Auch in diesem Jahr wünscht die Redaktion und der Vorstand der Gesellschaft für Comicforschung all ihren Leser_innen und Freund_innen einen guten Start ins neue Jahr 2025 und präsentiert zu diesem Anlass wieder aktuelle Leseempfehlungen von Comicforscher_innen, die wir zum Jahresabschluss gesammelt haben. (Die Leseempfehlungen der letzten Jahre finden sich hier.) Viele unserer Mitglieder haben uns erneut ganz subjektive Lektüretipps geschickt, die aus den vergangenen zwölf Monaten im Gedächtnis geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer. Darunter haben sich auch ein, zwei Titel eingeschlichen, die bereits zuvor publiziert worden sind, aber in diesem Jahr nochmal besonders im Gedächtnis geblieben sind.
Jörn Ahrens
Kultursoziologe, Justus Liebig Universität Giessen
Neyef: Hoka Hey!

Die Pine Ridge Reservation 1904. Die Frontier ist geschlossen, die Kinder der Lakota werden zu Amerikanern erzogen. So auch George, ein Junge, der Arzt werden will, die rechte Hand des Reservatsverwalters und doch nur sein Diener ist. Der Comic eröffnet mit einem Picknick in der Prärie, dessen Idylle schnell gestört, der Verwalter erschossen wird von einer Gruppe aus zwei versprengten Indianern (zur Legitimität des Begriffs vgl. Mattioli 2023) und einem Weißen. Die kleine Gruppe ist der letzte Widerstand indigener Identität gegen die längst vollzogene Eroberung des Westens. Sie müssen sehr viel und sehr viele rächen und versuchen zugleich, eine Lebensweise zu rekonstruieren, die ihre ist, die sie aber selbst gar nicht mehr wirklich kennen. George müssen sie mitnehmen, erst als Gefangenen, als Ballast, dann als Schüler und Kompagnon, schließlich als Nachfolger. Die Gruppe wird bald von einem Kopfgeldjäger beseitigt, auch eine aussterbende Art der Zeit. Nur George überlebt; er wird die Rache sechs Jahre später vollenden und den Faden einer Existenz als Lakota wieder aufnehmen. In lichten Bildern, stilistisch irgendwo zwischen Manga und Bande Dessinée, der Text gut verteilt, in schönen Panels, die den Lesefluss ebenso steuern, wie sie die Lust am Hinschauen befeuern, erzählt dieser Band ebenso ruhig wie atemlos. Die 220 Seiten legt man nicht vor der letzten Seite aus der Hand.
Noel Simsolo und Bézian: Doktor Radar, Bd.1: Mörder der Wissenschaftler

Was ist das für ein Zeichner, dieser Bézian! Warum liegt bislang kaum etwas von ihm vor auf deutsch? Rasant skizzenhafte Zeichnungen, Hintergründe nur wo nötig, von Seite zu Seite, manchmal von Panel zu Panel wechselnd monochrome Kolorierung, zuweilen unterbrochen von Farbtupfern, so viel Gebrauchsgraphik des Art déco als Stilistik. Dieser Comic entfaltet schon allein ästhetisch eben jene Dynamik, die auch seine Geschichte prägt, ruhelose Helden, die nie Charaktere werden, immer Schablonen bleiben, das aber erstklassig. Doktor Radar, dessen Gesicht niemand kennt, tötet Wissenschaftler. Ob er damit auch die Vernunft mordet, bleibt dahingestellt. Gejagt wird er vom Gentleman-Detektiv Ferdinand Straub, ein Ass, ein detektivisches Genie, aber immer einen Moment zu spät. Angesiedelt in den frühen 1920er Jahren ruft dieser Comic die ganze Kolportage der Zeit auf, kreiert ihr eine große Hommage mit ständigem Augenzwinkern. Am Ende entkommt Doktor Radar als Roter Baron und die Frage steht im Raum: „Wird die Welt weiterhin erzittern?“ In Frankreich gibt es bereits mindestens drei Bände. Bitte schnell übertragen!
Mikael: Harlem

New York City im Jahr 1931. In original zwei Bänden, hier zusammengefasst zu einer Ausgabe, tauchen wir ein in eine Welt, in der der Jazz entsteht und der moderne Journalismus, in der Rassismus nicht nur alltäglich ist, sondern gut sichtbar die Ordnung der Gesellschaft prägt, ihre Strukturen und Institutionen, und in der Kriminalität und Unternehmergeist so eng beieinander liegen, dass klar wird, weshalb gerade zu dieser Zeit Disruption und kreative Zerstörung zu einem Topos werden konnten. Mittendrin eine schwarze Frau ohne wirklichen Namen, „Queenie“ oder „Frenchy“, die als Zugewanderte aufgestiegen ist und ein undurchsichtiges Imperium aus eher zwielichtigen Unternehmungen regiert. In losen Rückblenden wird ihre Geschichte halbwegs transparent gemacht. Atmosphäre, Erzähltempo und Artwork stimmen sehr schön zueinander. In großen Bildern in gedeckten Farben, während die Rückblenden in blau und gelb gehalten sind, und in visuell stark durchkomponierten Seiten entfaltet dieser Comic große erzählerische und graphische Intensität. Vordergründig geht es dabei um das allzu gut bekannte, ikonische New York der dreißiger Jahre, dessen vielfach zu Klischees geronnene Facetten auch allesamt bedient werden. Aber in Wirklichkeit geht es um Emanzipation, der schwarzen Amerikaner_innen, der Migrant_innen, der Frauen. Dafür dreht dieser Band dann so ziemlich alles um und entwirft eine Reihe beeindruckend starker Charaktere, die die Geschichte noch einmal neu lesbar machen.
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Arnold Bärtschi
Klassischer Philologe, Ruhr-Universität Bochum
Mari Yamazaki und Tori Mikki: Plinius (Pline), Band 12

Im Mai 2024 erschien der zwölfte und letzte Band der französischsprachigen Übersetzung der Mangareihe Plinius von Mari Yamazaki und Tori Mikki (Casterman 2017-2024). Die Serie folgt dem antiken Naturforscher Gaius Plinius Secundus auf seinen Forschungsreisen quer durch das Mittelmeer und illustriert die Entstehung seiner monumentalen Enzyklopädie Naturalis historia. Nicht nur geben die Autor_innen mit ihren realistischen Zeichnungen einen lebendigen Einblick in die antike Welt unter Kaier Nero, sondern sie liefern auch eine neue und subtile Darstellung von dessen Karriere, die von gesundheitlichen Problemen und Machenschaften am Kaiserhof geprägt ist. Dementsprechend bietet die Lektüre nicht nur spannende Anknüpfungspunkte an Aspekte der Antikerezeption wie den berühmten Ausbruch des Vesuvs, sondern auch an den Bereich der Graphic Medicine. (Und nebenbei erweitert man beim Lesen gehörig seinen französischen Wortschatz, da sich Plinius für alle möglichen obskuren Naturerscheinungen interessiert.) Allen Leser_innen, die von Yamazaki-senseis unterhaltsamer Serie Thermae Romae um den zeitreisenden Thermenarchitekten Lucius begeistert waren, ist Plinius wärmstens zu empfehlen!
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Ole Frahm
Comicforscher, Arbeitsstelle für Graphische Literatur (ArGL) Hamburg
Salomon J. Brager: Heavyweight. A Family Story of the Holocaust, Empire, and Memory
Ein Comic wie eine Doktorarbeit. Etwas zu lang, zu viele Themen, sehr belesen und mit Fußnoten am Ende. Und doch ist es sicher einer der interessanteren Beiträge der letzten Jahre: gerade weil es wie ein langer Essay wirkt, der nach über 300 Seiten gesteht, er hätte gerade mal die Oberfläche angekratzt. Schade, dass Brager daraus kein Argument für den Comic selbst macht, der ja immer wieder der Oberflächlichkeit bezichtigt wurde. Gleichzeitig ist dies nicht die Tradition, in die sich Brager stellen will. Lange Zitate, von Primo Levi bis Dirk Moses, unterbrechen die Geschichten, es geht um settler colonialism (ohne Israel zu erwähnen), Stolpersteine, Deutsche Erinnerungspolitik, die Frage nach Entschädigungen… Es ist der Versuch, die eigene Familiengeschichte, die nicht eine, sondern mehrere Geschichten meint, in einem größeren historischen Kontext zu begreifen – bis zu einem afro-amerikanischen Friedhof, der in Flatbush, Brooklyn, wo Brager wohnt, überbaut wurde. „It’s the unmarked graves that haunt, that call to be unsettled“. Bragers Comic ist ein solcher Ruf, erschüttert zu sein – ohne vorzuschreiben, was aus dieser Erschütterung folgt. Es ist kein Zufall, dass die Comics deutscher Zeichner_innen in ihren Familiengeschichten eher die Momente aufsuchen, die beruhigend wirken… Der Urgroßvater Bragers war übrigens Boxer, was den Titel etwas ‚leichter‘ macht…
Leela Corman: Victory Parade
Das ist das Beste, was ich seit Jahren gelesen habe. Corman lässt erfrischend die meisten Konventionen der Holocaust-Comics beiseite, wie schon der Titel andeutet: er ist farbig, es gibt nicht eine Hauptfigur (und sei es nur, wie bei Salomon J. Brager die eigene Persona), sondern mehrere, die vor dem Tod nicht sicher sind; die Vernichtung der Juden wird zwar erzählt, aber vor allem durch ihre Auswirkungen auf die Leben in New York; es spielt in der Working Class; die Träume, Alpträume, die Phantasien und Kinofilme der Zeit sind ebenso real wie das, was gemeinhin als real begriffen wird; es gibt keine Erzählerin, die das ganze rahmt und durch in der Perspektive absichert; Figuren der Leinwand und Gespenster treten auf wie alle anderen Figuren. Dies führt nicht zu einer Relativierung, Banalisierung oder Trivialisierung, sondern erinnert aufgrund der Schilderungen der Wirkungen des Holocaust daran, was uns heute daran noch betreffen sollte.
Sascha Hommer: Das kalte Herz
Walter Benjamin und Siegfried Kracauer lobten in den 1920er Jahren die Erzählform des Märchens als eine, die sich der bürgerlichen Welterklärung, wie sie im Roman populär und bis heute dominant wurde, entziehen würde. Walter Benjamin hat 1932 sogar Hauffs Das kalte Herz für das Radio als Hörspiel eingerichtet. In den Graphic Novels, die leider viel zu häufig der Ästhetik des Romans folgen und damit das proletarische Erbe der Comics verdrängen, sind Märchen selten. Authentische Lebensbeichten oder Familiengeschichten, wie sie Bragers Heavyweight vorführen, herrschen vor. Doch in den letzten Jahren scheint sich etwas zu ändern, wie auch Cormans Victory Parade andeutet. Sascha Hommer, der in Freiburg, nahe des Schwarzwalds aufgewachsen ist, wendet sich in seiner jüngsten Publikation Hauffs Klassiker zu. Hommers Werk darf sicher zu einem der heterogensten und insofern experimentellsten im deutschsprachigen Comic gelten. Es gibt Autobiographisches (In China), das aber eher als Vorwand dient, über die Fremdheit verschiedener Kulturen nachzudenken (weshalb er Spiegelmans Masken aus Maus zitiert), es gibt Fantasy (Im Spinnenwald), eine eher erkenntnistheoretische Erzählung, er hat mit Jan-Frederik Bandel einen Comic-Strip gezeichnet (Im Museum) und sich literarische Texte angeeignet (Dri Chinisin nach Brigitte Kronauer), auch hier favorisiert Hommer die kleine Form der Erzählung gegenüber dem Roman. Nun also Das kalte Herz, das 1827 zuerst veröffentlicht wurde. Kein einfacher Stoff, zur Romantik zählend und von Geld, Geiz und Wucher als bösen Kräften handelt. Doch Hommer weiß den Stoff aus seinen antisemitischen Implikationen zu lösen – und durch kleine Veränderungen (aus dem Glasmännlein wird ein Glasweiblein) zu etwas zeitgenössischem zu machen. Alles überzeugt: die gedeckten Farben, die naive Hauptfigur Peter Munk, der vom Köhler zum Handelsherr wird, die rätselhaften Geister des Waldes – vor allem aber die Erzählung selbst, die den Ton wahrt, das Phantastische unterstreicht und ohne Zierrat zum Nachdenken über das Verhältnis von Märchen, Moderne und Comics einlädt.
