeaus graphische Zeitreise in Droit du sol. Journal d’un vertige (2021)“
  • 12.06.2023
    Christian Tagsold (Düsseldorf): „Postcolonial Comics – Time & the Other im Comic“
  • 26.06.2023
    ComFor Mitglied Joachim Trinkwitz (Bonn): „Zeit(en) der Serie. Erzählzeit, erzählte Zeit und Lesezeit in der Comic-Großserie Hellboy“
  • 03.07.2023
    Werkstattgespräch mit der Comicschaffenden Barbara Yelin

Weitere Informationen auf der Veranstaltungswebsite.

Publikationshinweis – Nina Eckhoff-Heindl: Comics begreifen

Das neue Buch von ComFor Mitglied Nina Eckhoff-Heindl, Comics begreifen: Ästhetische Erfahrung durch visuell-taktiles Erzählen in Chris Wares Building Stories, ist nun im Reimer Verlag verfügbar.  Es handelt sich hierbei um die Publikation ihrer jüngst mit dem Roland Faelske-Preis ausgezeichneten Dissertationsschrift. In Comics begreifen stellt Eckhoff-Heindl die Frage nach dem Einfluss unserer Wahrnehmung  auf Comic-Erzählungen und entwickelt daraus ein Modell ästhetischer Erfahrung. Sie analysiert Chris Wares Building Stories (2012) auf unterschiedliche visuell-taktile Mechanismen hin und zeigt, welche Bedeutung die physische Handhabung eines Comics hat:

„Comics zeichnen sich dadurch aus, dass eine Erzählung über mehrere Bilder hinweg entwickelt wird. Ebenso charakteristisch ist auch ihre Handhabung. Denn für die Wahrnehmung eines Comics sind das Umblättern und die Haptik von Seiten, das Auf- und Zuschlagen von Doppelseiten, und das Scrollen oder Wischen auf digitalen Geräten von großer Bedeutung. Chris Wares vielteiliger Comic Building Stories, der u. a. mehrere Heftformate, ein gefaltetes Spielbrett, Leporellos und Faltblätter umfasst, dient Nina Eckhoff-Heindl als Ausgangspunkt ihrer Studie. Welche neuen Interpretationshorizonte ergeben sich durch den Fokus auf die ästhetische Erfahrung und das Begreifen eines Comics? Die Autorin veranschaulicht das Potenzial visuell-taktilen Erzählens und zeigt, welche Rolle Visualität, Materialität und Handhabung für eine Comicerzählung spielen.“

Weitere Informationen gibt es hier.

Roland Faelske-Preisverleihung

Am Freitag, dem 10.02.2023, findet um 17:00 Uhr im Hauptgebäude der Universität Hamburg (Edmund-Siemers-Allee 1, Flügelbau West, Raum 221) die Preisverleihung des Roland Faelske-Preis für Comic- und Animationsfilm 2022 statt. In der Kategorie der besten Magister-, Diplom-, Master- oder Bachelor-Abschlussarbeit, dotiert mit 1000€, erhält den Preis Alma Magdalene Knispel für ihre Arbeit zum Thema Unsichtbarkeit: Der Einzug des Sichtbaren in Comics und Theorie. Der mit 3000€ dotierte Preis in der Kategorie beste Dissertation geht an ComFor-Mitglied Dr. Nina Eckhoff-Heindl, die sich dem Thema Comics begreifen: Ästhetische Erfahrung durch visuell-taktiles Erzählen in Chris Wares Building Stories (im Erscheinen im Reimer Verlag) widmete. Zum Anlass der Preisverleihung wird es einen Festvortrag des Hamburger Comickünstlers Simon Schwartz zum Thema „Vita Obscura“ geben.

Wir gratulieren den Preisträger*innen zu ihren herausragenden Arbeiten und freuen uns über die Bereicherung, die diese für die Comicforschung darstellen!

Weitere Informationen gibt es hier.

ComFor-Leseempfehlungen 2022

Auch in diesem Jahr wünscht die Redaktion der Gesellschaft für Comicforschung all ihren Leser_innen  und Freund_innen einen guten Start ins neue Jahr 2023 und präsentiert zu diesem Anlass wieder aktuelle Leseempfehlungen von Comicforscher_innen, die wir zum Jahresabschluss gesammelt haben. (Die Leseempfehlungen der letzten Jahre finden sich hier.) Einige unserer Mitglieder haben uns erneut ganz subjektive Lektüretipps geschickt, die aus den vergangenen zwölf Monaten im Gedächtnis geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer. Darunter haben sich auch ein, zwei Titel eingeschlichen, die bereits vor 2022 publiziert worden sind, aber in diesem Jahr nochmal besonders im Gedächtnis geblieben sind.

