Auch in diesem Jahr wünscht die Redaktion und der Vorstand der Gesellschaft für Comicforschung all ihren Leser_innen und Freund_innen einen guten Start ins neue Jahr 2024 und präsentiert zu diesem Anlass wieder aktuelle Leseempfehlungen von Comicforscher_innen, die wir zum Jahresabschluss gesammelt haben. (Die Leseempfehlungen der letzten Jahre finden sich hier.) Viele unserer Mitglieder haben uns erneut ganz subjektive Lektüretipps geschickt, die aus den vergangenen zwölf Monaten im Gedächtnis geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer. Darunter haben sich auch ein, zwei Titel eingeschlichen, die bereits zuvor publiziert worden sind, aber in diesem Jahr nochmal besonders im Gedächtnis geblieben sind.
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Aleta-Amirée von Holzen
Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM
Rina Jost: Weg
In ihrem beeindruckenden Graphic-Novel-Debüt lässt die Rina Jost ihre Protagonistin eine fantastische Reise erleben, die offen als Metapher steht für die Frage, wie man mit der Depression eines geliebten Menschen umgehen kann. Die Schweizer Künstlerin konnte eigene Erfahrungen in die Fiktion einfliessen lassen und hat die komplexe Thematik kreativ und einprägsam, doch stets zugänglich umgesetzt. Am Anfang wirkt die Redensart «in einer Depression versinken» sozusagen buchstäblich: Malins Schwester Sibyl mutiert von einem Deckenberg zu einem Felsen und versinkt durch ihre Matratze. Malin taucht hinterher und landet in fantastischen Gefilden. Hier versucht sie, Sybil zu finden – diese ist jedoch stets schon weitergegangen. Doch hat Malin zumindest in Dackel Wilma eine treue Begleiterin, während sie diese surreale Welt durchstreift und auf Figuren trifft, die oft mythologische Anspielungen verkörpern. Für den wohl eindrücklichsten Schreckensmoment sorgen die schwarzen Raben, die Malins Angst verkörpern, selbst an einer Depression zu erkranken. Schliesslich muss sie erkennen, dass sie ihrer Schwester eigentlich nicht helfen kann und jeder seinen Weg selber finden muss. Malins Reise zieht einen durch die sympathische Hauptfigur, die fantasievollen Stationen und allem voran ihrer Bildmächtigkeit in ihren Bann. Die Texte dazu sind knapp formuliert, und so erhält die Geschichte eine erzählerische Leichtfüssigkeit, die aber die Gewichtigkeit des Themas nicht untergräbt – womit «Weg» durchaus auch schon eine kindlich-jugendliche Leserschaft anspricht.
Flore Vesco und Kerascoët, aus dem Französischen von Ulrich Profröck: Mit Mantel und Worten
«Majestät, ihr seid noch bezaubernder als eine Espalüne!» Mit diesem extravaganten Kompliment sichert sich Serine, die Tochter eines verarmten Landadeligen, im barocken Frankreich überraschend eine Stellung als Hofdame der Königin. Obwohl niemand weiss, was das von Serine spontan erfundene Wort bezeichnet, wird es sofort der Hit im höfischen Getue. Trotz der Gunst der launischen Königin erkennt Serine bald, dass sich hinter den Oberflächlichkeiten des Hoflebens handfeste Skrupellosigkeiten verbergen. Doch sie manövriert sich so unbekümmert wie geschickt durch die höfischen Intrigen, bis sie ihre Stellung verliert und in den Fluss gestossen wird. Da beschliesst Serine, dass der Spass nun vorbei ist – und kehrt im Kostüm eines Hofnarren ins Schloss zurück. In dieser Rolle läuft sie zu Hochform auf und gewinnt die Gunst des alten Königs, während sie – unterstützt nur vom Henkerlehrling – herauszufinden versucht, wer dem König nach dem Leben trachtet. Die Literaturadaption präsentiert Serines Abenteuer in kleinteiligen Panels, die aber vom Schwung der wenigen Striche leben, die Serines Unbeschwertheit und ihre soziale und körperliche Agilität abbilden. Viele sprachspielerische Elemente sind immer wieder kreativ ins Bild integriert. Die Lächerlichkeit der Höflinge wird mit viel Augenzwinkern ausgestellt – umso mehr ist Serine mit ihrer Offenheit und Spontanität eine so liebenswerte wie clevere Heldin. Auch wenn sie in der Komödie und im Spielerischen verhaftet bleibt, ist Serine eine emanzipierte Version von Mantel-und-Degen-Helden à la Scaramouche, womit das zurzeit eher wenig produktive Genre hier eine lesenswerte Bereicherung erhält.