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Benedikt L. Freiling
Germanistikstudent, Philipps-Universität Marburg
Edgar Allan Poe, adaptiert von Gaby von Borstel und Peter Eikmeyer: Der Rabe/The Raven
Die neue Adaption von Edgar Allan Poes Gedicht „Der Rabe/The Raven“ ist ein absolutes Meisterwerk! Die Autor_innen Gaby von Borstel und Peter Eickmeyer haben es geschafft, Comic und beeindruckende Bildkunst auf eine völlig neue Art und Weise zu arrangieren. Doch für das kreative Autor_innenpaar ist das keineswegs eine neue Erfahrung. Nach der Adaption von „Im Westen nichts Neues“ und „Heinrich Heine – Eine Lebensfahrt“ reiht sich das Gedicht von Poe in diese beeindruckende Reihe ein.
Die zweisprachige Ausgabe, die dieses Jahr im Splitter Verlag erschienen ist, ist ein echtes Highlight! Die Autor_innen verknüpfen darin die Lyrik mit einem roten Faden, der den Inhalt unterstreicht, und präsentieren uns dazu noch bildgewaltige Hintergrundportraits von dem Raben. Die Dualität der zweisprachigen Ausgabe ist absolut beeindruckend und wird von den kontrastreichen Zeichnungen perfekt ergänzt. Der Band enthält nicht nur einen faszinierenden Beitrag über das Leben des Autors, sondern auch einen inspirierenden Text über die Rehabilitierung eines verkannten Tieres, der spannende Bezüge zur Comicwelt aufweist. Die düstere Stimmung wird auf eindrucksvolle Weise durch dunkle Farben und gezielte Akzente eingefangen. Auf jeden Fall eine absolute Empfehlung für alle Lyrik-Fans, die auch mit Comics beschäftigen. Nach dem Lesen sollte man allerdings darauf achten, dass die Antwort auf die Frage „Wie oft man denn dieses Buch in der Zukunft lesen will?“ nicht lautet „Nimmermehr“.
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Aleta-Amirée von Holzen
Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM
Flix: Das Zyx

Hier legt der deutsche Comic-Künstler Flix erstmals ein Werk vor, das an Kleinkinder (und ihre vorlesenden Eltern) gerichtet ist. Versiert kombiniert er Bilderbuch und Comic, bleibt seinem cartoonhaften Stil treu, präsentiert diesen aber so bunt und rasant wie noch selten – ausgerechnet in einem ABC-Buch, das in eine Gutenachtgeschichte mündet. Der Clou ist, dass das ABC von hinten aufgesagt wird. Auf jeder Seite beginnt der durchgehend gereimte Text mit dem nächsten Buchstaben des Alphabets. Am Anfang stehen entsprechend die letzten drei: Zyx. Sie bilden Namen eines putzigen Fantasiewesens, das beim Zähneputzen von einem wundersamen Licht in eine Zwischenwelt «geblitzt» wird – hier steht es vor lauter Türen, die aber alle verschlossen sind. Zum Glück sitzt in der Nähe «am Lagerfeuer […] ein riesiges Ungeheuer», das als Gegenleistung für seine Hilfe nur gemeinsames Teetrinken fordert. Nach 26 Tassen rückt es den Schlüssel für Tür Nummer 17 raus. Schon schwebt das Zyx in rosa Wolken und landet flugs auf einem Piratenschiff, das von einer Seemannsbraut befehligt wird – hier wird es brenzlig für das Zyx, aber sehr spassig für die Lesenden. Von Doppelseite zu Doppelseite fällt, schwebt, rudert und schwingt das Zyx von einer absurden Situation in die nächste, bis das Bett verlockender scheint als alle Abenteuer. Das Umschlagen der Seite nutzt Flix meisterlich für die Szenenwechsel, und die Freude an der Sprache ist allgegenwärtig. Bei dieser irrwitzig-spektakulären Abenteuerfahrt muss man einfach gute Laune bekommen.
Pei-Yu Chan, Jian-xin Zhou (aus dem Taiwanischen von Johannes Fiederling):Tsai Kun-Lin (4 Bde.)

«Tsai Kun-lin – Der Junge, der gerne las» lautet der schlichte Titel des ersten Bandes dieser
Biografie des taiwanischen Verlegers und Menschenrechtsaktivisten Tsai Kun-lin (1930–1923). Seine Lebensgeschichte, die immer wieder von erschütternden Schicksalsschlägen geprägt wird, bündelt dabei gleichsam die Nachkriegsgeschichte Taiwans und macht die schwer überschaubare Geschichte des Landes als Spielball der Weltmächte greifbar. Wort und Bild prägen dabei eine gewisse Behutsamkeit, die Tsai Kun-lin als Menschen und seine Geschichte umso beeindruckender wirken lassen. Jeder Band ist stilistisch angepasst: In zarten Rosatönen und Bleistiftgrau wird von der relativ ungetrübten Kindheit erzählt, während seine Familie die Kriegszeit übersteht. Dank seiner Liebe zu Büchern kommt er auf eine höhere Schule, doch wird ihm diese zum Verhängnis. Weil er einen Buchklub besucht hat, wird er während der Schreckensherrschaft der Kuomintang als Verräter verurteilt und auf eine Gefangeneninsel deportiert. Die unmenschlichen Zustände während seiner zehnjährigen Haft dort spiegelt ein harter, holzschnittartiger Stil. Der Neuanfang danach ist in klaren Filzstiftstrichen und mit Gelbtönen präsentiert, und für Comic-Geschichtsinteressierte ist vor allem auch dieser Band interessant: Tsai Kun-lin war eine prägende Figur für Comics in Taiwan. Er brachte als Übersetzer Mangas nach Taiwan und gründete eine erfolgreiche Kinderzeitschrift – bis auch hier eine Naturkatastrophe für die Pleite sorgte. Der letzte Band schliesslich ist seinem Engagement für das Erinnern und Aufarbeiten der Erlebnisse seiner Generation gewidmet. Beeindruckend ist dabei, wie Tsai Kun-lin trotz all der politischen Verwerfungen, die sein Leben prägen und immer wieder erschweren, nicht verbittert, sondern stets Wissensdurst, Schaffensdrang und Bescheidenheit zu erhalten vermag. Eine unbedingte Leseempfehlung!
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Myriam Macé
Literaturwissenschaftlerin, Uni Bremen
Lou Lubie: Racines (franz.)

In dieser Bande Dessinée (BD) erzählt Lou Lubie die Geschichte von Rose: Im französischen Überseegebiet La Réunion geboren, hadert das Mädchen mit ihrem genetischen Erbe. Denn mit ihrer hellen Hautfarbe ähnelt sie den metropol-französischen Mädchen in ihrer Klasse – wären da nicht ihre krausen Haare! Um auch beim späteren Studium in Paris als ‚echte‘ Französin durchzugehen, glättet Rose ihre Haare mit allen erdenklichen Mitteln. Die BD thematisiert Identitätskonflikte und Selbstverleugnung, Rassismus und strukturelle Diskriminierung sowie die französischen Kolonialgeschichte und ihre postkolonialen Effekte. Gleichzeitig zeigt Lou Lubie anhand von Roses Geschichte, wie tief das dominierende Schönheitsideal glatter Haare in sozialen Machtstrukturen verankert ist und welche Rolle Haare als Ausdruck von Identität und Widerstand spielen.
Wie Rose durch die Akzeptanz ihrer kreolischen (Haar-)Wurzeln (= Racines) ihre Identität neu definiert und stolz zu zeigen lernt, erzählt die selbst aus La Réunion stammende Autorin durch die Verbindung von (auto-)fiktionaler Erzählung und Sachcomic-Elementen. Lou Lubie verbindet damit persönliche und gesellschaftliche Themen zu einem Werk, das soziale, kulturelle und historische Zusammenhänge nachvollziehbar macht. Eine lesenswerte BD für alle, die die Geschichte des menschlichen Haars und die gesellschaftlichen Verflechtungen und politischen Dimensionen eines scheinbar alltäglichen Themas erkunden möchten.
Luz: Deux filles nues (franz.)

Die Geschichte eines Bildes aus seiner Perspektive erzählen? Luz zeigt uns mit seiner neusten quasi-biographischen Bande Dessinée (BD), dass dies möglich ist! In ihrem Zentrum steht das Gemälde Zwei weibliche Halbakte (=Deux filles nues) des deutschen Malers Otto Mueller. Von seinen ersten Pinselstrichen im Berliner Vorstadtwald 1919, über seine Zeit an den Wänden seines ersten Besitzers, bis hin zu seiner nationalsozialistischen Einstufung als „entartete Kunst“ während der NS-Diktatur blickt das Gemälde auf die Menschen und Ereignisse um es herum – und wird damit zum stillen Zeugen einer der dunkelsten Epochen der Moderne.
Bezeichnend ist die Verbindung zwischen Luz‘ neustem Werk und seiner eigenen Lebensgeschichte. Als langjähriger Zeichner bei Charlie Hebdo und Überlebender des Anschlags auf die Redaktion am 07. Januar 2015 hat er mit Deux filles nues eine historische Erzählung geschaffen, die sich mit Überleben, Zensur und der Instrumentalisierung von Kunst durch autoritäre Regime auseinandersetzt. Ob seine künstlerisch-pointierte Recherche mit Lorbeeren belohnt wird, bleibt abzuwarten: Die BD ist Teil der Sélection Officielle des Festivals von Angoulême 2025 und könnte eine der größten Auszeichnungen Europas für Comics gewinnen, die Ende Januar vergeben wird.
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Hanspeter Reiter
Comicoskop-Redakteur
Andrus Kivirähk, Maximilian Murmann (Übersetzer) und Veiko
Tammjärv (Illustrator): November, Erster Teil

Eine Graphic Novel im Sinne grafischer Literatur, übertragen aus reiner Text-Vorlage in eine Bild-Geschichte. November handelt von einem namenlosen Dorf in Estland, in einer Zeit, als die Esten den Deutsch-Balten als Leibeigene dienten, mit einer gehörigen Portion Bauernschläue und Mystizismus. Da gibt es die Geister der Toten, die zu Allerseelen an den Familientisch geladen werden und die aus Haushaltsgegenständen gefertigten „Kratts“, die den Esten bei ihren Machenschaften gegen die Obrigkeit helfen. Mit staunenswerten Figuren wie Meereskühen aus Normal-Kuh plus Seekuh – ergänzt ums Fliegen. Oder eine Werwölfin. Graphic Novel-klassisch ist dies in SW plus Grautönen, allerdings ergänzt um die Schmuckfarbe Rot, spärlich und deshalb umso auffallender eingesetzt, etwa bei eben der Werwölfin oder besonders nachvollziehbar, um Feuer zu verdeutlichen – doch auch für eher Übernatürliches. Das Layout ist variabel eingesetzt, seien es sechs Panels oder auch ganzseitige. Texte kommen ergänzend in Umrahmung, wenn auch schlecht lesbar (Negativschrift schwach auf schwarzem Fond), in Versalien wie auch (leider üblich) in den Sprechblasen. Interessant die in manchen der 16 Kapitel einleitenden Personen-Vorstellungen, z.B. S. 99 „Die junge Baronin“.