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Yun-Jou Chen

Komparatistin, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Sonny Liew: The Art of Charlie Chan Hock Chye (neue Erstveröffentlichung Taiwan)

The Art of Charlie Chan Hock ChyeEs handelt sich um eine Pseudo-Biografie eines fiktiven Comic-Zeichners Charlie Chan Hock Chye (geb. 1938). Der Autor Sonny Liew (geb. 1974) erzählt die Lebensgeschichte dieses fiktiven Künstlers, die mit der jungen Geschichte Singapurs verschmolzen ist: Von der Unabhängigkeit Singapurs von der britischen Kolonialmacht, der Fusion Singapurs mit Malaysia und der Trennung kurz danach, bis auf das politische Ringen zwischen Lee Kuan Yew und Lim Chin Siong in den 50er und 60er Jahren, echte Ereignisse sind in der „Biografie“ überall zu sehen, und vor diesem echten historischen Hintergrund entfaltet sich die Geschichte des Künstlers, den es eigentlich nicht gab, die aber von zahlreichen „Beweisen“, wie z.B. Fotos des Künstlers und Zitate aus seinen Werken, gestützt ist. Eine kritische Haltung gegen die politische Lage sowie das Regime zeigt sich in den Parodien von Charlie Chan Hock Chye. Gerade die Kritik einer fiktiven Figur stellt eine echte, wenn auch subtile, Provokation gegen die nationale Narrativ Singapurs dar.

Die englische Ausgabe wurde bereits 2015 veröffentlicht und gewann 2016 den Singapore Literary Award und 2017 drei Will Eisner Awards (Best Writer/Artist, Best U.S. Edition of International Material-Asia und Best Publication Design). Die Ausgabe im traditionellen Chinesisch wird im Oktober dieses Jahr in Taiwan veröffentlicht.

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Jeannine Feix

Didaktikerin, FU Berlin

Nacha Vollenweider: Zurück in die Heimat

Nacha Vollenweider: Zurück in die Heimat„Nach sechs Jahren in Hamburg und einer gescheiterten Ehe entschließt sich Nacha Vollenweider in ihr Heimatland Argentinien zurückzukehren.“, so der Text auf der Rückseite dieser wunderbaren Graphic Novel. Nach ihrem Debüt „Fußnoten“, die einen Außenseiterinnenblick auf Hamburg und Deutschland wirft, wird man als Leser:in nun mitgenommen in das aktuelle Argentinien, das viel mehr mit unserem Leben im Westen der Welt zu tun hat, als man denken mag. Während wir über unsere Inflationsrate jammern, beträgt diese in Argentinien 50% jährlich. Während wir über Elektroautos als Heilsbringer reden, verursacht der Abbau von Lithium für die Batterien dieser in Argentinien eine Dürre nach der anderen und verändert dortige Ökosysteme für immer. Während wir über Fachkräftemangel klagen, muss eine junge qualifizierte Frau aufgrund ihrer Scheidung von einer Deutschen das Land verlassen, in dem sie sechs Jahre lebt und arbeitet. Die Themen, die Nacha Vollenweider anspricht, könnten aktueller, interessanter und brisanter nicht sein. Wie in ihrer ersten schwarz-weiß Graphic Novel mit interessantem Pinselstrich schafft sie es auf wunderbare Weise ihre Themen zu unseren zu machen.

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Ole Frahm

Comicforscher, Arbeitsstelle für Graphische Literatur (ArGL) Hamburg

David Kunzle: Rebirth of the English Comic Strip

Rebirth of the English Comic StripSeit mehreren Jahren macht David Kunzle, wie als Supplemente zu seinem maßgeblichen zweiten Band The History of the Comic Strip von 1990 in der Mississippi University Press die vielen Seiten zugänglich, die er dort oft nur in Auszügen veröffentlichte. Nach wunderbaren Bänden u.a. über Toepffer und Cham versammelt der marxistische Kunsthistoriker in seiner jüngsten Publikation diverse Zeichnende, vor allem aus Punch aber auch anderen Zeitschriften mit so klingenden Namen wie The Man in the Moon. Viele der Zeichnenden, auch Frauen wie Marie Duval sind darunter, sind eher durch Cartoons in Erinnerung geblieben, manche haben nur wenige Seiten zu der – im Begriff sicher befragbaren – Wiedergeburt des englischen Comic Strips beigetragen, aber es ist wunderbar, diese lang vergessenen Arbeiten so kundig kommentiert entdecken zu dürfen. So diskutabel Kunzles weiter Begriff des Comic Strips ist, so lehrreich bleibt es, den Blick über das 20. Jahrhundert hinaus in die Vergangenheit zu richten. Das 19. Jahrhundert, in dem das Bürgertum durch die Industrialisierung, forcierten Kolonialismus und die Ausweitung kapitalistischer Produktionsweisen die Erde ganz umpflügte, hält vieles zum besseren Verständnis der krisenhaften Gegenwart bereit. Kunzle zögert nicht, diese Aktualität zu benennen und darf so allen kommenden Comic-Forschenden als bewundernswürdiges Vorbild gelten.