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Dietrich Grünewald
Kunstdidaktiker, Emeritus Universität Koblenz-Landau, ehem. 1. Vorsitzender der ComFor
Sid Sharp, aus dem Englischen von Alexandra Rak: Der Wolfspelz
Das Buch ist ein Erstlingswerk – kommt aber routiniert und sehr gelungen daher. Wie der Verlag vermuten lässt: ein Bilderbuch für jüngere Kinder – und eine höchst amüsante, lesens- und sehwürdige Bildgeschichte für alle, die in Doppelbildern, Einzelbildern und zwei, drei oder vier Bildern auf einer Seite erzählt, stellenweise mit integriertem kurzen Erzähltext, mit Sprechblasen, aber bildmächtig auch mal ganz ohne Text. Im Wald, düster, angsterregend, spielt die Parabel; entsprechend betont die Farbgebung mit meist schwarz hinterlegtem Grund die Stimmung. Auf den ersten Blick wirken die aquarellierten Zeichnungen ein wenig ungelenk, sehr zeichenhaft und flach, die Akteure z. T. wie Schablonenfiguren. Aber man merkt schnell, dass diese einfache und unmittelbar ansprechende Bildsprache der Thematik wie der intendierten Zielgruppe genau entspricht. Man sieht sich ein, identifiziert sich, spielt mit, fühlt mit, wenn Bellwidder sein Morgenbad genießt, bis weit in den Morgen tanzt, und dann ängstlich im Wald bei der Suche nach Beeren sich beim leisesten Knacken das Schlimmste vorstellt. Angst hat Bellwidder vor Wölfen, denn Bellwidder ist ein Schaft. Doch bei aller Ängstlichkeit: Er lässt sich nicht unterkriegen. Er schneidert sich ein Wolfskostüm, dreht das bekannte Sprichwort herum und begibt sich – nun selbst ganz in der Wolfsrolle – mutig ins Walddickicht. Und Bellwidder trifft tatsächlich auf drei Wölfe, freundet sich mit ihnen an – und dann beginnt sein Wolfspelz Fäden zu verlieren, wird aufgezupft und enthüllt schließlich das Schaf. Der überraschende Clou der Geschichte, der auch Kinder wirkmächtig zum übertragenden Weiterdenken anregt, erweist sich, als Bellwider ergeben die Augen schließt und darauf wartet, von den Wölfe gefressen zu werden: Auch die drei Wölfe tragen nur Kostüme, entpuppen sich als Huhn, Hirsch und Ziege… Der Schluss ist programmatisch symbolisch: Bellwidder lädt die neuen Freunde zu sich ein – und zieht die Vorhänge auf: „Ich möchte hier nur ein wenig Licht hereinlassen.“
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Hanspeter Reiter
Comicoskop-Redakteur
Jan Novak / Jaromir99: Čáslavská
Diese ausgesprochen farbenfrohe Bildgeschichte von 176 Seiten zeichnet das Leben der berühmten tschechischen Kunstturnerin Věra Čáslavská nach. Sie war eine außergewöhnliche Frau, die bei Olympischen Spielen insgesamt sieben Gold- und vier Silbermedaillen gewann. Sie war eine Frau, die sich nicht verbiegen ließ und für ihre Überzeugung kämpfte. Dieser Band würdigt diese Frau, die sich nicht unterkriegen ließ. Die Farben sind flächig eingesetzt und variieren mit den Erzähl-Strängen. Die Panels sehr variabel, mal sechs, mal vier, mal drei oder auch zwei, dazu ganz- und doppelseitige Bilder (meist angeschnitten), teils mit ergänzenden Auszügen als Kreisflächen. Ebenso flexibel sind Sprechblasen eingesetzt, dazu kommen erläuternde Fußzeilen-Texte und integrierte Kästen. Besonders interessant sind farblich abgesetzte Schattenwürfe bei Gesichtern, während sie in anderen Darstellungen nur in einer Art Ligne-Claire-Stil gestaltet sind. Nun, viele Seiten erinnern gar an PopArt, was Comics als Neunte Kunst verdeutlicht! Ein Kunstwerk mit gestaltetem Vorsatz. Interessant zudem für alle Turn-Interessierten, sind doch vielerlei der komplizierten Übungen an diversen Geräten sequenziell illustriert, etwa Stufenbarren oder Boden… Schön, dass diese exzellente Graphic-Novel nun auf Deutsch verfügbar ist, nachdem ich sie im Rahmen des Münchner Comic-Festivals schon mal im tschechischen Original hatte durchblättern können, beim Tschechischen Zentrum München, Programm siehe https://munich.czechcentres.cz/de.