Bastien Vivès: Letztes Wochenende im Januar
Das Cover deutet es gleich bildlich an, der Rückseiten-Text verstärkt es: Hier geht es um einen Seitensprung beim Comicfestival in Angoulême. Mit dem Besucher_innenstrom aus aller Welt trifft der etablierte Zeichner Denis Choupin ein, als Teil dieser gigantischen Maschinerie. Routiniert arbeitet er die Signierstunden und Meetings ab, plaudert leutselig mit Fans. Alles ist wie immer… Bis in der Schlange vor seinem Signiertisch eine Frau steht, die für ihren Mann eine Widmung möchte… Es kömmt, wie es kommen „muss“. Dargestellt mit feiner Feder, frei von jeglichem Porno-Anklang und ziemlich „ohne Worte“. Ähnlich wie vorher die schwungvollen Tanz-Szenen, in denen die beiden einander näher kommen, Bewegungen toll ausgearbeitet, unter Verzicht auf sonst Comic-übliche Hilfsmittel à la Swoosh oder Speedlines: Hier wie dort zeigt der Zeichner meisterlich, dass und wie Comic rein bildlich wirken kann & wirkt! Apropos, die SW-Graphic Novel bietet vielerlei Grau-Töne und „Massen-“ wie auch Einzel-Porträts, fein gestaltet – siehe Doppelseite 46/47 im Vergleich mit/ohne Fond plus Schattenwürfe usw. Nun, wieviel Autobiografisches ist da drin, ist dieser Story rund um „brich doch mal aus der family aus“, die eben an jenem Wochenende die Verlobung des Sohnes feiert? Schön dieses Verbinden mit quasi Meta-Position und einer feinen Liebes-Geschichte!
Rewriting Earth: Der wichtigste Comic der Welt
Quasi ein Reader zum Thema – oder ist das dann ein „Viewer“, weil: Comic 🙂 ?! Nun also 120 Geschichten zur Rettung des Planeten: 300 Umweltschützer_innen, Künstler_innen, Autoren_innen, Schauspieler_innen, Filmemacher_innen und Musiker_innen haben sich für den wichtigsten Comic aller Zeiten zusammengeschlossen, inkl. zwei für Deutschland exklusive Zusatz-Storys von Timo Wuerz – und übrigens mehrfach vertreten Wars and Peas, ebenfalls bei Panini erschienen (ursprünglich in den USA veröffentlicht). Mit einer Förderung für die beteiligten Organisationen je verkauftem Exemplar. Apropos: Deren sieben werden vorgestellt, intensiv illustrativ präsentiert als „Projektprofil“, mit integrierten Text-Beiträgen, etwa „Born Free“ (Lasst Wildtiere in der Wildnis). Das sind die Kapitel: 1 Veränderung (u.a. Konsum-Verhalten), 2 Schützen (u.a. Plastik…) 3 Retten (u.a. Regenerierung) 4 Motivieren (Geschichten…). Neben klassischen Comics mit vielseitig gestalteten Panel-Folgen und variierenden Layouts, Ligne-claire z.B., gibt´s auch integrierte ganz- und doppelseitige Darstellungen: Ein Füllhorn anregender Impulse, nachdenklich machend – oder gar Vorlagen liefernd. Und natürlich inkl. klimaneutraler Herstellung als nachhaltigem Konzept – wenn auch mit den üblichen Text-Fragezeichen: Fast durchgängig kommen die Sprechblasen-Texte in Versalien daher = schlecht(er) lesbar. Ausnahmen gibt es, erfreulich immerhin: S. 168ff., 207ff. u.a. Und übrigens auch besondere Fundstücke, siehe OHNO als Pogo-Remake. Manga-Adaptionen dagegen suchen Betrachter_innen vergebens…
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Natalie Veith
Anglistin und Mediendidaktikerin, Universität Frankfurt
Emil Ferris: My Favourite Thing Is Monsters, Book 2

Monster werden häufig als Manifestationen von Ängsten gesehen, doch Emil Ferris dreht den Spieß um: Für ihre junge Protagonistin Karen Reyes sind Monster Teil ihrer Identität sowie eine Bewältigungsstrategie, um mit den Herausforderungen ihres Lebens umzugehen, etwa mit Trauer, Verlust, Gewalterfahrung und Diskriminierung. Monster werden hier zur positiven Antithese menschlicher Abgründe und zum Zeichen von Geborgenheit. Da sich Karens Liebe für Monster mit einer Leidenschaft fürs Zeichnen und Kunst paart, stellt Ferris Comic auch eine Art grafische Sammlung des Monströsen dar – von den Titelbildern billiger Groschenromane bis hin zu berühmten Gemälden.
Nachdem der erste Band so einige Fragen offen gelassen hatte, war ich sehr gespannt auf die Fortsetzung, die nahtlos an die geschichtsträchtige Handlung anknüpft: Wir befinden uns erneut im turbulenten Chicago der 1960er Jahre. Noch immer beschäftigt Karen der mysteriöse Tod ihrer Nachbarin, der KZ-Überlebenden Anka, und nun auch die Identität von Viktor und ihre eigenen Familiengeheimnisse. Wie schon der erste Band ist auch dieser so gestaltet, als blicke man direkt in Karens Tagebuch: ein Ringbuch mit handschriftlichen Texten, Zeichnungen und Kommentaren. Ferris gelingt es hier, ihrer Geschichte eine spontane und unmittelbare Atmosphäre zu verleihen und klassische Erzählstrategien und visuelle Konventionen von Comics durch andere Elemente zu ergänzen, ohne dabei jedoch Abstriche bei der ästhetischen Gestaltung zu machen – im Gegenteil!
Ram V, Filipe Andrade: Rare Flavours
Der menschenfressende Dämon Rubin träumt davon, in die Fußstapfen Anthony Bourdains zu treten und möchte mithilfe des arbeitslosen Filmabsolventen Mo eine Netflix-Food-Doku drehen. Aus dieser bizarren Ausgangssituation entwickelt sich eine wunderbare Parabel über die Rolle von Gier und Genuss in der kapitalistischen Massen- und Konsumgesellschaft, über die Wertschätzung von Geschmack und die Anerkennung von Geschichten und Schicksalen, die mit Essen verbunden sind. Für Mo wird die Geschichte zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie und Einstellung zum Essen und Filmemachen, während anhand von Rubin die Frage nach Menschlichkeit und Monstrosität verhandelt wird.
Ram V hat mich schon oft mit seinem Talent beeindruckt, interessante Szenarien und ungewöhnliche Charaktere zu schreiben, die trotzdem sehr greifbar wirken und sich klar vom Comic-Mainstream abheben, und Rare Flavours ist hier keine Ausnahme! Auch habe ich mich sehr gefreut, dass es eine erneute Zusammenarbeit mit Zeichner Filipe Andrade ist, mit dem Ram V bereits The Many Deaths of Leila Starr veröffentlicht hat. Die Darstellung der massiven körperlichen Präsenz Rubins in Kombination mit den teils surrealen Farben und dem Zeichenstil ist wirklich sehr gelungen und unterstreicht die Geschichte ganz wunderbar.
Zoe Thorogood: It’s Lonely at the Centre of the Earth
Comics zum Thema mentale Gesundheit gibt es einige, aber leider enden sie manchmal (zu?) versöhnlich – in einem Moment der sozialen Integration oder der persönlichen Erfüllung und des Wachstums einer fiktiven Figur. Sowas ist zwar eine nette Geschichte, angenehm zu lesen, hat aber leider häufig wenig mit der Realität zu tun, denn Depression zieht sich oft wie Kaugummi und es fällt den Betroffenen schwer, die Situation zu akzeptieren oder einen Sinn darin zu finden. Thorogoods „auto-bio-graphic-novel“ sticht hier als eine vergleichsweise ehrliche und ungeschönte Auseinandersetzung mit Depressionen heraus. Sie zeigt den realen, zwischen Höhen und Tiefen schwankenden Alltag einer an Depressionen leidenden Comicschaffenden: In Momenten des Beisammenseins fällt es ihr schwer, eine echte Verbindung zu ihren Mitmenschen zu fühlen. In Momenten des Erfolgs nagt stets der Selbstzweifel an ihr (und das in einer unbeständigen Branche mit hohem Leistungsdruck).
Auch die grafische Umsetzung des Themas ist bemerkenswert, denn Thorogood experimentiert mit grafischen Konventionen, etwa wenn ihre verschiedenen Alter Egos, die unterschiedliche Aspekte ihrer Persönlichkeit verkörpern und in unterschiedlichen Zeichenstilen dargestellt sind, miteinander interagieren. Dieser uneinheitliche, bisweilen zerrüttete Stil trägt viel dazu bei, dieses schwer greifbare Thema zu veranschaulichen und hilft bei einer angemessenen Auseinandersetzung und Sensibilisierung. Der Comic ist schon seit einiger Zeit im englischen Original verfügbar, seit 2024 gibt es nun auch eine deutsche Übersetzung.
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Christine Vogt
Direktorin LUDWIGGALERIE Schloss Oberhausen
Eva Müller: Scheiblettenkind
Ein ungewöhnliches, aber wichtiges gesellschaftliches Thema verarbeitet Eva Müller in ihrem in sehr direkten Bleistiftzeichnungen ausgeführten Werk Scheiblettenkind: die Scham über die soziale Herkunft und den Zweifel an sich selbst, ob der Bildungsferne des eigenen Elternhauses. Die Autorin beginnt mit einem Intro, in dem sie erklärt, dass sie die Autofiktion als Erzählweise gewählt habe und wünscht „Viel Spaß beim Lesen“, während sie Herz und Hirn der Leserschaft entgegenstreckt. Mit vielfachen Zitaten erzählt sie ihre Lebensgeschichte. Aus einem Dorf und einfachen Verhältnissen stammend, stets – teils schwer – für ihr eigenes Geld arbeiten müssend, findet sie nach und nach ihren Weg zur Zeichnerin und Künstlerin. Doch bleibt der Selbstzweifel in Form der Schlange visualisiert, stets an ihrer Seite und schleicht sich manchmal nur am Rande und manchmal sie gänzlich verzehrend ins Bild. Eine große Erzählung und grandiose Identifikation für alle, die einen Bildungsaufstieg machen und sehen, dass sie mit ihren inneren Widerständen nicht allein sind. Karl Marx kommentiert jedes Kapitel am Schluss humorvoll.
Tanja Esch: Boris, Babette und lauter Skelette
Auf amüsante und ganz selbstverständliche Weise nähert sich Tanja Esch in diesem unterhaltsamen Buch dem Thema der Identitätssuche und des „Andersseins“. Boris erhält von seiner Nachbarin Lynette deren „Haustier“, das sie vor langer Zeit in einer Tierhandlung als Hamster gekauft hat. Doch ein Hamster ist Babette nicht und auch die anderen Versuche sie einer Tierart zuzuordnen – hier lernen die jungen Leser_innen ganz nebenbei etwas über Tiere, wie zum Beispiel das Wiesel – misslingen. Babette ist gelb, kann sprechen und liebt Grusel und Skelette. Da Boris mit seinem Haustieranliegen bei seinen Eltern auf Ablehnung trifft – seine Mutter arbeitet ständig, ist zugewandt aber geistig abwesend, sein Vater putzt ständig und ist übertrieben ordentlich – geht er zu seinem Opa, der skurril mit lauter ausgestopften Tieren zusammenlebt. Er hilft Boris „Knochen“ aus Ästen zu schnitzen und für Babette ein erstes Skelett zu bauen. Schließlich zieht Babette bei dem Opa ein und sie tauschen sich über das „Anderssein“ aus, das der Opa als dunkelhäutiger Zuwanderer in den 1970er Jahren ebenfalls persönlich erfahren hat.