Luka Lenzin: Nadel und Folie

Nadel und Folie<„Das Private ist stets politisch“, ist auf der Reprodukt-Seite über Luka Lenzin, vormalig Martina zu lesen – und „lebt nonbinär“. Doch anders als Abfackeln von Nino Bulling, der die Unsicherheit und den Wechsel des Geschlechts zum ausdrücklichen Thema macht und formal sicher ebenfalls einen der innovativsten Bände des Jahres vorgelegt hat, lenkt Lenzin nicht den Blick auf sich, sondern verdichtet in bewundernswürdiger, eleganter und die Lesenden wenig schonenden Weise Gespräche, die Lenzin in der Hamburger Drogenberatungsstelle beim Hauptbahnhof beim Jobben dort geführt hat. Jemanden wie mich, der lange in Hamburg gelebt hat, erfreut besonders, wie sehr hier sprachliche Idiome aufbewahrt und über die Grenzen der Stadt hinaus hörbar werden. Doch der größte Vorzug des Bandes stellt das überzeugende Plädoyer für einen anderen Umgang mit Drogen dar, vor allem mit deren Konsumierenden, deren verdichtete Erzählungen die Lektüre schwer aus der Hand legen lassen. Sind Bullings Innovationen auf die Form selbst bezogen, zeigt Lenzin wie groß der erzählerische Raum zwischen Autobiographie, Dokumentation und poetischer Verdichtung ist. Die überraschend selbstverständlich wirkenden Tierköpfe machen das Geschlecht der Figuren gelegentlich unlesbar und greifen so aufs Schönste die interessanteren Momente der Comic-Geschichte auf.

Milt Gross: Gross Exaggerations. The Meshuga Comic Strips of Milt Gross

Cynthia Häfliger: Fremde BlickeA propos Comic-Geschichte: Manche von Milt Gross‘ Sonntagsseiten wirken wie Drogentrips. Die Verkettung des Unwahrscheinlichen erzeugt eine Komik, die auch 90 Jahre nach dem ersten Erscheinen ihre Wirkung nicht verfehlt. Zu einer Zeit als der Slapstick aus dem Kino zu verschwinden begann, wird er hier nicht nur aufbewahrt, sondern macht dessen gelegentliche Radikalität im Umgang mit den deformierenden gesellschaftlichen Verhältnissen unüberlesbar. Heute erscheinen auch die damals gängigen Sexismen und ethnische Stereotype wie vergrößert. Diese Ausgabe, wie in den letzten Jahren nicht mehr unüblich, kommt dem Druck im Zeitungsformat nahe, wodurch Gross‘ großartige zeichnerische Virtuosität lesbar wird. Ich hab sie jetzt erst in die Hände bekommen und hoffe, dass sie noch viele andere findet.

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Dietrich Grünewald

Kunstdidaktiker, Emeritus Universität Koblenz-Landau, ehem. 1. Vorsitzender der ComFor

Jennifer Daniel: Das Gutachten

Jennifer Daniel: Das GutachtenEine Kiste mit dem Foto aus dem Nachlass ihres Großvaters, der Assistent der Rechtsmedizin in Bonn war, ist Anstoß für Jennifer Daniels Bildroman. Die spannende Kriminalgeschichte ist fiktiv, wenngleich sie – bedrückend und mahnend – sehr reell an die deutsche Geschichte gebunden ist, an die Zeit des Dritten Reiches, den Zweiten Weltkrieg – und wie die schrecklichen Ereignisse und Verbrechen dieser Zeit (in der jungen Bundesrepublik nachhallen bzw. unterdrückt werden. Die Geschichte hat ihren Ausgangspunkt 1977, als der Protagonist Karl Martin – Mitarbeiter der Gerichtsmedizin – mitbekommt, wie bei einem Autounfall eine junge Frau zu Tode kommt. Es ist eine RAF-Sympathisantin; der Unfallverursacher flieht. Martin lässt das Geschehen keine Ruhe und er beginnt zu recherchieren. Daniel weiß spannend zu erzählen, bindet das Geschehen an reale Orte, verschiebt die Erzählebenen, Erinnerungen aus NS-Zeit und Krieg werden mit der Zeit aktuellen Erzählzeit verwoben und decken Haltungen, Verhalten, Positionen auf. Dabei steht das bedrückend düstere Geschehen im provokativen Kontrast zu Daniels farbiger Visualisierung.