Käthe Leipold: Die vergessene Hälfte
… ist natürlich ein feines Wortspiel zur „besseren Hälfte“, was im Übrigen hier bei vielen der vorgestellten Ehefrauen absolut zutrifft – nur waren sie quasi zur falschen Zeit geboren und wurden so untergebuttert: Wie lebte es sich mit Bach, Mozart, Chaplin, Einstein oder Georg I. von England? Offensichtlich nicht gerade einfach! Manche kennt die Leserschaft wohl schon durch bewusstes Hervorholen in den vergangenen Jahren, zumindest für Minerva Einstein-Maric sollte das zutreffen. Die Künstlerin spielt auf diversen darstellerischen Ebenen mit der Illustration, neben reinem Bild nämlich auch mit kreativen Schriften (plus Hervorhebungen in Farbe und mit Konturierungen à la Schatten, S. 51 z.B.). Gar Sprechblasen kommen ins Spiel (S. 34f. z.B. bei den Mozarts oder S. 129 Ludwig XIV.). Klischees nutzt sie durchaus, seien es Profil-Vorlagen oder bekannte Darstellungen wie Einsteins ausgestreckte Zunge (S. 105). Wer mag, kann vielem folgen, weil S. 136ff. die Quellen für Zitate aufgeführt sind, seien sie textlich, seien sie bildlich. Knapp 150 Seiten fein gezeichneter „Graphic Novel“ im weitesten Sinne – lesen & betrachten! PS: Auch „am Rande“ des Genres Illustration/Bild-Geschichte wird mehr und mehr auf die „vergessene Hälfte“ geachtet: So wurde das berühmte Museum im Münchner Isartor umgetauft in „Valentin-Karlstadt-Musäum“, immerhin…
Walter Trier: Nazi-German in 22 lessons – Nazi-Deutsch in 22 Lektionen
„Walter Triers Karikaturen gegen die Nazis“ und „including useful information for Führers, fifth Columnists, Gauleiters and Quislings“ sind zwei Bände, die einen exzellenten Ein- und Überblick bieten, zu des Illustrators gelungenen Werks anti Nazi. Beide wertig als Hardcover, mit weiterführenden Analysen, fein! U.a. von Antje M. Warthorst, die es geschafft, diesen deutschen Cartoonisten dem Vergessenwordensein zu entwinden: Das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte hat gerade für Interessierte an Bild-Geschichten viel zu bieten, vom Illustrator Erich Kästners. Und gerade in wieder verdunkelnden Zeiten wie diesen wird es wichtiger denn je, sich zu erinnern. Etwa mit dem Logo X als Begleitung der russischen Aggression, das hiermit als weitere Zwangs-Adoption
erscheint: „Widerstand bis zum Sieg über die Nazis, dafür stand das V.“ Von den Alliierten gut als starkes Signal an und in die Bevölkerung erkannt und eingesetzt. Phasenweise absolut comicesk kommen die Cartoons daher, hier endlich gesammelt zu erleben! Und im zweiten Band ist tatsächlich ein Comic geboten, nämlich sequenziell wirkende Panels, gepackt in ein Flugblatt. Auch hier mit engen Bezügen zur Gegenwart 2023… Nachdruck des illustrierten Original-Flugblatts mit allen „22 Lektionen“ und Kommentaren. Mit Vorwort von Max Czollek sowie wertvollen Anmerkungen der Walter Trier-Expertin Antje M. Warthorst. Zweisprachige Ausgabe.“ Gilt für beide.