Walter Moers: EDWARD GOREY. Großmeister des Kuriosen
Bestseller-Autor Walter Moers hat sich von seinem zamonischen Kontinent weg in ein neues Abenteuer gewagt: die Vorstellung des amerikanischen Zeichners und Autors Edward Gorey. In einem Prachtband mit zahlreichen Abbildungen der Werke Goreys sowie Fotografien zu seinem Schaffensort, dem Elephant House, gibt Moers Einblick in das Werk des Multitalents, das das eigene Schaffen Moers stark beeinflusst (hat). In einem Abecedarium, das mit diesem Begriff anfängt und mit „Z wie ZILLAH – who dank too much gin“ aufhört, werden spezielle Begriffe aus dem Gorey-Kosmos gedeutet. Moers übersetzt einige der bekanntesten Geschichten Goreys ins Deutsche, so Eine Harfe ohne Saiten, Der fragwürdige Gast, Die Kleinen von Gashlycrumb oder Der Westflügel. Herrlich auch die Zeichnungen mit Zweizeilern zu Die Stimmgabel und Der Wackelhump. Ebenfalls wird der Cover-Kunst Goreys, seinen handgenähten kuriosen Figbash-Puppen und dem Dracula-Theater jeweils eigene Kapitel gewidmet Ein wundervolles Buch um sich mit den grafischen wie textlichen Umsetzungen der fantastischen Art des Edward Gorey bekannt zu machen oder sein Wissen zu vertiefen. Eine Reise in fremde und anrührende Welten.
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Lukas R.A. Wilde
Medienwissenschaftler, NTNU Trondheim
Adam Ellis: Bad Dreams in the Night
Unbemerkt von Feuilleton Comic-Kritik wurde Adam Ellis in den letzten Jahren zu einem echten Webcomic-Superstar mit Millionen von Follower_innen auf allen wichtigen Social Media-Kanälen. Diese Print-Ausgabe, eine Horror-Anthologie namens Bad Dreams in the Night, gibt einen faszinierenden Einblick, wie meisterlich Ellis die vielleicht schwierigste Erzählform überhaupt bespielt, nämlich extrem kompakte Kurzgeschichten. Auch wenn die Artworks eher funktional als überwältigend anmuten transportieren sie perfekt die große Bandbreite erzählerischer Stile, die zwar alle irgendwie im Genre Horror verortet sind, dabei aber enorm experimentierfreudig daherkommen und ihre jeweilige Schreckenspointe zu einem immer wieder überraschenden, schnörkellosen Kern verdichten. Die beigefügten Endnoten, in denen der Künstler Einblicke bietet, wie und warum das jeweilige Szenario entstanden ist, wirken authentisch und sympathisch – eine rundherum beeindruckende Publikation!
Richard Blake: Hexagon Bridge
Hier ist es ein wenig umgekehrt wie bei Ellis: die Zeichnungen, Layouts und das grafische Welt-Design sind absolut überragend und einzigartig, während sich die Handlung weitgehend verschließt und auch an einer einigermaßen beliebigen Stelle endet bzw. abbricht. Vielleicht weil die anzitierten Themen KI und Multiversen dennoch genau den erzählerischen Zeitgeist treffen, wurde Richard Blakes Hexagon Bridge sicher eines der meistgenannten „Best of 2024“-Comics des vergangenen Jahres. Immer wieder wurde dieses „High Concept“-SciFi-Opus mit den Filmen Christopher Nolans, den Romanen Isaac Asimovs oder den Comic-Frühwerken Jonathan Hickmans verglichen. Für mich ist es eher eine Art Musikvideo in Moebius-Ästhetik, das seinen Sog alleine über Rhythmus und visuelle Symphonien entfaltet. Dass es sich dabei tatsächlich um das Comic-Debut von Blake handeln soll, ist kaum zu glauben – hoffentlich ein Name, den man noch viel häufiger hören und lesen wird!
Ken Forkish und Sarah Becan: Let’s Make Bread: A Comic Book Cookbook
Das ist jetzt, zugegeben, schon eher die Kategorie „Highly Special Interest“, aber was einem als Deutscher im Ausland natürlich vor allem immer fehlt, ist: gutes Brot! Zufällig habe ich in diesem Jahr damit begonnen, fast täglich zu backen als ich zeitgleich in einem Comicladen über dieses herrliche Sachcomic gestolpert bin, das eine ganz wunderbare Handreichung zur Pflege von Sauerteigkulturen, zu verschiedensten Backtechniken und -traditionen sowie zahlreiche Brot-„Fun Facts“ mit äußerst empfehlenswerten Rezepten kombiniert. Forkish hat bereits zahlreiche „richtige“ Bücher übers Brotbacken verfasst, aber die schönen Bebilderungen von Becan und die sympathischen Avatare machen (mir) viel mehr Lust aufs Ausprobieren als irgendwelche Hochglanz-Stock Photos. Highly special interest, wie gesagt…
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In ihrem beeindruckenden Graphic-Novel-Debüt lässt die Rina Jost ihre Protagonistin eine fantastische Reise erleben, die offen als Metapher steht für die Frage, wie man mit der Depression eines geliebten Menschen umgehen kann. Die Schweizer Künstlerin konnte eigene Erfahrungen in die Fiktion einfliessen lassen und hat die komplexe Thematik kreativ und einprägsam, doch stets zugänglich umgesetzt. Am Anfang wirkt die Redensart «in einer Depression versinken» sozusagen buchstäblich: Malins Schwester Sibyl mutiert von einem Deckenberg zu einem Felsen und versinkt durch ihre Matratze. Malin taucht hinterher und landet in fantastischen Gefilden. Hier versucht sie, Sybil zu finden – diese ist jedoch stets schon weitergegangen. Doch hat Malin zumindest in Dackel Wilma eine treue Begleiterin, während sie diese surreale Welt durchstreift und auf Figuren trifft, die oft mythologische Anspielungen verkörpern. Für den wohl eindrücklichsten Schreckensmoment sorgen die schwarzen Raben, die Malins Angst verkörpern, selbst an einer Depression zu erkranken. Schliesslich muss sie erkennen, dass sie ihrer Schwester eigentlich nicht helfen kann und jeder seinen Weg selber finden muss. Malins Reise zieht einen durch die sympathische Hauptfigur, die fantasievollen Stationen und allem voran ihrer Bildmächtigkeit in ihren Bann. Die Texte dazu sind knapp formuliert, und so erhält die Geschichte eine erzählerische Leichtfüssigkeit, die aber die Gewichtigkeit des Themas nicht untergräbt – womit «Weg» durchaus auch schon eine kindlich-jugendliche Leserschaft anspricht.
«Majestät, ihr seid noch bezaubernder als eine Espalüne!» Mit diesem extravaganten Kompliment sichert sich Serine, die Tochter eines verarmten Landadeligen, im barocken Frankreich überraschend eine Stellung als Hofdame der Königin. Obwohl niemand weiss, was das von Serine spontan erfundene Wort bezeichnet, wird es sofort der Hit im höfischen Getue. Trotz der Gunst der launischen Königin erkennt Serine bald, dass sich hinter den Oberflächlichkeiten des Hoflebens handfeste Skrupellosigkeiten verbergen. Doch sie manövriert sich so unbekümmert wie geschickt durch die höfischen Intrigen, bis sie ihre Stellung verliert und in den Fluss gestossen wird. Da beschliesst Serine, dass der Spass nun vorbei ist – und kehrt im Kostüm eines Hofnarren ins Schloss zurück. In dieser Rolle läuft sie zu Hochform auf und gewinnt die Gunst des alten Königs, während sie – unterstützt nur vom Henkerlehrling – herauszufinden versucht, wer dem König nach dem Leben trachtet. Die Literaturadaption präsentiert Serines Abenteuer in kleinteiligen Panels, die aber vom Schwung der wenigen Striche leben, die Serines Unbeschwertheit und ihre soziale und körperliche Agilität abbilden. Viele sprachspielerische Elemente sind immer wieder kreativ ins Bild integriert. Die Lächerlichkeit der Höflinge wird mit viel Augenzwinkern ausgestellt – umso mehr ist Serine mit ihrer Offenheit und Spontanität eine so liebenswerte wie clevere Heldin. Auch wenn sie in der Komödie und im Spielerischen verhaftet bleibt, ist Serine eine emanzipierte Version von Mantel-und-Degen-Helden à la Scaramouche, womit das zurzeit eher wenig produktive Genre hier eine lesenswerte Bereicherung erhält.