Melani Garanin: Nils. Von Tod und Wut. Und von Mut

Melani Garanin: Nils. Von Tod und Wut. Und von MutDer Tod eines Kindes schlägt eine furchtbare seelische Wunde, insbesondere, wenn dieser Tod offenbar zu verhindern gewesen wäre. Was Garanin hier erzählt, ist autobiografisch. Ihre farbigen Zeichnungen, leicht karikaturistisch angelegt, bauen eine für Betrachter erträgliche Distanz zum tragischen Geschehen auf und sind für die Autorin selbst Mittel zur Verarbeitung. Sie schildert ihr glücklich-fröhliches Familienleben, in das der kleine Nils und seine drei älteren Geschwister eingebunden sind. Zeigt dann, wie er erkrankt, wie die Familie ihn begleitet, wie sie hofft und dann doch seinen Tod hinnehmen muss. Und wie sie versucht den offensichtlichen Fehler der ärztlichen Behandlung aufzuklären und zur Rechenschaft zu ziehen – gegen eine geschlossene Front von Ärzten, Politikern, Juristen. „Das Verfahren wird eingestellt.“ Die Fantasie, die in der Bildgeschichte Gestalt bekommt, hilft, die Wut zu überwinden und Nils mit den Wildgänsen, wie er es einst beobachtet hat, davon fliegen zu lassen aber stets in Erinnerung zu behalten.

Cynthia Häfliger: Fremde Blicke

Cynthia Häfliger: Fremde BlickeHäflingers leichter, fast skizzenhafter Zeichenstil, die zarte aquarellierte Farbgebung, das Zusammenspiel von handschriftlichem Text (wörtliche Rede, Erzählerkommentar) erwecken den Eindruck einer lyrisch-zarten Geschichte. Doch die Idylle familiären Alltags bricht. Seiten mit wilden, harten dynamisch bewegten Kritzelstrichen, brutalen Versalien (NEEEIIIIN) spielen immer wieder auf seelische Zustände an, eindrucksvolle, erschreckende Bildmetaphern. Es geht in der Geschichte um Lars, der seelisch erkrankt, was die Familie erst allmählich merkt, um seine Versuche, der gefühlten ständigen Bedrohung zu begegnen, die verlorene Realität wieder zu gewinnen. Einfühlsam nimmt die Autorin die Leserschaft mit auf diesen Weg, den Lars, seine Eltern, seine Schwester gehen müssen. Sie erzählt uns eine Geschichte, die die Augen öffnen kann, bedrohlich fremde Blicke zwar nicht zu wissenden, aber ahnend verständnisvollen zu wenden.

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Thomas Hausmanninger

Christliche Sozialethik, Universität Augsburg

Gerry Conway , Ross Andru, et al.: The Amazing Spiderman Omnibus 4 + 5

The Amazing Spiderman Omnibus 4 + 5.Die beiden Bände enthalten fast den ganzen Run von Ross Andru als penciller und sind (inklusive des Todes von Gwen Stacy) von Gerry Conway geschrieben. Andru ist ein leider unterschätzter Zeichner, dessen Perspektiven und anatomische Verzerrungen nicht hinter dem großen Gil Kane zurück stehen müssen. Als besonderes Highlight kann zudem gelten, dass Andru die Geschichten im real existierenden New York zeichnet. Anders als Kane, Romita sr. und Ditko erzeugt er keine generischen Hintergründe und Räume. Er hat mit seiner Kamera immer wieder dokumentiert und das ergibt das Vergnügen, eine reale Raumtiefe und ein Stadtbild sehen zu können, welches wirklich distinkt erscheint. Das hat viel Atmosphäre. Conway schreibt interessante Geschichten, deren Plots sich – typisch Marvel – über viele Hefte ziehen. Wer den frühen Spiderman mag, wird an diesen Bänden sein Vergnügen haben!

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Aleta-Amirée von Holzen

Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM

Patrick Wirbeleit, Andrew Matthews und Uwe Heidschötter: Das unsichtbare Raumschiff

Das unsichtbare Raumschiff
Der Kindercomic Das unsichtbare Raumschiff scheint seine Zugehörigkeit zum Medium a
priori infrage zu stellen, denn es handelt sich laut Verlag um einen Comic (fast) «ohne Bilder». Geht solches überhaupt, und kann das funktionieren? Ja, sogar erstaunlich gut – wenn die witzige Ausgangslage ist, ein Geschehen auf einem unsichtbaren Raumschiff mitten in einer schwarzen Gaswolke in der Weite des Alls zu erzählen. Denn die vierköpfige Mannschaft, die klar eine leicht parodistische Hommage an «Star War» ist, aktiviert die Unsichtbarkeit der «Invisibility 2», ohne die Konsequenzen zu bedenken: Wenn alles unsichtbar ist, findet man auf dem riesigen Schaltbord den Knopf zum Abstellen nicht so leicht wieder, und so spielt sich dieses Abenteuer in absoluter Dunkelheit ab. Auf den allermeisten Seiten sind daher bloß farbige Sprechblasen und Geräuscheffekte in lauter schwarzen Panels zu sehen. Eine Paradebeispiel, um zu zeigen, was allein die Gestaltung und Farbgebung von Sprechblasen und Schrift (die freilich durchaus eine bildliche Komponente haben) zu transportieren vermögen. Neben der gelungenen Umsetzung dieser Idee tragen auch die liebevoll dämlichen bzw. tollpatschigen Figuren dazu bei, dass dieser herrliche Unsinn eine sehr amüsantes Leseerlebnis ist. Nicht zuletzt drängt sich die Frage auf: Wie cool wäre es, Theaterstücke statt in eng gesetzten Textausgaben mit bunten Sprechblasen lesen zu können? Auf der Verlagshomepage ist übrigens einen sehenswerten (achtminütigen!) Trailer zu finden.