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Janika Frei-Kuhlmann
Literaturdidaktikerin, Institut für Germanistik, Justus-Liebig-Universität Gießen
Nando von Arb: Fürchten Lernen
Mit Fürchten lernen (2023) legt Nando von Arb ein ausdrucksstarkes Werk zum Thema Angsterfahrungen vor. In seinem unverkennbaren Stil widmet sich von Arb in kurzen Episoden den unterschiedlichen Facetten von Angst: der Angst vor Dunkelheit, Einsamkeit, Krankheit, Tod, Versagen und Verlust. Dabei zeigt er nicht nur die verschiedenen Ebenen und Nuancen individueller Angsterfahrungen auf, sondern stellt sich einer besonderen Herausforderung: der Angst ein Gesicht verleihen. In expressiven und kontrastreichen Darstellungen gibt sich die Angst in Fürchten lernen in Form von grotesken, unheimlichen Fratzen, die den Protagonisten nachts aufsuchen oder als organische Auswüchse, die sich durch den Körper der Figur fressen, zu erkennen. Albträume werden grafisch ausdrucksstark festgehalten und durch die Gedanken des Protagonisten kommentiert und kontextualisiert. Neben den individuellen Bewältigungsstrategien mit Angsterfahrungen, bei denen die direkte Konfrontation neben der Flucht vor der Angst skizziert wird, wird dabei gleichermaßen die Frage nach der gesellschaftlichen Akzeptanz von Betroffenen mit Angsterfahrungen aufgeworfen. Die Ängste, Albträume und Panikattacken werden stets individuell – mit und in sich selbst – verhandelt, wodurch eine weitere Dimension von Angst eröffnet wird: die Angst davor, mit anderen über Angst zu sprechen. Nando von Arb gelingt es in Fürchten lernen in besonderer Weise, abstrakte, vielschichtige und persönliche Gefühlszustände, die sich oft nur fließend und nuanciert wahrnehmen lassen, greifbar zu machen. Auf sensible und gleichermaßen eindringliche Weise gelingt es dem Autor durch eine entschiedene Komposition aus Licht, Schatten, Form und Farbwahl ein überzeugendes Werk vorzulegen, das nicht nur durch seine inhaltliche Komplexität und Tiefe, sondern auch durch die stilistisch-grafische Raffinesse beeindruckt. Sein besonderes Talent für die bildhafte Konservierung des ‚Unsagbaren‘ bezeugt er damit auf vielfältige Weise.
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Jörn Ahrens
Kultursoziologe, Justus Liebig Universität Giessen
Jean-Christophe Brisard/Alberto Pagliaro: Hitler ist tot!, 3 Bände
Zwischen Januar und August hat Splitter diese Mini-Serie vorgelegt, deren Handlung am 02. Mai 1945 einsetzt. Die Rote Armee hat Berlin erobert; nun will Stalin zeigen, dass Hitler wirklich tot ist. Das ist schwierig, denn eine Leiche fehlt. Zwei Geheimdienste, der NKWD und die SMERSch, treten in einen Wettlauf darum ein, Hitlers Leiche oder zumindest Beweise für seinen Tod zu finden. Dabei bekämpfen sie sich innerhalb des von Konkurrenzen und Misstrauen durchzogenen sowjetischen Systems unerbittlich. Brisards Plot geht vielschichtig vor. Gezeigt wird die kleinteilige Suche nach Hitlers Leiche, die Elemente einer Detektiv-Serie aufnimmt. Im Trümmer-Berlin des Kriegsendes werden immer wieder die deutschen Informanten thematisiert. Im Vordergrund steht aber der Kampf der beiden ausführende Dienste, die für konkurrierende Fraktionen im System der sowjetischen Führung stehen. Auch deren Intrigen im Hintergrund, speziell um NKWD Chef Beria, werden nicht ausgespart. In atmosphärisch dichten Zeichnungen entfaltet Pagliaro diese Geschichte. Sein kantig abstrahierter Stil erinnert mal, gerade auch in der Kolorierung, an expressionistische Holzschnitte, mal bleibt er skizzenhaft und lehnt sich an die Illustrationsgraphik der 1940er/50er Jahre an. Dass die ebenso glaubwürdig wie fantastisch anmutende Geschichte außerdem historisch gut recherchiert ist, zeigt der Begleitteil im dritten Band.
Marcello Quintanilha: Hör nur, schöne Márcia
Wie beschränkt der Blick auf Comics (nicht nur) hierzulande nach wie vor ist, zeigt sich an ihrer Herkunft, die selten den europäischen oder nordamerikanischen Raum verlässt. Verdienstvoll hat der Reprodukt Verlag nun, nach Tungsténio bei Avant, das zweite Album des Brasilianers Marcello Quintanilha vorgelegt. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Krankenschwester Márcia, die sich sorgt, ihre Tochter Jaqueline, sorglos und ignorant, könne auf die schiefe Bahn geraten. Das bestätigt sich spätestens, als Jaqueline nach einer Festnahme rasch wieder freikommt. Márcia und ihr Freund Aluísio gehen der Sache nach und geraten in einen Strudel aus Drogenkriminalität und Milizen, bis Jaqueline dafür sorgt, dass Aluísio krankenhausreif geprügelt wird und selbst in den Knast geht. Am Ende des Comics aber ziehen Márcia und Aluísio aufs Land zu Jaqueline und deren Familie, ausgerechnet im Gefängnis war sie vom evangelikalen Priester schwanger geworden. Seine ziemlich bittere Geschichte von der Innenseite Brasiliens inszeniert Quintanilha in grellbunten Farben, einschließlich der menschlichen Körper. Viele Konturlinien fehlen. Konturen werden durch die Farben markiert, schwarze Linien gibt es nur dort, wo sie benötigt werden. Die Panels sind nie durch Linien gerahmt, was dem ansonsten nicht experimentell angelegten Band eine große Leichtigkeit in der Graphik verleiht. Zeichnungen und Narrativ stehen in maximalem Kontrast zueinander. Das alles macht Lust auf mehr, mehr von Quintanilha und mehr aus der offensichtlich schwer interessanten Comic-Szene in Brasilien.