Das Buch ist ein Erstlingswerk – kommt aber routiniert und sehr gelungen daher. Wie der Verlag vermuten lässt: ein Bilderbuch für jüngere Kinder – und eine höchst amüsante, lesens- und sehwürdige Bildgeschichte für alle, die in Doppelbildern, Einzelbildern und zwei, drei oder vier Bildern auf einer Seite erzählt, stellenweise mit integriertem kurzen Erzähltext, mit Sprechblasen, aber bildmächtig auch mal ganz ohne Text. Im Wald, düster, angsterregend, spielt die Parabel; entsprechend betont die Farbgebung mit meist schwarz hinterlegtem Grund die Stimmung. Auf den ersten Blick wirken die aquarellierten Zeichnungen ein wenig ungelenk, sehr zeichenhaft und flach, die Akteure z. T. wie Schablonenfiguren. Aber man merkt schnell, dass diese einfache und unmittelbar ansprechende Bildsprache der Thematik wie der intendierten Zielgruppe genau entspricht. Man sieht sich ein, identifiziert sich, spielt mit, fühlt mit, wenn Bellwidder sein Morgenbad genießt, bis weit in den Morgen tanzt, und dann ängstlich im Wald bei der Suche nach Beeren sich beim leisesten Knacken das Schlimmste vorstellt. Angst hat Bellwidder vor Wölfen, denn Bellwidder ist ein Schaft. Doch bei aller Ängstlichkeit: Er lässt sich nicht unterkriegen. Er schneidert sich ein Wolfskostüm, dreht das bekannte Sprichwort herum und begibt sich – nun selbst ganz in der Wolfsrolle – mutig ins Walddickicht. Und Bellwidder trifft tatsächlich auf drei Wölfe, freundet sich mit ihnen an – und dann beginnt sein Wolfspelz Fäden zu verlieren, wird aufgezupft und enthüllt schließlich das Schaf. Der überraschende Clou der Geschichte, der auch Kinder wirkmächtig zum übertragenden Weiterdenken anregt, erweist sich, als Bellwider ergeben die Augen schließt und darauf wartet, von den Wölfe gefressen zu werden: Auch die drei Wölfe tragen nur Kostüme, entpuppen sich als Huhn, Hirsch und Ziege… Der Schluss ist programmatisch symbolisch: Bellwidder lädt die neuen Freunde zu sich ein – und zieht die Vorhänge auf: „Ich möchte hier nur ein wenig Licht hereinlassen.“
Diese ausgesprochen farbenfrohe Bildgeschichte von 176 Seiten zeichnet das Leben der berühmten tschechischen Kunstturnerin Věra Čáslavská nach. Sie war eine außergewöhnliche Frau, die bei Olympischen Spielen insgesamt sieben Gold- und vier Silbermedaillen gewann. Sie war eine Frau, die sich nicht verbiegen ließ und für ihre Überzeugung kämpfte. Dieser Band würdigt diese Frau, die sich nicht unterkriegen ließ. Die Farben sind flächig eingesetzt und variieren mit den Erzähl-Strängen. Die Panels sehr variabel, mal sechs, mal vier, mal drei oder auch zwei, dazu ganz- und doppelseitige Bilder (meist angeschnitten), teils mit ergänzenden Auszügen als Kreisflächen. Ebenso flexibel sind Sprechblasen eingesetzt, dazu kommen erläuternde Fußzeilen-Texte und integrierte Kästen. Besonders interessant sind farblich abgesetzte Schattenwürfe bei Gesichtern, während sie in anderen Darstellungen nur in einer Art Ligne-Claire-Stil gestaltet sind. Nun, viele Seiten erinnern gar an PopArt, was Comics als Neunte Kunst verdeutlicht! Ein Kunstwerk mit gestaltetem Vorsatz. Interessant zudem für alle Turn-Interessierten, sind doch vielerlei der komplizierten Übungen an diversen Geräten sequenziell illustriert, etwa Stufenbarren oder Boden… Schön, dass diese exzellente Graphic-Novel nun auf Deutsch verfügbar ist, nachdem ich sie im Rahmen des Münchner Comic-Festivals schon mal im tschechischen Original hatte durchblättern können, beim Tschechischen Zentrum München, Programm siehe
… ist natürlich ein feines Wortspiel zur „besseren Hälfte“, was im Übrigen hier bei vielen der vorgestellten Ehefrauen absolut zutrifft – nur waren sie quasi zur falschen Zeit geboren und wurden so untergebuttert: Wie lebte es sich mit Bach, Mozart, Chaplin, Einstein oder Georg I. von England? Offensichtlich nicht gerade einfach! Manche kennt die Leserschaft wohl schon durch bewusstes Hervorholen in den vergangenen Jahren, zumindest für Minerva Einstein-Maric sollte das zutreffen. Die Künstlerin spielt auf diversen darstellerischen Ebenen mit der Illustration, neben reinem Bild nämlich auch mit kreativen Schriften (plus Hervorhebungen in Farbe und mit Konturierungen à la Schatten, S. 51 z.B.). Gar Sprechblasen kommen ins Spiel (S. 34f. z.B. bei den Mozarts oder S. 129 Ludwig XIV.). Klischees nutzt sie durchaus, seien es Profil-Vorlagen oder bekannte Darstellungen wie Einsteins ausgestreckte Zunge (S. 105). Wer mag, kann vielem folgen, weil S. 136ff. die Quellen für Zitate aufgeführt sind, seien sie textlich, seien sie bildlich. Knapp 150 Seiten fein gezeichneter „Graphic Novel“ im weitesten Sinne – lesen & betrachten! PS: Auch „am Rande“ des Genres Illustration/Bild-Geschichte wird mehr und mehr auf die „vergessene Hälfte“ geachtet: So wurde das berühmte Museum im Münchner Isartor umgetauft in „Valentin-Karlstadt-Musäum“, immerhin…
Mit Fürchten lernen (2023) legt Nando von Arb ein ausdrucksstarkes Werk zum Thema Angsterfahrungen vor. In seinem unverkennbaren Stil widmet sich von Arb in kurzen Episoden den unterschiedlichen Facetten von Angst: der Angst vor Dunkelheit, Einsamkeit, Krankheit, Tod, Versagen und Verlust. Dabei zeigt er nicht nur die verschiedenen Ebenen und Nuancen individueller Angsterfahrungen auf, sondern stellt sich einer besonderen Herausforderung: der Angst ein Gesicht verleihen. In expressiven und kontrastreichen Darstellungen gibt sich die Angst in Fürchten lernen in Form von grotesken, unheimlichen Fratzen, die den Protagonisten nachts aufsuchen oder als organische Auswüchse, die sich durch den Körper der Figur fressen, zu erkennen. Albträume werden grafisch ausdrucksstark festgehalten und durch die Gedanken des Protagonisten kommentiert und kontextualisiert. Neben den individuellen Bewältigungsstrategien mit Angsterfahrungen, bei denen die direkte Konfrontation neben der Flucht vor der Angst skizziert wird, wird dabei gleichermaßen die Frage nach der gesellschaftlichen Akzeptanz von Betroffenen mit Angsterfahrungen aufgeworfen. Die Ängste, Albträume und Panikattacken werden stets individuell – mit und in sich selbst – verhandelt, wodurch eine weitere Dimension von Angst eröffnet wird: die Angst davor, mit anderen über Angst zu sprechen. Nando von Arb gelingt es in Fürchten lernen in besonderer Weise, abstrakte, vielschichtige und persönliche Gefühlszustände, die sich oft nur fließend und nuanciert wahrnehmen lassen, greifbar zu machen. Auf sensible und gleichermaßen eindringliche Weise gelingt es dem Autor durch eine entschiedene Komposition aus Licht, Schatten, Form und Farbwahl ein überzeugendes Werk vorzulegen, das nicht nur durch seine inhaltliche Komplexität und Tiefe, sondern auch durch die stilistisch-grafische Raffinesse beeindruckt. Sein besonderes Talent für die bildhafte Konservierung des ‚Unsagbaren‘ bezeugt er damit auf vielfältige Weise.
Zwischen Januar und August hat Splitter diese Mini-Serie vorgelegt, deren Handlung am 02. Mai 1945 einsetzt. Die Rote Armee hat Berlin erobert; nun will Stalin zeigen, dass Hitler wirklich tot ist. Das ist schwierig, denn eine Leiche fehlt. Zwei Geheimdienste, der NKWD und die SMERSch, treten in einen Wettlauf darum ein, Hitlers Leiche oder zumindest Beweise für seinen Tod zu finden. Dabei bekämpfen sie sich innerhalb des von Konkurrenzen und Misstrauen durchzogenen sowjetischen Systems unerbittlich. Brisards Plot geht vielschichtig vor. Gezeigt wird die kleinteilige Suche nach Hitlers Leiche, die Elemente einer Detektiv-Serie aufnimmt. Im Trümmer-Berlin des Kriegsendes werden immer wieder die deutschen Informanten thematisiert. Im Vordergrund steht aber der Kampf der beiden ausführende Dienste, die für konkurrierende Fraktionen im System der sowjetischen Führung stehen. Auch deren Intrigen im Hintergrund, speziell um NKWD Chef Beria, werden nicht ausgespart. In atmosphärisch dichten Zeichnungen entfaltet Pagliaro diese Geschichte. Sein kantig abstrahierter Stil erinnert mal, gerade auch in der Kolorierung, an expressionistische Holzschnitte, mal bleibt er skizzenhaft und lehnt sich an die Illustrationsgraphik der 1940er/50er Jahre an. Dass die ebenso glaubwürdig wie fantastisch anmutende Geschichte außerdem historisch gut recherchiert ist, zeigt der Begleitteil im dritten Band.
Wie beschränkt der Blick auf Comics (nicht nur) hierzulande nach wie vor ist, zeigt sich an ihrer Herkunft, die selten den europäischen oder nordamerikanischen Raum verlässt. Verdienstvoll hat der Reprodukt Verlag nun, nach Tungsténio bei Avant, das zweite Album des Brasilianers Marcello Quintanilha vorgelegt. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Krankenschwester Márcia, die sich sorgt, ihre Tochter Jaqueline, sorglos und ignorant, könne auf die schiefe Bahn geraten. Das bestätigt sich spätestens, als Jaqueline nach einer Festnahme rasch wieder freikommt. Márcia und ihr Freund Aluísio gehen der Sache nach und geraten in einen Strudel aus Drogenkriminalität und Milizen, bis Jaqueline dafür sorgt, dass Aluísio krankenhausreif geprügelt wird und selbst in den Knast geht. Am Ende des Comics aber ziehen Márcia und Aluísio aufs Land zu Jaqueline und deren Familie, ausgerechnet im Gefängnis war sie vom evangelikalen Priester schwanger geworden. Seine ziemlich bittere Geschichte von der Innenseite Brasiliens inszeniert Quintanilha in grellbunten Farben, einschließlich der menschlichen Körper. Viele Konturlinien fehlen. Konturen werden durch die Farben markiert, schwarze Linien gibt es nur dort, wo sie benötigt werden. Die Panels sind nie durch Linien gerahmt, was dem ansonsten nicht experimentell angelegten Band eine große Leichtigkeit in der Graphik verleiht. Zeichnungen und Narrativ stehen in maximalem Kontrast zueinander. Das alles macht Lust auf mehr, mehr von Quintanilha und mehr aus der offensichtlich schwer interessanten Comic-Szene in Brasilien.
Im Juni 1949 erreicht Josef Mengele Argentinien. Unterstützt durch ein gut ausgebautes Netz vor Ort, aber auch durch den niemals abreißenden Kontakt zu seiner Familie, die ein florierendes Unternehmen für Agrartechnik betreibt, baut Mengele sich zunächst eine gut situierte Existenz in Argentinien auf. Das Leben unter den ehemaligen Nazis ist mondän und gut situiert. Mengele reist unbehelligt nach Deutschland ein, um familiäre und finanzielle Belange zu klären, um den Vater zu beerdigen, holt seine Familie nach. Scheinbar geht das Leben im Exil und unter falscher Identität gut auf. Doch im Hintergrund versuchen sowohl der Frankfurter Staatsanwalt Fritz Bauer als auch der israelische Mossad Mengele ausfindig zu machen. Nach der Ergreifung Adolf Eichmanns wird es auch für Mengele eng, aber die deutsche Polizei und innenpolitische Prioritätensetzungen in Israel sorgen am Ende dafür, dass er unbehelligt bleibt. Unter dem Druck der Ermittlungen muss Mengele immer weiter flüchten, seine Netzwerke brechen sukzessive weg, seine Frau verlässt ihn. Die Familie kappt die Unterstützung; am Ende haust Mengele heruntergekommen in Brasilien. Mit 67 Jahren ertrinkt er beim baden im Meer. Basierend auf dem Roman von Olivier Guez hat Matz (Der Killer) ein dichtes, weitgehend chronologisch vorgehendes Script erstellt, das von Jörg Mailliet in flächigen Zeichnungen, die die Tradition der argentinischen Comics der Zeit aufgreifen, gekonnt und mit einer sehr schönen Kolorierung umgesetzt ist. Der Band bleibt konsequent an seinem Protagonisten und lässt dennoch keine falsche Nähe aufkommen; mit Flashbacks geht er angemessen sparsam um, es reicht völlig aus, zu wissen, um wen es geht.
Dank Yen Press hat dieser koreanische manhwa von JH von auch den Sprung vom Webtoon in Print geschafft! Sicherlich eines der düstersten und bedrückendsten Comics der letzten Jahre, überwältigt die Lektüre aber doch vor allem durch das unglaublich präzise, überwiegend visuelle Erzählen, in dem die wenigen gesprochenen Worte kaum mehr als einen düsteren Soundtrack bilden. Trotzdem werden die beiden kindlichen Protagonist*innen, mit denen wir durch eine postapokalyptische Schreckenswelt à la The Road (McCarthy) oder Parable of the Sower (Butler) wandern, vielschichtiger und komplexer als in der schillerndsten Prosa. Auf ihrer hypnotischen, oft phantasmagorischen Alptraumreise entsteht eine zerbrechliche Nähe, vielleicht auch eine Art von Hoffnung, die aber nie ganz die Einsamkeit und das Schweigen zwischen ihnen zu vertreiben vermag. Alle 21 Kapitel der Webtoon-Serie sind
Das Jahr war weltpolitisch ja nicht gerade einfach, manchmal tut daher Feel Good-Lektüre und gepflegter Eskapismus ganz wohl. Etwas Schöneres als Morikawas Kyūjitsu no Warumono-san, 2023 endlich auf Englisch übersetzt, findet man wahrscheinlich nicht so leicht. Episodische slice of life-Szenen laden zu kleinen „mental health“-Ausflügen in den Panda-Zoo oder den Konbini um die Ecke ein, wo sich ein außerirdischer Superschurke kurze Pausen von seinen Weltvernichtungsplänen gönnt. „That being said, today is my day off!“ wird so zu einer Formel, die nicht nur eine ganz zauberhafte Repetition entfaltet, sondern Genre-Regeln und Tonalitäten auch immer wieder neu überblendet und damit neben zauberhaftem Humor und unaufgeregtem Humanismus durchaus auch immer wieder poetische Qualitäten erzeugt.