Mathieu Burniat: Eine Reise unter die Erde. Die Geheimnisse der Welt unter uns

Eine Reise unter die ErdeHades, der griechische Gott der Unterwelt, sucht einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin und lässt Einladungen zur Bewerbung über den Erdball flattern. Tatsächlich findet sich am Tor A 23 des Totenreichs bald eine ganze Schar von Anwärter:innen ein, darunter die 16-jährige Suzanne, die Hades eigentlich bloss bitten will, ihren Freund wieder lebendig zu machen. Das Bewerbungsprozedere entpuppt sich als mörderischer Wettbewerb mit «Hunger Games»-Vibe. Fünf Aufgaben gilt es zu lösen, die allesamt nicht etwa mythologische Kenntnisse verlangen, sondern Wissen um die Beschaffenheit des Erdreichs. Dazu werden die Bewerber:innen immer kleiner gezaubert und tauchen immer tiefer in die Mikroebene des unterirdischen Lebens ein, während sich die Rivalität unter ihnen verschärft. Suzanne freundet sich mit dem gleichaltrigen Tom an. Als unwahrscheinliche Heldenfiguren – Tom etwa hat Angst vor Mikroben, überwindet diese aber, als sie grösser sind als er – kommen die beiden unscheinbaren Teenager mit Kreativität, Teamgeist und dem nötigen Glück jeweils eine Runde weiter. Eingebettet in die actionreiche Handlung ist ein eindrückliches Sachbuch über die Mechanismen und Lebewesen in jenen anderthalb Metern Erdschicht, denen alles, was wächst, entspringt. Die Informationen etwa über Stickstoff, Pilze, Bakterien oder Nematoden stören dabei den Spannungsbogen des Wettbewerbs keineswegs, sondern wirken als Teil davon. Das befeuert beide Leseinteressen, das literarische und das sachliche – zu wissen, wie die Handlung ausgeht, aber auch mehr über den Boden zu erfahren.

Andreas Steinhöfel und Melanie Garanin (nach einem Drehbuch von Klaus Döring und Adrian Bickenbach): Völlig meschugge?!

Völlig meschugge?!Völlig meschugge?! ist der Comic zur gleichnamigen und gleichzeitig erschienenen ZDF/Kika-Fernsehserie. Das Freundestrio Benny, Charlie und Hamid hält sich für unzertrennlich. Doch dann trägt Benny nach dem Tod seines Opas dessen Judenstern um den Hals und löst damit eine ungewollte Lawine von Vorurteilen aus. Erst gibt es blöde Sprüche, dann stellt sogar Hamid ihre Freundschaft deswegen infrage. Dabei gerät Hamid selbst in Verdacht, ein Handydieb zu sein. So wimmelt es an der Schule plötzlich vor Vorurteilen, und trotz einzelner versöhnlicher Stimmen sind die Erwachsenen angesichts des grassierenden Rassismus zunehmend überfordert. So liegt es an Charlie, die ungläubig zwischen den Parteien steht, sich ins Zeug zu legen, um ihre zwei besten Freunde und die ganze Schule zur Räson zu bringen und nebenbei die Handydiebstähle aufzuklären. Damit das gelingt, braucht es natürlich ein dramatisches Finale. Im Unterschied zur Serie ist der Comic aus der Sicht von Charlie, dem einzigen Mädchen des Trios, erzählt. Zeichnerin Melanie Garanin hat den von Kinderbuchautor Andreas Steinhöfel («Rico und Oskar») verfassten Text kongenial ins Bild gesetzt. Bild- und Textebene überzeugen je für sich, aber auch in ihrem Zusammenspiel. Nah an jugendlichen Lebenswelten, hält die Erzählung gekonnt die Balance zwischen Ernsthaftigkeit und
Augenzwinkern. Mit 288 Seiten, sehr viel und zum Teil recht klein gedrucktem Text ist Völlig meschugge?! formal wie inhaltlich zwar eine durchaus fordernde, aber jederzeit lohnende Lektüre.