Matz/Jörg Mailliet, nach Olivier Guez: Das Verschwinden des Josef Mengele
Im Juni 1949 erreicht Josef Mengele Argentinien. Unterstützt durch ein gut ausgebautes Netz vor Ort, aber auch durch den niemals abreißenden Kontakt zu seiner Familie, die ein florierendes Unternehmen für Agrartechnik betreibt, baut Mengele sich zunächst eine gut situierte Existenz in Argentinien auf. Das Leben unter den ehemaligen Nazis ist mondän und gut situiert. Mengele reist unbehelligt nach Deutschland ein, um familiäre und finanzielle Belange zu klären, um den Vater zu beerdigen, holt seine Familie nach. Scheinbar geht das Leben im Exil und unter falscher Identität gut auf. Doch im Hintergrund versuchen sowohl der Frankfurter Staatsanwalt Fritz Bauer als auch der israelische Mossad Mengele ausfindig zu machen. Nach der Ergreifung Adolf Eichmanns wird es auch für Mengele eng, aber die deutsche Polizei und innenpolitische Prioritätensetzungen in Israel sorgen am Ende dafür, dass er unbehelligt bleibt. Unter dem Druck der Ermittlungen muss Mengele immer weiter flüchten, seine Netzwerke brechen sukzessive weg, seine Frau verlässt ihn. Die Familie kappt die Unterstützung; am Ende haust Mengele heruntergekommen in Brasilien. Mit 67 Jahren ertrinkt er beim baden im Meer. Basierend auf dem Roman von Olivier Guez hat Matz (Der Killer) ein dichtes, weitgehend chronologisch vorgehendes Script erstellt, das von Jörg Mailliet in flächigen Zeichnungen, die die Tradition der argentinischen Comics der Zeit aufgreifen, gekonnt und mit einer sehr schönen Kolorierung umgesetzt ist. Der Band bleibt konsequent an seinem Protagonisten und lässt dennoch keine falsche Nähe aufkommen; mit Flashbacks geht er angemessen sparsam um, es reicht völlig aus, zu wissen, um wen es geht.
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Lukas R.A. Wilde
Medienwissenschaftler, NTNU Trondheim
JH, Engl. Übersetzung von Ultramedia: The Horizon
Dank Yen Press hat dieser koreanische manhwa von JH von auch den Sprung vom Webtoon in Print geschafft! Sicherlich eines der düstersten und bedrückendsten Comics der letzten Jahre, überwältigt die Lektüre aber doch vor allem durch das unglaublich präzise, überwiegend visuelle Erzählen, in dem die wenigen gesprochenen Worte kaum mehr als einen düsteren Soundtrack bilden. Trotzdem werden die beiden kindlichen Protagonist*innen, mit denen wir durch eine postapokalyptische Schreckenswelt à la The Road (McCarthy) oder Parable of the Sower (Butler) wandern, vielschichtiger und komplexer als in der schillerndsten Prosa. Auf ihrer hypnotischen, oft phantasmagorischen Alptraumreise entsteht eine zerbrechliche Nähe, vielleicht auch eine Art von Hoffnung, die aber nie ganz die Einsamkeit und das Schweigen zwischen ihnen zu vertreiben vermag. Alle 21 Kapitel der Webtoon-Serie sind online zu lesen und abgeschlossen, die ummontierte Print-Ausgabe (vol.1 enthält chapter 1-5) funktioniert aber auch erschreckend schön.