Ehrlicherweise ist der Einstieg in dieses seltsame, oft geradezu surreale Drawn&Quarterly-Buch nicht gerade einfach. Schon das Erzählformat lässt sich auf keinen rechten Nenner bringen: Paul B. Rainey bündelt hier ein schnelles Feuerwerk aus einseitigen Punchline-Strips, die häufig in beliebiger Reihenfolge gelesen werden können, langsam aber stetig jedoch immer größere Arcs und ein übergreifendes Gedächtnis entstehen lassen. Der beißend schwarze, mitunter geradezu bizarre Humor lässt Lachen aber nicht wirklich zu: Die kurzen Schnappschüsse aus häuslichen Familienszenen präsentieren das genaue Gegenteil einer Idylle, in der jedes Alltagsdetail von den Depressionen, Verletzungen und Suchtproblemen der Eltern Claire und Mark überschattet ist, die sich nicht einmal die Namen ihres Sohnes merken können und ihre Ehe lange, lange schon aufgegeben haben. Von dieser schwer verdaulichen „baseline“ aus kippt der Plot aber immer weitere ins Surreale und Phantastische – präzise um die Frage herum, ob dies wirklich nicht die Realität ist, die Claire und Mark leben sollten und alles zuvor – selbst das merkwürdig episodische (Nicht-)Gedächtnis – verblüffend motiviert ist! Am Ende der 210 Episoden ist immer noch nicht ganz klar, was man da eigentlich genau gelesen hat, und angenehm war es auch meistens nicht, ganz sicher aber sehr einzigartig und bewegend unter den Publikationen der letzten 12 Monate.
“Believe me: you do NOT want to make an enemy of a librarian.” Diese Warnung stellt der schottische Comiczeichner Tom Gauld seiner jüngsten Sammlung von Comic Strips, die nun schon seit mehreren Jahren den Literaturteil des Guardian zieren, voran. Gauld zeichnet in seinen Comics eine Welt, in der Literatur mit groteskem Ernst behandelt wird und man sich vor der Poetry Police in Acht nehmen muss, die bei trivialliterarischen Äußerungen in der Öffentlichkeit sofort eingreift. Auch reimaginiert Gauld gerne die Entstehung der großen Texte der Weltliteratur, etwa wenn Jane Austen bei der Konzeption ihres berühmten Anfangssatzes von Pride und Prejudice darüber sinniert, was ein alleinstehener Mann denn besitzen muss, um eine Frau zu brauchen (Ein sprechendes Pferd? Eine Zeitmaschine? Oder vielleicht doch lieber ein beträchtliches Vermögen?). Gaulds Comics zeugen von einer immensen Liebe zu Büchern – und kombinieren diese gekonnt mit ebenso klugem wie absurdem Humor und einem minimalistischen visuellen Stil, der Comics mit Diagrammen, Pfeilbildern und Anleitungstexten vereint (beispielsweise in einer Studie über das lokale literarische Ökosystem, die über Habitat und gängige Verhaltensmuster der Spezies der Autor*innen aufklärt). Hier offenbart sich nicht zuletzt dann auch das kritische Potenzial der Strips, die bei aller Absurdität dazu anregen, den Blick zurück auf die Realität zu richten und auf die Rolle, die Literatur und literarische Akteur*innen in unserer Welt spielen und spielen sollten. Eine deutsche Version ist unter dem Titel Die Rache der Bücher erhältlich.
Während des Massakers durch die Hamas am 7. Oktober dieses Jahres in mehreren süd-israelischen Kibbuzim und einem Techno-Festival haben sich einige der Angreifer Kameras um den Hals gehängt, um die Bilder ihrer Gräueltaten in der ganzen Welt zu verbreiten. Unabhängig davon, dass ein Sprecher der Hamas inzwischen behauptet, nur militärische Ziele angegriffen zu haben – eine Behauptung, die ihren eigenen Aufnahmen Hohn spricht –, zirkulieren seitdem zahlreiche Bilder – und täglich kommen neue hinzu. Den auch in Deutschland plakatierten Bildern der von der Hamas entführten Menschen kontert die Terrororganisation mit Bildern von Kindern zwischen Trümmern – sie führt auch einen Krieg der Bilder. namesandfaces.il ist eine Initiative israelischer Illustrator*innen, die ihre Ablehnung des Massakers und des dadurch ausgelösten Krieges durch eine Serie von Zeichnungen auf der social media Plattform Instagram veröffentlicht. Kein Comic im eigentlichen Sinne, aber eine Serie von Bildern und Geschichten, die sich den nicht selten für Verschwörungstheorien dienenden Filmbildern auf derselben Plattform entgegenstellt. Nicht sehr laut, eben ohne die dramatische Musik die den Videos, die behaupten, Wahrheiten über den 7. Oktober zu verbreiten, eigen ist, reiht sich ein Beitrag an den anderen – ganz unterschiedliche Bilder: Skizzen, Portraits, Blumenbilder, Graphiken. Schon diese Heterogenität spricht eine andere Sprache als die Fotos, die Filme, die doch behaupten dokumentarisch zu sein, aber unschwer in jeden neuen Kontext gestellt werden können. Diese Bilder sind jeweils zugeeignet, sie sind nicht nur der Betrachtung, sondern auch jeweils einer Person gewidmet, die ermordet oder verschleppt wurden, die Menschen vor den Mördern gerettet haben, aber auch den Menschen in Gaza, „where darkness entered their homes“. Vielen ist wie in Bildergeschichten ein kurzer Text beigeordnet: was die Gezeichneten auszeichnete, was ihnen widerfuhr – Geschichten, die sonst kaum gehört würden, wie die von dem Busfahrer Haim Ben Aryeh: „On Saturday night, the end of Simchat Torah, Haim went to drive the children of Be’eri to safety on his bus. The horrors he had seen that night broke his heart, and he had not been himself since. In the morning of October 25th he was found dead inside his bus”. Diese kleinen digitalen Bilder wirken wie Talismane, uns vor dem Bösen zu schützen, von dem sie künden.
Schon der Goldschnitt verkündet etwas Besonderes. Er verbindet die verschiedenen Seiten, deren Figuren mal als Menschen, mal als Katzen, aber auch als andere Tiere gezeichnet sind. Der Stil wechselt von Kapitel zu Kapitel, auch wenn Feuchtenbergers eindrückliche Kohlezeichnungen, wie sie aus Der Spalt bekannt sein könnten, dominieren. Grad wenn sich die Lesenden an den Rhythmus aus zwei Bildern die Seite gewohnt haben, wird dies unterbrochen. So einfach ist die Geschichte, die im ländlichen Raum der Deutschen Demokratischen Republik angesiedelt ist, nicht zu haben. Sie fügt sich zu keiner übersichtlichen Erzählung wie sie im Genre der Graphic Biography so gängig geworden ist. Die Zeiten springen, die Figuren wechseln, manches erscheint als erinnerte Anekdote, anderes wirkt wie im Traum, die Übergänge sind fließend. Nur langsam setzen sich die Fragmente zusammen. Es geht um sexuellen Missbrauch, die Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges, es geht um Gewalterfahrung und Vergewaltigung und wie damit nicht umgegangen wurde. Genossin Kuckuck ist ein verstörendes, mutiges Buch, ein Comic, der mit einer Lektüre längst nicht ausgelesen ist. Es stellt uns die Frage, wie überhaupt solche Bücher mit Goldschnitt zu lesen sind, weil sie das Sehen und das Verstehen historischer Zusammenhänge neu denken lehren.
Die Einigkeit über die unvergleichliche Bedeutung George Herrimans Krazy Kat für die Geschichte der Zeitungscomics ist unter Comicforscher*innen groß. Die Wiederveröffentlichung des „Werks“ entspricht dieser Bedeutung allerdings nur zur Hälfte: die oft experimentellen Sonntagsseiten, die zwischen 1917 und 1944 erschienen, sind gleich mehrfach veröffentlicht seit Bill Blackbeard mit seinem San Francisco Academy of Comic Art Ende der 1980er Jahre begonnen hatte, diese jahrgangsweise zu edieren. Das Projekt stockte ab 1925, auch weil es für manche Jahre ausgesprochen kompliziert war, die Seiten zu finden, weil sie anders als die Tagesstrips oft nur in wenigen Zeitungen erschienen – sie waren von den Comic-Seiten ins Feuilleton verbannt worden, wo Redakteure sie gerne wegließen. Fantagraphics hat die Reihe dann ab 2002 übernommen und fortgesetzt – jüngst werden je drei Jahre ebendort in einer sehr schönen großformatigen Reihe zusammengefasst. Aber die Tagesstrips? Sie harren ihrer systematischen Veröffentlichung. Auch hier gab es vereinzelte Initiativen: Schon 1991 erschien in der letzten Ausgabe von RAW die Tiger Tea-Episode aus dem Jahr 1936. 2001 brachte ein Verlag namens Stinging Monkey als Volume 1 die Strips von 1918-1919 mit einem Vorwort von Blackbeard heraus. In der sehr verdienstvollen Library of American Comics, die verschiedene Strips jahrgangsweise veröffentlicht, läßt sich das Jahr 1934 nachzulesen. Ein opulentes Querformat macht die experimentellen Strips des Jahres 1920 bei Fantagraphics zugänglich. Die Strips 1921-23 sind beim Pacific Comics Club verlegt. Der norwegische Cartoonist Snorre Smári Mathiesen hat sich nun in Eigeninitiative einer Fortsetzung angenommen und begonnen, die Strips ab 1924 unabhängig, bei Amazon in Polen gedruckt, zu verlegen. Die Ausstattung ist bescheiden, die Gestaltung fragwürdig, die Ausgabe bleibt unvollständig, weil eben nicht alle Strips aufgefunden wurden, und Mathiesens Einleitung kann mit Blackbeards Sprachwitz nicht konkurrieren, zeitbezogene Kommentare schließlich, wie Blackbeard sie rudimentär zur Verfügung stellte, fehlen ganz. Doch die Qualität des Drucks der Strips ist meistens gut und wenn die Rückseite der Zeitung durchscheint, betont dies nur ihre Herkunft. Die Qualität der Strips indes bleibt auch 99 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen überragend.
Es handelt sich um eine Pseudo-Biografie eines fiktiven Comic-Zeichners Charlie Chan Hock Chye (geb. 1938). Der Autor Sonny Liew (geb. 1974) erzählt die Lebensgeschichte dieses fiktiven Künstlers, die mit der jungen Geschichte Singapurs verschmolzen ist: Von der Unabhängigkeit Singapurs von der britischen Kolonialmacht, der Fusion Singapurs mit Malaysia und der Trennung kurz danach, bis auf das politische Ringen zwischen Lee Kuan Yew und Lim Chin Siong in den 50er und 60er Jahren, echte Ereignisse sind in der „Biografie“ überall zu sehen, und vor diesem echten historischen Hintergrund entfaltet sich die Geschichte des Künstlers, den es eigentlich nicht gab, die aber von zahlreichen „Beweisen“, wie z.B. Fotos des Künstlers und Zitate aus seinen Werken, gestützt ist. Eine kritische Haltung gegen die politische Lage sowie das Regime zeigt sich in den Parodien von Charlie Chan Hock Chye. Gerade die Kritik einer fiktiven Figur stellt eine echte, wenn auch subtile, Provokation gegen die nationale Narrativ Singapurs dar.