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Hanspeter Reiter

Comicoskop-Redakteur

Sophie Standing: … ist ziemlich strange

... ist ziemlich strangeVisualisieren als hoch relevantes Thema, in einem Begleitbuch fürs eigene Umsetzen oder fürs Begleiten im Umsetzen durch Fachleute, bei diesen Themen in aller Regel: Therapeuten. Doch auch diesseits von Therapie für Weiterbildner jeglicher Couleur sinnvoll nutzbar, sich anregen zu lassen! Geschrieben/getextet von unterschiedlicher Fach-Autorenschaft, alle illustriert von der selben Zeichnerin: Bis dato sind fünf Hefte erschienen, jeweils als Graphic Novel umgesetzt, im je gleichartigen Konzept – hier für Trauma kurz dargestellt: „Trauma ist ziemlich strange. Was ist ein Trauma? Wie verändert es die Funktionsweise unseres Gehirns? Und wie können wir es bewältigen, es überwinden und wieder ganz werden? Schafft Verständnis für die Betroffenen, unterstützt Helfer in ihrer Arbeit, hilft Betroffenen, sich und den eigenen Körper zu verstehen… Mit klugen Bildern und Katz- und Maus-Metaphern, grundlegenden wissenschaftlichen Fakten und einer gesunden Portion Humor erläutert Steve Haines, wie zur Heilung eines Traumas nicht nur die Psyche, sondern insbesondere auch der Körper mit einbezogen wird. Er zeigt Methoden und Übungen, mit denen Spannungen abgebaut und tiefe muskuläre Stressmuster gelöst werden können.“ Jeweils um 32 Seiten, variiertes Layout, meist mit Erklär-Texten im Panel, teils auch mit Sprechblasen, je sequenzielle Passagen: So gelingt Erklär-Comic auf beste Weise!

Manny Mercer et al.: Enzyklopädie der deutschen Micky-Maus-Hefte. Band VIII / 1959 – Das 1. Micky Maus-Halbjahr und die Verdienste der Erika Fuchs

Enzyklopädie der deutschen Micky-Maus-Hefte. Band VIII / 1959 – Das 1. Micky Maus-Halbjahr und die Verdienste der Erika FuchsOha, dieses Mal ist eine Menge mehr drin, in diesem nun schon achten Band der MM-Enzyklopädie – nämlich eine starke Analyse zum Einfluss der großen Erika Fuchs! Mehrere Autoren haben dazu beigetragen, u.a.: ich 😉 … Als Comicoskop-Redakteur habe ich die damalige Leiterin des Erika-Fuchs- Hauses und –Museums in Schwarzenbach a.d. Saale interviewt, als studierter Sprachwissenschaftler zentrale linguistische Momente des Wirkens der grande dame eingedeutschter Disney-Comics dargestellt. Eingedeutscht? Ja, denn sie hat weit mehr geschafft (und geschaffen!) als ein Übersetzen – sie hat im besten Sinne die Sprechblasen lokalisiert. So, genug verraten, Details lese Leser:in gefälligst selbst. Denn „das Buch zeigt auf 312 Seiten alle Cover und Rückseiten der Micky Maus-Hefte von 1959 und zu jeder Ausgabe die etwa fünf oder sechs wichtigsten Innenseiten – und das alles in Originalgröße und in den Originalfarben der uralten Hefte.“ Das allein genügt im Grunde, zuzugreifen. Doch weiter geht´s mit der oben genannten Besonderheit: „Wir haben in Band 8 das wissenschaftliche wie leidenschaftliche Vorwort Frau Dr. Erika Fuchs gewidmet, der wir mehr als nur perfekte Übersetzungen verdanken. Ein Sprach-Experte, eine Museums-Leiterin, ein mehr als fachkundiger Donaldist und der Autor selbst haben auf 25 Seiten die unsterblich gewordenen Verdienste der Frau Dr. Erika Fuchs zusammengetragen…“. Very special!

Ulrike Bauer-Eberhardt et al.: Die Bilderbibel aus Padua

Die Bilderbibel aus PaduaStrahlende Bilderwelten des Mittelalters erleben, so der Slogan dieses einzig verbliebenen Luzerner Faksimile-Verlags. Und diese auf 680 Exemplare weltweit strikt limitierte Edition ist ein bestensgelungener Beleg für diese Aussage. Denn „Das Alte Testament in 529 Bildern“ ist in diesem Faksimile exzellent wieder gegeben – in einer Bild(er)geschichte also: Im weitesten Sinne ein früher Comic, nämlich vom Ende des 14. Jahrhunderts. Das zeigt schon der Auszug in der Abbildung, dort auch das durchaus variable Layout erkennbar, das meist allerdings vier Bilder pro Seite zeigt. Alles im allem also „eine prächtige Bilderbibel: In Text und Bild verschmelzen auf einzigartige Weise die Vergangenheit der biblischen Geschichte mit der Gegenwart des Auftraggebers aus Padua um 1400….allesamt Teile des Weltkulturerbes. Unter der Lupe: Bilder wie in einem Film“ oder eben wie in seiner sequenziellen Abfolge von Bildern, mit begleitenden Texten unter dem jeweiligen „Panel“. (Mehr dazu hier) Zwar fehlen Sprechblasen, wie sie in manch anderer mittelalterlicher Bilderhandschrift durchaus auftreten (als Textbanderole in der Regel), doch gibt es durchaus kurze Texte in manchem Bild, meist Personen benamsend: Ein wenig den Begleit-Texten in manchem Comic entsprechend… Wieder ein feines Beispiel dafür, wie Bildgeschichten schon vor Jahrhunderten heutige Comics (besser: Graphic Novels) erahnen ließen!