Yuu Morikawa, Engl. Übersetzung von Julie Gonwich: Mr. Villain’s Day Off
Das Jahr war weltpolitisch ja nicht gerade einfach, manchmal tut daher Feel Good-Lektüre und gepflegter Eskapismus ganz wohl. Etwas Schöneres als Morikawas Kyūjitsu no Warumono-san, 2023 endlich auf Englisch übersetzt, findet man wahrscheinlich nicht so leicht. Episodische slice of life-Szenen laden zu kleinen „mental health“-Ausflügen in den Panda-Zoo oder den Konbini um die Ecke ein, wo sich ein außerirdischer Superschurke kurze Pausen von seinen Weltvernichtungsplänen gönnt. „That being said, today is my day off!“ wird so zu einer Formel, die nicht nur eine ganz zauberhafte Repetition entfaltet, sondern Genre-Regeln und Tonalitäten auch immer wieder neu überblendet und damit neben zauberhaftem Humor und unaufgeregtem Humanismus durchaus auch immer wieder poetische Qualitäten erzeugt.
Paul B. Rainey: Why Don’t You Love Me?
Ehrlicherweise ist der Einstieg in dieses seltsame, oft geradezu surreale Drawn&Quarterly-Buch nicht gerade einfach. Schon das Erzählformat lässt sich auf keinen rechten Nenner bringen: Paul B. Rainey bündelt hier ein schnelles Feuerwerk aus einseitigen Punchline-Strips, die häufig in beliebiger Reihenfolge gelesen werden können, langsam aber stetig jedoch immer größere Arcs und ein übergreifendes Gedächtnis entstehen lassen. Der beißend schwarze, mitunter geradezu bizarre Humor lässt Lachen aber nicht wirklich zu: Die kurzen Schnappschüsse aus häuslichen Familienszenen präsentieren das genaue Gegenteil einer Idylle, in der jedes Alltagsdetail von den Depressionen, Verletzungen und Suchtproblemen der Eltern Claire und Mark überschattet ist, die sich nicht einmal die Namen ihres Sohnes merken können und ihre Ehe lange, lange schon aufgegeben haben. Von dieser schwer verdaulichen „baseline“ aus kippt der Plot aber immer weitere ins Surreale und Phantastische – präzise um die Frage herum, ob dies wirklich nicht die Realität ist, die Claire und Mark leben sollten und alles zuvor – selbst das merkwürdig episodische (Nicht-)Gedächtnis – verblüffend motiviert ist! Am Ende der 210 Episoden ist immer noch nicht ganz klar, was man da eigentlich genau gelesen hat, und angenehm war es auch meistens nicht, ganz sicher aber sehr einzigartig und bewegend unter den Publikationen der letzten 12 Monate.
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Natalie Veith
Anglistin und Mediendidaktikerin, Goethe-Universität Frankfurt
Tom Gauld: Revenge of the Librarians
“Believe me: you do NOT want to make an enemy of a librarian.” Diese Warnung stellt der schottische Comiczeichner Tom Gauld seiner jüngsten Sammlung von Comic Strips, die nun schon seit mehreren Jahren den Literaturteil des Guardian zieren, voran. Gauld zeichnet in seinen Comics eine Welt, in der Literatur mit groteskem Ernst behandelt wird und man sich vor der Poetry Police in Acht nehmen muss, die bei trivialliterarischen Äußerungen in der Öffentlichkeit sofort eingreift. Auch reimaginiert Gauld gerne die Entstehung der großen Texte der Weltliteratur, etwa wenn Jane Austen bei der Konzeption ihres berühmten Anfangssatzes von Pride und Prejudice darüber sinniert, was ein alleinstehener Mann denn besitzen muss, um eine Frau zu brauchen (Ein sprechendes Pferd? Eine Zeitmaschine? Oder vielleicht doch lieber ein beträchtliches Vermögen?). Gaulds Comics zeugen von einer immensen Liebe zu Büchern – und kombinieren diese gekonnt mit ebenso klugem wie absurdem Humor und einem minimalistischen visuellen Stil, der Comics mit Diagrammen, Pfeilbildern und Anleitungstexten vereint (beispielsweise in einer Studie über das lokale literarische Ökosystem, die über Habitat und gängige Verhaltensmuster der Spezies der Autor*innen aufklärt). Hier offenbart sich nicht zuletzt dann auch das kritische Potenzial der Strips, die bei aller Absurdität dazu anregen, den Blick zurück auf die Realität zu richten und auf die Rolle, die Literatur und literarische Akteur*innen in unserer Welt spielen und spielen sollten. Eine deutsche Version ist unter dem Titel Die Rache der Bücher erhältlich.