„Nach sechs Jahren in Hamburg und einer gescheiterten Ehe entschließt sich Nacha Vollenweider in ihr Heimatland Argentinien zurückzukehren.“, so der Text auf der Rückseite dieser wunderbaren Graphic Novel. Nach ihrem Debüt „Fußnoten“, die einen Außenseiterinnenblick auf Hamburg und Deutschland wirft, wird man als Leser:in nun mitgenommen in das aktuelle Argentinien, das viel mehr mit unserem Leben im Westen der Welt zu tun hat, als man denken mag. Während wir über unsere Inflationsrate jammern, beträgt diese in Argentinien 50% jährlich. Während wir über Elektroautos als Heilsbringer reden, verursacht der Abbau von Lithium für die Batterien dieser in Argentinien eine Dürre nach der anderen und verändert dortige Ökosysteme für immer. Während wir über Fachkräftemangel klagen, muss eine junge qualifizierte Frau aufgrund ihrer Scheidung von einer Deutschen das Land verlassen, in dem sie sechs Jahre lebt und arbeitet. Die Themen, die Nacha Vollenweider anspricht, könnten aktueller, interessanter und brisanter nicht sein. Wie in ihrer ersten schwarz-weiß Graphic Novel mit interessantem Pinselstrich schafft sie es auf wunderbare Weise ihre Themen zu unseren zu machen.
Seit mehreren Jahren macht David Kunzle, wie als Supplemente zu seinem maßgeblichen zweiten Band The History of the Comic Strip von 1990 in der Mississippi University Press die vielen Seiten zugänglich, die er dort oft nur in Auszügen veröffentlichte. Nach wunderbaren Bänden u.a. über Toepffer und Cham versammelt der marxistische Kunsthistoriker in seiner jüngsten Publikation diverse Zeichnende, vor allem aus Punch aber auch anderen Zeitschriften mit so klingenden Namen wie The Man in the Moon. Viele der Zeichnenden, auch Frauen wie Marie Duval sind darunter, sind eher durch Cartoons in Erinnerung geblieben, manche haben nur wenige Seiten zu der – im Begriff sicher befragbaren – Wiedergeburt des englischen Comic Strips beigetragen, aber es ist wunderbar, diese lang vergessenen Arbeiten so kundig kommentiert entdecken zu dürfen. So diskutabel Kunzles weiter Begriff des Comic Strips ist, so lehrreich bleibt es, den Blick über das 20. Jahrhundert hinaus in die Vergangenheit zu richten. Das 19. Jahrhundert, in dem das Bürgertum durch die Industrialisierung, forcierten Kolonialismus und die Ausweitung kapitalistischer Produktionsweisen die Erde ganz umpflügte, hält vieles zum besseren Verständnis der krisenhaften Gegenwart bereit. Kunzle zögert nicht, diese Aktualität zu benennen und darf so allen kommenden Comic-Forschenden als bewundernswürdiges Vorbild gelten.
„Das Private ist stets politisch“, ist auf der Reprodukt-Seite über Luka Lenzin, vormalig Martina zu lesen – und „lebt nonbinär“. Doch anders als Abfackeln von Nino Bulling, der die Unsicherheit und den Wechsel des Geschlechts zum ausdrücklichen Thema macht und formal sicher ebenfalls einen der innovativsten Bände des Jahres vorgelegt hat, lenkt Lenzin nicht den Blick auf sich, sondern verdichtet in bewundernswürdiger, eleganter und die Lesenden wenig schonenden Weise Gespräche, die Lenzin in der Hamburger Drogenberatungsstelle beim Hauptbahnhof beim Jobben dort geführt hat. Jemanden wie mich, der lange in Hamburg gelebt hat, erfreut besonders, wie sehr hier sprachliche Idiome aufbewahrt und über die Grenzen der Stadt hinaus hörbar werden. Doch der größte Vorzug des Bandes stellt das überzeugende Plädoyer für einen anderen Umgang mit Drogen dar, vor allem mit deren Konsumierenden, deren verdichtete Erzählungen die Lektüre schwer aus der Hand legen lassen. Sind Bullings Innovationen auf die Form selbst bezogen, zeigt Lenzin wie groß der erzählerische Raum zwischen Autobiographie, Dokumentation und poetischer Verdichtung ist. Die überraschend selbstverständlich wirkenden Tierköpfe machen das Geschlecht der Figuren gelegentlich unlesbar und greifen so aufs Schönste die interessanteren Momente der Comic-Geschichte auf.
A propos Comic-Geschichte: Manche von Milt Gross‘ Sonntagsseiten wirken wie Drogentrips. Die Verkettung des Unwahrscheinlichen erzeugt eine Komik, die auch 90 Jahre nach dem ersten Erscheinen ihre Wirkung nicht verfehlt. Zu einer Zeit als der Slapstick aus dem Kino zu verschwinden begann, wird er hier nicht nur aufbewahrt, sondern macht dessen gelegentliche Radikalität im Umgang mit den deformierenden gesellschaftlichen Verhältnissen unüberlesbar. Heute erscheinen auch die damals gängigen Sexismen und ethnische Stereotype wie vergrößert. Diese Ausgabe, wie in den letzten Jahren nicht mehr unüblich, kommt dem Druck im Zeitungsformat nahe, wodurch Gross‘ großartige zeichnerische Virtuosität lesbar wird. Ich hab sie jetzt erst in die Hände bekommen und hoffe, dass sie noch viele andere findet.
Eine Kiste mit dem Foto aus dem Nachlass ihres Großvaters, der Assistent der Rechtsmedizin in Bonn war, ist Anstoß für Jennifer Daniels Bildroman. Die spannende Kriminalgeschichte ist fiktiv, wenngleich sie – bedrückend und mahnend – sehr reell an die deutsche Geschichte gebunden ist, an die Zeit des Dritten Reiches, den Zweiten Weltkrieg – und wie die schrecklichen Ereignisse und Verbrechen dieser Zeit (in der jungen Bundesrepublik nachhallen bzw. unterdrückt werden. Die Geschichte hat ihren Ausgangspunkt 1977, als der Protagonist Karl Martin – Mitarbeiter der Gerichtsmedizin – mitbekommt, wie bei einem Autounfall eine junge Frau zu Tode kommt. Es ist eine RAF-Sympathisantin; der Unfallverursacher flieht. Martin lässt das Geschehen keine Ruhe und er beginnt zu recherchieren. Daniel weiß spannend zu erzählen, bindet das Geschehen an reale Orte, verschiebt die Erzählebenen, Erinnerungen aus NS-Zeit und Krieg werden mit der Zeit aktuellen Erzählzeit verwoben und decken Haltungen, Verhalten, Positionen auf. Dabei steht das bedrückend düstere Geschehen im provokativen Kontrast zu Daniels farbiger Visualisierung.
Der Tod eines Kindes schlägt eine furchtbare seelische Wunde, insbesondere, wenn dieser Tod offenbar zu verhindern gewesen wäre. Was Garanin hier erzählt, ist autobiografisch. Ihre farbigen Zeichnungen, leicht karikaturistisch angelegt, bauen eine für Betrachter erträgliche Distanz zum tragischen Geschehen auf und sind für die Autorin selbst Mittel zur Verarbeitung. Sie schildert ihr glücklich-fröhliches Familienleben, in das der kleine Nils und seine drei älteren Geschwister eingebunden sind. Zeigt dann, wie er erkrankt, wie die Familie ihn begleitet, wie sie hofft und dann doch seinen Tod hinnehmen muss. Und wie sie versucht den offensichtlichen Fehler der ärztlichen Behandlung aufzuklären und zur Rechenschaft zu ziehen – gegen eine geschlossene Front von Ärzten, Politikern, Juristen. „Das Verfahren wird eingestellt.“ Die Fantasie, die in der Bildgeschichte Gestalt bekommt, hilft, die Wut zu überwinden und Nils mit den Wildgänsen, wie er es einst beobachtet hat, davon fliegen zu lassen aber stets in Erinnerung zu behalten.
Häflingers leichter, fast skizzenhafter Zeichenstil, die zarte aquarellierte Farbgebung, das Zusammenspiel von handschriftlichem Text (wörtliche Rede, Erzählerkommentar) erwecken den Eindruck einer lyrisch-zarten Geschichte. Doch die Idylle familiären Alltags bricht. Seiten mit wilden, harten dynamisch bewegten Kritzelstrichen, brutalen Versalien (NEEEIIIIN) spielen immer wieder auf seelische Zustände an, eindrucksvolle, erschreckende Bildmetaphern. Es geht in der Geschichte um Lars, der seelisch erkrankt, was die Familie erst allmählich merkt, um seine Versuche, der gefühlten ständigen Bedrohung zu begegnen, die verlorene Realität wieder zu gewinnen. Einfühlsam nimmt die Autorin die Leserschaft mit auf diesen Weg, den Lars, seine Eltern, seine Schwester gehen müssen. Sie erzählt uns eine Geschichte, die die Augen öffnen kann, bedrohlich fremde Blicke zwar nicht zu wissenden, aber ahnend verständnisvollen zu wenden.
Die beiden Bände enthalten fast den ganzen Run von Ross Andru als penciller und sind (inklusive des Todes von Gwen Stacy) von Gerry Conway geschrieben. Andru ist ein leider unterschätzter Zeichner, dessen Perspektiven und anatomische Verzerrungen nicht hinter dem großen Gil Kane zurück stehen müssen. Als besonderes Highlight kann zudem gelten, dass Andru die Geschichten im real existierenden New York zeichnet. Anders als Kane, Romita sr. und Ditko erzeugt er keine generischen Hintergründe und Räume. Er hat mit seiner Kamera immer wieder dokumentiert und das ergibt das Vergnügen, eine reale Raumtiefe und ein Stadtbild sehen zu können, welches wirklich distinkt erscheint. Das hat viel Atmosphäre. Conway schreibt interessante Geschichten, deren Plots sich – typisch Marvel – über viele Hefte ziehen. Wer den frühen Spiderman mag, wird an diesen Bänden sein Vergnügen haben!
Hades, der griechische Gott der Unterwelt, sucht einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin und lässt Einladungen zur Bewerbung über den Erdball flattern. Tatsächlich findet sich am Tor A 23 des Totenreichs bald eine ganze Schar von Anwärter:innen ein, darunter die 16-jährige Suzanne, die Hades eigentlich bloss bitten will, ihren Freund wieder lebendig zu machen. Das Bewerbungsprozedere entpuppt sich als mörderischer Wettbewerb mit «Hunger Games»-Vibe. Fünf Aufgaben gilt es zu lösen, die allesamt nicht etwa mythologische Kenntnisse verlangen, sondern Wissen um die Beschaffenheit des Erdreichs. Dazu werden die Bewerber:innen immer kleiner gezaubert und tauchen immer tiefer in die Mikroebene des unterirdischen Lebens ein, während sich die Rivalität unter ihnen verschärft. Suzanne freundet sich mit dem gleichaltrigen Tom an. Als unwahrscheinliche Heldenfiguren – Tom etwa hat Angst vor Mikroben, überwindet diese aber, als sie grösser sind als er – kommen die beiden unscheinbaren Teenager mit Kreativität, Teamgeist und dem nötigen Glück jeweils eine Runde weiter. Eingebettet in die actionreiche Handlung ist ein eindrückliches Sachbuch über die Mechanismen und Lebewesen in jenen anderthalb Metern Erdschicht, denen alles, was wächst, entspringt. Die Informationen etwa über Stickstoff, Pilze, Bakterien oder Nematoden stören dabei den Spannungsbogen des Wettbewerbs keineswegs, sondern wirken als Teil davon. Das befeuert beide Leseinteressen, das literarische und das sachliche – zu wissen, wie die Handlung ausgeht, aber auch mehr über den Boden zu erfahren.