Timur Vermes: Comic-Verführer

Comic-VerführerWow, ein feiner und gelungener Mix aus Ratgeber, Handbuch und tour d´horizon durch Geschichte und Genre der Comics (plus Graphic Novel und Manga)! Geboten sind „über 250 aufregende Empfehlungen und Abbildungen – durchgehend vierfarbig“, auf deutlich über 300 Seiten, gewidmet eben der Neunten Kunst… Oder schlicht anregende Lektüre mit einer Fülle an Einblicken in Comic-Themen quasi jeder Art: Drei Dutzend Artikel sind geboten, unterschiedlicher Länge, durchweg bebildert und mit Kurz-Verzeichnis der jeweils besprochenen Comics (bzw. Reihen) – dazu „Outtakes“, die kurz kommentiert derlei aufführen (S. 7 erläutert): „die …a) sich super verkaufen (die ich aber weniger gut finde), b) gut aussehen, aber mich erzählerisch nicht überzeugen, c) toll sind, aber leider nicht mehr leicht erhältlich“. Beiträge u.a. Wiedereinstiegsdrogen I bis IV / Ein Sattelfest: Lucky Luke und seine Enkel / Der rote Faden für den Blasendschungel /) / Die echten Reporter ohne Grenzen [Comic-Journalismus] / Panel, Splash & Gutter: Begriffe für Blasendrescher / Was steckt hinter der neuen Comic-Hoffnung? [Graphic Novel] / Die Sache mit den Mangas [sic!] / Mittendrin statt nur dabei (Comic-Künstlern beim Arbeiten) Schon diese zufällig (und dennoch bewusst 🙂 …) ausgewählten Überschriften zeigen, wie unterhaltsam der Stoff geboten ist – und wie „dennoch“ höchst informativ!

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Janek Scholz

Literaturwissenschaftler, PBI an der Universität zu Köln

Marcelo D’Salete: Mukanda Tiodora

Mukanda TiodoraIn der brasilianischen Comicszene gab es im November 2022 ein Highlight, auf das viele lange gewartet haben: Die Veröffentlichung von Marcelo D’Saletes neuem Comic Mukanda Tiodora. Nach Cumbe und Angola Janga beschäftigt sich der Autor ein weiteres Mal mit der Geschichte der Sklaverei in Brasilien und erzählt anhand der Titelfigur Tiodora von den Möglichkeiten und Schwierigkeiten, die 1866, 22 Jahre vor der Abschaffung der Sklaverei, für versklavte Personen bestanden, mittels Briefe miteinander in Kontakt zu treten. Tiodoras Brief muss zugestellt werden, doch diese Zustellung wird zum Abenteuer für Benê, der sich dafür von São Paulo bis zu den Kaffeeplantagen im Hinterland durchschlagen muss.

Wie immer verdichtet D’Salete verschiedene historische Zusammenhänge in seinem Comic und arbeitet mit einer überaus wirkmächtigen Bildsprache. Mukanda Tiodora setzt stark auf die Kraft des Bildes, Sprache tritt dabei fast in den Hintergrund. Das Besondere an D’Saletes Schwarz-Weiß-Stil ist das komplexe Blickregime: Wer blickt in welche Richtung? Wer sieht wen an (und wann)? Wer erblickt welches Detail? Die Blicke der Leser*innen werden dabei stets Teil des komplexen Gefüges aus erblicken und erblickt werden Der 220 Seiten starke Band enthält 45 Seiten Anhang, in dem sich neben historischen Karten und einer Zeittafel auch zahlreiche Fotos und ein Quellenverzeichnis befinden. Besonders außergewöhnlich sind aber zweifellos die sieben Briefe Tiodoras, die D’Salete zu seinem Comic inspirierten und die sowohl als Fotografie als auch als Transkript abgedruckt sind und den Band zu einem interessanten Forschungsgegenstand machen, sowohl in den Comic Studies als auch in den Geschichtswissenschaften. Doch auch ganz unabhängig von jeglichen Forschungsinteressen sei der
Band als bereichernde Lektüre wärmstens empfohlen!