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Ole Frahm
Comicforscher, Arbeitsstelle für Graphische Literatur (ArGL) Hamburg
Div.: namesandfaces.il
Während des Massakers durch die Hamas am 7. Oktober dieses Jahres in mehreren süd-israelischen Kibbuzim und einem Techno-Festival haben sich einige der Angreifer Kameras um den Hals gehängt, um die Bilder ihrer Gräueltaten in der ganzen Welt zu verbreiten. Unabhängig davon, dass ein Sprecher der Hamas inzwischen behauptet, nur militärische Ziele angegriffen zu haben – eine Behauptung, die ihren eigenen Aufnahmen Hohn spricht –, zirkulieren seitdem zahlreiche Bilder – und täglich kommen neue hinzu. Den auch in Deutschland plakatierten Bildern der von der Hamas entführten Menschen kontert die Terrororganisation mit Bildern von Kindern zwischen Trümmern – sie führt auch einen Krieg der Bilder. namesandfaces.il ist eine Initiative israelischer Illustrator*innen, die ihre Ablehnung des Massakers und des dadurch ausgelösten Krieges durch eine Serie von Zeichnungen auf der social media Plattform Instagram veröffentlicht. Kein Comic im eigentlichen Sinne, aber eine Serie von Bildern und Geschichten, die sich den nicht selten für Verschwörungstheorien dienenden Filmbildern auf derselben Plattform entgegenstellt. Nicht sehr laut, eben ohne die dramatische Musik die den Videos, die behaupten, Wahrheiten über den 7. Oktober zu verbreiten, eigen ist, reiht sich ein Beitrag an den anderen – ganz unterschiedliche Bilder: Skizzen, Portraits, Blumenbilder, Graphiken. Schon diese Heterogenität spricht eine andere Sprache als die Fotos, die Filme, die doch behaupten dokumentarisch zu sein, aber unschwer in jeden neuen Kontext gestellt werden können. Diese Bilder sind jeweils zugeeignet, sie sind nicht nur der Betrachtung, sondern auch jeweils einer Person gewidmet, die ermordet oder verschleppt wurden, die Menschen vor den Mördern gerettet haben, aber auch den Menschen in Gaza, „where darkness entered their homes“. Vielen ist wie in Bildergeschichten ein kurzer Text beigeordnet: was die Gezeichneten auszeichnete, was ihnen widerfuhr – Geschichten, die sonst kaum gehört würden, wie die von dem Busfahrer Haim Ben Aryeh: „On Saturday night, the end of Simchat Torah, Haim went to drive the children of Be’eri to safety on his bus. The horrors he had seen that night broke his heart, and he had not been himself since. In the morning of October 25th he was found dead inside his bus”. Diese kleinen digitalen Bilder wirken wie Talismane, uns vor dem Bösen zu schützen, von dem sie künden.
Anke Feuchtenberger: Genossin Kuckuck
Schon der Goldschnitt verkündet etwas Besonderes. Er verbindet die verschiedenen Seiten, deren Figuren mal als Menschen, mal als Katzen, aber auch als andere Tiere gezeichnet sind. Der Stil wechselt von Kapitel zu Kapitel, auch wenn Feuchtenbergers eindrückliche Kohlezeichnungen, wie sie aus Der Spalt bekannt sein könnten, dominieren. Grad wenn sich die Lesenden an den Rhythmus aus zwei Bildern die Seite gewohnt haben, wird dies unterbrochen. So einfach ist die Geschichte, die im ländlichen Raum der Deutschen Demokratischen Republik angesiedelt ist, nicht zu haben. Sie fügt sich zu keiner übersichtlichen Erzählung wie sie im Genre der Graphic Biography so gängig geworden ist. Die Zeiten springen, die Figuren wechseln, manches erscheint als erinnerte Anekdote, anderes wirkt wie im Traum, die Übergänge sind fließend. Nur langsam setzen sich die Fragmente zusammen. Es geht um sexuellen Missbrauch, die Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges, es geht um Gewalterfahrung und Vergewaltigung und wie damit nicht umgegangen wurde. Genossin Kuckuck ist ein verstörendes, mutiges Buch, ein Comic, der mit einer Lektüre längst nicht ausgelesen ist. Es stellt uns die Frage, wie überhaupt solche Bücher mit Goldschnitt zu lesen sind, weil sie das Sehen und das Verstehen historischer Zusammenhänge neu denken lehren.