Völlig meschugge?! ist der Comic zur gleichnamigen und gleichzeitig erschienenen ZDF/Kika-Fernsehserie. Das Freundestrio Benny, Charlie und Hamid hält sich für unzertrennlich. Doch dann trägt Benny nach dem Tod seines Opas dessen Judenstern um den Hals und löst damit eine ungewollte Lawine von Vorurteilen aus. Erst gibt es blöde Sprüche, dann stellt sogar Hamid ihre Freundschaft deswegen infrage. Dabei gerät Hamid selbst in Verdacht, ein Handydieb zu sein. So wimmelt es an der Schule plötzlich vor Vorurteilen, und trotz einzelner versöhnlicher Stimmen sind die Erwachsenen angesichts des grassierenden Rassismus zunehmend überfordert. So liegt es an Charlie, die ungläubig zwischen den Parteien steht, sich ins Zeug zu legen, um ihre zwei besten Freunde und die ganze Schule zur Räson zu bringen und nebenbei die Handydiebstähle aufzuklären. Damit das gelingt, braucht es natürlich ein dramatisches Finale. Im Unterschied zur Serie ist der Comic aus der Sicht von Charlie, dem einzigen Mädchen des Trios, erzählt. Zeichnerin Melanie Garanin hat den von Kinderbuchautor Andreas Steinhöfel («Rico und Oskar») verfassten Text kongenial ins Bild gesetzt. Bild- und Textebene überzeugen je für sich, aber auch in ihrem Zusammenspiel. Nah an jugendlichen Lebenswelten, hält die Erzählung gekonnt die Balance zwischen Ernsthaftigkeit und
Visualisieren als hoch relevantes Thema, in einem Begleitbuch fürs eigene Umsetzen oder fürs Begleiten im Umsetzen durch Fachleute, bei diesen Themen in aller Regel: Therapeuten. Doch auch diesseits von Therapie für Weiterbildner jeglicher Couleur sinnvoll nutzbar, sich anregen zu lassen! Geschrieben/getextet von unterschiedlicher Fach-Autorenschaft, alle illustriert von der selben Zeichnerin: Bis dato sind fünf Hefte erschienen, jeweils als Graphic Novel umgesetzt, im je gleichartigen Konzept – hier für Trauma kurz dargestellt: „Trauma ist ziemlich strange. Was ist ein Trauma? Wie verändert es die Funktionsweise unseres Gehirns? Und wie können wir es bewältigen, es überwinden und wieder ganz werden? Schafft Verständnis für die Betroffenen, unterstützt Helfer in ihrer Arbeit, hilft Betroffenen, sich und den eigenen Körper zu verstehen… Mit klugen Bildern und Katz- und Maus-Metaphern, grundlegenden wissenschaftlichen Fakten und einer gesunden Portion Humor erläutert Steve Haines, wie zur Heilung eines Traumas nicht nur die Psyche, sondern insbesondere auch der Körper mit einbezogen wird. Er zeigt Methoden und Übungen, mit denen Spannungen abgebaut und tiefe muskuläre Stressmuster gelöst werden können.“ Jeweils um 32 Seiten, variiertes Layout, meist mit Erklär-Texten im Panel, teils auch mit Sprechblasen, je sequenzielle Passagen: So gelingt Erklär-Comic auf beste Weise!
Oha, dieses Mal ist eine Menge mehr drin, in diesem nun schon achten Band der MM-Enzyklopädie – nämlich eine starke Analyse zum Einfluss der großen Erika Fuchs! Mehrere Autoren haben dazu beigetragen, u.a.: ich 😉 … Als Comicoskop-Redakteur habe ich die damalige Leiterin des Erika-Fuchs- Hauses und –Museums in Schwarzenbach a.d. Saale interviewt, als studierter Sprachwissenschaftler zentrale linguistische Momente des Wirkens der grande dame eingedeutschter Disney-Comics dargestellt. Eingedeutscht? Ja, denn sie hat weit mehr geschafft (und geschaffen!) als ein Übersetzen – sie hat im besten Sinne die Sprechblasen lokalisiert. So, genug verraten, Details lese Leser:in gefälligst selbst. Denn „das Buch zeigt auf 312 Seiten alle Cover und Rückseiten der Micky Maus-Hefte von 1959 und zu jeder Ausgabe die etwa fünf oder sechs wichtigsten Innenseiten – und das alles in Originalgröße und in den Originalfarben der uralten Hefte.“ Das allein genügt im Grunde, zuzugreifen. Doch weiter geht´s mit der oben genannten Besonderheit: „Wir haben in Band 8 das wissenschaftliche wie leidenschaftliche Vorwort Frau Dr. Erika Fuchs gewidmet, der wir mehr als nur perfekte Übersetzungen verdanken. Ein Sprach-Experte, eine Museums-Leiterin, ein mehr als fachkundiger Donaldist und der Autor selbst haben auf 25 Seiten die unsterblich gewordenen Verdienste der Frau Dr. Erika Fuchs zusammengetragen…“. Very special!
Strahlende Bilderwelten des Mittelalters erleben, so der Slogan dieses einzig verbliebenen Luzerner Faksimile-Verlags. Und diese auf 680 Exemplare weltweit strikt limitierte Edition ist ein bestensgelungener Beleg für diese Aussage. Denn „Das Alte Testament in 529 Bildern“ ist in diesem Faksimile exzellent wieder gegeben – in einer Bild(er)geschichte also: Im weitesten Sinne ein früher Comic, nämlich vom Ende des 14. Jahrhunderts. Das zeigt schon der Auszug in der Abbildung, dort auch das durchaus variable Layout erkennbar, das meist allerdings vier Bilder pro Seite zeigt. Alles im allem also „eine prächtige Bilderbibel: In Text und Bild verschmelzen auf einzigartige Weise die Vergangenheit der biblischen Geschichte mit der Gegenwart des Auftraggebers aus Padua um 1400….allesamt Teile des Weltkulturerbes. Unter der Lupe: Bilder wie in einem Film“ oder eben wie in seiner sequenziellen Abfolge von Bildern, mit begleitenden Texten unter dem jeweiligen „Panel“. (Mehr dazu
Wow, ein feiner und gelungener Mix aus Ratgeber, Handbuch und tour d´horizon durch Geschichte und Genre der Comics (plus Graphic Novel und Manga)! Geboten sind „über 250 aufregende Empfehlungen und Abbildungen – durchgehend vierfarbig“, auf deutlich über 300 Seiten, gewidmet eben der Neunten Kunst… Oder schlicht anregende Lektüre mit einer Fülle an Einblicken in Comic-Themen quasi jeder Art: Drei Dutzend Artikel sind geboten, unterschiedlicher Länge, durchweg bebildert und mit Kurz-Verzeichnis der jeweils besprochenen Comics (bzw. Reihen) – dazu „Outtakes“, die kurz kommentiert derlei aufführen (S. 7 erläutert): „die …a) sich super verkaufen (die ich aber weniger gut finde), b) gut aussehen, aber mich erzählerisch nicht überzeugen, c) toll sind, aber leider nicht mehr leicht erhältlich“. Beiträge u.a. Wiedereinstiegsdrogen I bis IV / Ein Sattelfest: Lucky Luke und seine Enkel / Der rote Faden für den Blasendschungel /) / Die echten Reporter ohne Grenzen [Comic-Journalismus] / Panel, Splash & Gutter: Begriffe für Blasendrescher / Was steckt hinter der neuen Comic-Hoffnung? [Graphic Novel] / Die Sache mit den Mangas [sic!] / Mittendrin statt nur dabei (Comic-Künstlern beim Arbeiten) Schon diese zufällig (und dennoch bewusst 🙂 …) ausgewählten Überschriften zeigen, wie unterhaltsam der Stoff geboten ist – und wie „dennoch“ höchst informativ!
In der brasilianischen Comicszene gab es im November 2022 ein Highlight, auf das viele lange gewartet haben: Die Veröffentlichung von Marcelo D’Saletes neuem Comic Mukanda Tiodora. Nach Cumbe und Angola Janga beschäftigt sich der Autor ein weiteres Mal mit der Geschichte der Sklaverei in Brasilien und erzählt anhand der Titelfigur Tiodora von den Möglichkeiten und Schwierigkeiten, die 1866, 22 Jahre vor der Abschaffung der Sklaverei, für versklavte Personen bestanden, mittels Briefe miteinander in Kontakt zu treten. Tiodoras Brief muss zugestellt werden, doch diese Zustellung wird zum Abenteuer für Benê, der sich dafür von São Paulo bis zu den Kaffeeplantagen im Hinterland durchschlagen muss.
Es ist mittlerweile ja fast schon eine feste Formel, nach der King Jahr um Jahr einen neuen legacy character von Marvel oder DC ausgräbt und dann seine ganz eigene, paranoid-psychologische Erzählweise mit mehr oder minder kurioser Superhelden-Continuity verbindet um so die merkwürdigsten narrativen Kippfiguren zu generieren. Nach Vision, Mister Miracle (meinem bisherigen Highlight) und zuletzt Strange Adventures wird nun also Christopher Chance, „The Human Target“, durch diese Maschine gejagt. King überblendet hier – doch nochmal verblüffend – eine hübsche Noir/Crime-Story im Brubaker-Stil mit Keith Giffens und J.M. DeMatteis‘ eher für Ulk-Humor erinnerte Justice League International-Ära (1987-89). Das ist an sich bereits ein wilder, äußerst lesenswerter Mix, beeindruckend wird das Ganze aber erst durch Greg Smallwoods Mise-en-page und Layouts, die so einzigartig und unkonventionell anmuten, dass man sie sofort in Parodien wiedererkennen könnte.
Eigentlich bereits zum Jahresabschluss 2021 auf Tapas fertiggestellt, habe ich Lisa Frühbeis‘ 15teiliges Webcomic zu meiner Schande erst durch seine Prämierung mit dem diesjährigen
Auf James Tynion IV ist immer Verlass, eingespielte Genre-Formeln auf den Kopf zu stellen, hier: die „Cabin in the Woods“-trope, bei der am Ende nur eine Person überleben darf. Stattdessen beobachten wir hier einen 11köpfigen Freundeskreis bei der langsamen Realisierung, dass außerhalb ihrer Hütte im Wald die Apokalypse begonnen haben könnte und nur sie selbst gerettet und unsterblich sind, alles Dank ihres langjährigen Freundes Walter, der womöglich schon immer ein Alien ist. Rückblenden durch viele Jahrzehnte meditieren dabei in überraschender Tiefsinnigkeit und Ernsthaftigkeit über Freundschaften, Lebenswege und Lebensziele. All das wird auch noch sehr originell durch häufig wechselnde Erzählebenen – Dialogprotokolle, Email-Verkehr, Diagramme – trianguliert. Lange war ich nicht mehr so auf ein zweites (abschließendes) Trade Paperback gespannt wie hier.














































Alain Ayroles, Juanjo Guarnido: Der große Indienschwindel
Alexander Braun: George Herriman’s Krazy Kat. The Complete Color Sundays 1935–1944
Michel Rouge, Christophe Bec:
Laurent-Frédéric Bollée, Philippe Aymond: Les nouvelles aventures de Bruno Brazil 1: Black Program







David Füleki (hg. v. Adrian vom Baur): The Best (and Worst) of David Füleki. Jazam!
Nadja Hermann: Erzähl mir nix