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Lukas R.A. Wilde

Medienwissenschaftler, NTNU Trondheim

Tom King & Greg Smallwood: The Human Target

Jennifer Daniel: Das GutachtenEs ist mittlerweile ja fast schon eine feste Formel, nach der King Jahr um Jahr einen neuen legacy character von Marvel oder DC ausgräbt und dann seine ganz eigene, paranoid-psychologische Erzählweise mit mehr oder minder kurioser Superhelden-Continuity verbindet um so die merkwürdigsten narrativen Kippfiguren zu generieren. Nach Vision, Mister Miracle (meinem bisherigen Highlight) und zuletzt Strange Adventures wird nun also Christopher Chance, „The Human Target“, durch diese Maschine gejagt. King überblendet hier – doch nochmal verblüffend – eine hübsche Noir/Crime-Story im Brubaker-Stil mit Keith Giffens und J.M. DeMatteis‘ eher für Ulk-Humor erinnerte Justice League International-Ära (1987-89). Das ist an sich bereits ein wilder, äußerst lesenswerter Mix, beeindruckend wird das Ganze aber erst durch Greg Smallwoods Mise-en-page und Layouts, die so einzigartig und unkonventionell anmuten, dass man sie sofort in Parodien wiedererkennen könnte.

Lisa Frühbeis: Der Zeitraum/ A Fraction of Time

Der ZeitraumEigentlich bereits zum Jahresabschluss 2021 auf Tapas fertiggestellt, habe ich Lisa Frühbeis‘ 15teiliges Webcomic zu meiner Schande erst durch seine Prämierung mit dem diesjährigen GINCO-Award entdeckt. Die Autorin schöpft dabei das Potenzial digitaler Comics – und nochmal spezieller das serielle Scroll-Down von Tapas – voll aus. Dies aber so selbstbewusst, formal reduziert und ästhetisch präzise, dass Der Zeitraum wirklich eines der faszinierendsten Comics seit langem für mich ist. Auch inhaltlich entfesselt die Geschichte einer alleinerziehenden Mutter und Klavierkomponistin, die auf einer einsamen Insel ein Portal in eine Parallelwelt findet, gleich mit der ersten Folge eine ganz eigene Faszination; Lisa Frühbeis schafft es dabei ganz zauberhaft, Alltägliches mit mehr und mehr Fantastischem zu verbinden und beides zu ganz präzisen Aussagen und Charakterisierungen  zu bündeln. Als I-Tüpfelchen ist zudem alleine die innovative Bildsprache für Musikillustrationen einigermaßen spektakulär – eine wirklich ganz bemerkenswerte Geschichte, die mal wieder an das große Potenzial von Tapas erinnert!

James Tynion IV & Alvaro Martinez Bueno: The Nice House on the Lake

The Nice House on the LakeAuf James Tynion IV ist immer Verlass, eingespielte Genre-Formeln auf den Kopf zu stellen, hier: die „Cabin in the Woods“-trope, bei der am Ende nur eine Person überleben darf. Stattdessen beobachten wir hier einen 11köpfigen Freundeskreis bei der langsamen Realisierung, dass außerhalb ihrer Hütte im Wald die Apokalypse begonnen haben könnte und nur sie selbst gerettet und unsterblich sind, alles Dank ihres langjährigen Freundes Walter, der womöglich schon immer ein Alien ist. Rückblenden durch viele Jahrzehnte meditieren dabei in überraschender Tiefsinnigkeit und Ernsthaftigkeit über Freundschaften, Lebenswege und Lebensziele. All das wird auch noch sehr originell durch häufig wechselnde Erzählebenen – Dialogprotokolle, Email-Verkehr, Diagramme – trianguliert. Lange war ich nicht mehr so auf ein zweites (abschließendes) Trade Paperback gespannt wie hier.

Letzter Post des Jahres 2022 + ComicsExchange am 27.01.2023

Das Jahr neigt sich dem Ende zu und wie immer verabschiedet sich die Redaktion der Gesellschaft für Comicforschung zu diesem Anlass in eine kurze Pause über die Feiertage. Wir bedanken uns bei allen Leser_innen unseres Blogs, die uns in diesem Jahr begleitet haben! Wir wünschen angenehme Feiertage und einen guten Start ins Jahr 2023.

Ab dem 12. Januar 2023 geht es mit regelmäßigen Neuigkeiten zur Comicforschung weiter und wie immer beginnen wir das neue Jahr mit unseren Leseempfehlungen.

Last but not least möchten wir schonmal den Termin des ComicsExchange am 27.01.2023 zum Thema „Schrift“ ankündigen. Das Diskussionsforum findet online statt und beginnt um 17:00 Uhr. Beiträge können noch bis zum 06.01.2023 eingereicht werden. Nähere Informationen auf der Website der Veranstalter_innen.

Frohe Feiertage,
Vanessa Ossa, Michaela Schober & Natalie Veith