George Herriman: Krazy Kat. Daily Strips 1924. Hgg. von Snorre Smári Mathiesen
Die Einigkeit über die unvergleichliche Bedeutung George Herrimans Krazy Kat für die Geschichte der Zeitungscomics ist unter Comicforscher*innen groß. Die Wiederveröffentlichung des „Werks“ entspricht dieser Bedeutung allerdings nur zur Hälfte: die oft experimentellen Sonntagsseiten, die zwischen 1917 und 1944 erschienen, sind gleich mehrfach veröffentlicht seit Bill Blackbeard mit seinem San Francisco Academy of Comic Art Ende der 1980er Jahre begonnen hatte, diese jahrgangsweise zu edieren. Das Projekt stockte ab 1925, auch weil es für manche Jahre ausgesprochen kompliziert war, die Seiten zu finden, weil sie anders als die Tagesstrips oft nur in wenigen Zeitungen erschienen – sie waren von den Comic-Seiten ins Feuilleton verbannt worden, wo Redakteure sie gerne wegließen. Fantagraphics hat die Reihe dann ab 2002 übernommen und fortgesetzt – jüngst werden je drei Jahre ebendort in einer sehr schönen großformatigen Reihe zusammengefasst. Aber die Tagesstrips? Sie harren ihrer systematischen Veröffentlichung. Auch hier gab es vereinzelte Initiativen: Schon 1991 erschien in der letzten Ausgabe von RAW die Tiger Tea-Episode aus dem Jahr 1936. 2001 brachte ein Verlag namens Stinging Monkey als Volume 1 die Strips von 1918-1919 mit einem Vorwort von Blackbeard heraus. In der sehr verdienstvollen Library of American Comics, die verschiedene Strips jahrgangsweise veröffentlicht, läßt sich das Jahr 1934 nachzulesen. Ein opulentes Querformat macht die experimentellen Strips des Jahres 1920 bei Fantagraphics zugänglich. Die Strips 1921-23 sind beim Pacific Comics Club verlegt. Der norwegische Cartoonist Snorre Smári Mathiesen hat sich nun in Eigeninitiative einer Fortsetzung angenommen und begonnen, die Strips ab 1924 unabhängig, bei Amazon in Polen gedruckt, zu verlegen. Die Ausstattung ist bescheiden, die Gestaltung fragwürdig, die Ausgabe bleibt unvollständig, weil eben nicht alle Strips aufgefunden wurden, und Mathiesens Einleitung kann mit Blackbeards Sprachwitz nicht konkurrieren, zeitbezogene Kommentare schließlich, wie Blackbeard sie rudimentär zur Verfügung stellte, fehlen ganz. Doch die Qualität des Drucks der Strips ist meistens gut und wenn die Rückseite der Zeitung durchscheint, betont dies nur ihre Herkunft. Die Qualität der Strips indes bleibt auch 99 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen überragend.
1924 begann Herriman eine längere Erzählung, die sich mit kleinen Unterbrechungen bis 1925 fortsetzt: Krazy Kat nimmt durch einen Zufall das Kind des reichen Katnip-Produzenten Mr. Max Meeyowl bei sich auf, während sie vor Joe Stork, der bekanntlich die Kinder bringt, flieht – hier oft sie, aber einmal benennt sich die Katze auch als Unkil („How evva I ain’t got no ibjections to being a ‚unkil‘ or a ‚ent‘ to you“, die Barkschen Genealogien vorwegnehmend – 30. Mai). Dem little kitten gefällt es bei Krazy natürlich viel besser als bei dem reichen Vater, doch 1925 sieht es sogar so aus, als könnten die beiden, die arme Kat und der reiche Kater heiraten, wären da nicht die Ziegelsteinwürfe von Ignatz, die Krazy natürlich vermisst… Aber auch die zweite längere Episode des Jahres 1924, in der Madam Kwakk-kwakk fordert, die Ziegelstein-Produktion einzustellen, samt Demonstrationen und einem ziegelsteinwerfenden Offissa Pupp entbehrt nicht der Komik und erinnert daran, wie sehr Charles M. Schulz Peanuts von diesen Seiten profitierte. Am erstaunlichsten erscheint mir bei der Lektüre, wie zugänglich viele der Strips noch sind, wie gut sie die Zeit überdauert haben – vielleicht auch weil die Gewaltverhältnisse und Identitätsfragen der Gesellschaften sich offenbar nicht so umfassend verändert haben wie manche denken.
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*Die ComFor-Redaktion bedauert den Mangel an Diversität in dieser Zusammenstellung, die mehrheitlich aus männlichen Comicschaffenden besteht. Zukünftig würden wir uns sehr über diversere Einreichungen sowie über mehr Beiträge von Forscherinnen in der ComFor freuen. An dieser Stelle wollen wir lediglich auf beides aufmerksam machen, um ein Bewusstsein für diese Umstände zu schaffen.