Gut Siggen
October 9-13, 2023
Der imaginäre Graben zwischen Holocaust-Gedenken und dekolonialem Bewusstsein ist in Deutschland tiefer als je zuvor. Einen Grund dafür hat der Kulturwissenschaftler Michael Rothberg schon 2009 in seinem auf Deutsch erst 2021 erschienenen Buch „Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung“ als „kompetitive Erinnerung“ beschrieben. Nimmt man an, dass die dem Erinnern zur Verfügung stehenden Ressourcen knapp sind und das öffentliche Gedenken ein Nullsummenspiel ist, dann „verhindert“, so Rothberg, die Erinnerung an den Holocaust die an andere historische Verbrechen. Umgekehrt würde „die Erinnerung an Sklaverei oder Kolonialismus die Erinnerung an den Holocaust“ in „der öffentlichen Sphäre auslöschen“. Mein Gedenken gegen dein Gedenken, so lautet diese Logik. Dass es auch anders geht, zeigt die „Ethik multidirektionalen Erinnerns“. Rothberg zufolge setzt sie nicht auf Konkurrenz, sondern auf den Dialog.
Dass sich der Holocaust im Comic darstellen lässt, hat Art Spiegelman mit seinem epochalen Comic „Maus“ gezeigt. Tatsächlich lässt sich argumentieren, dass der Comic sogar eine ganz spezifische mediale Eignung für die Darstellung ‚undarstellbaren‘ Grauens besitzt. Denn was auf Fotografien verstörend brutal, vulgär oder pornografisch wirken mag, kann die „humane Strichführung“ einer Zeichnung so auf ästhetische Distanz bringen, dass wir es überhaupt erst wahrnehmen können und wollen. So hat die israelische Comicautorin Rutu Modan unter dem Titel „Was wir sehen, wenn wir Comics lesen“ argumentiert, und schon Aristoteles hatte ja in der „Poetik“ bemerkt, dass wir „von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, mit Freude Abbildungen sehen“. Im Comic spielt dabei die Bildebene mit ihrem nichtlinearen Verhältnis zur Zeit eine entscheidende Rolle. Denn nicht nur können (aber müssen nicht notwendig) Bilder leichter fasslich sein als ein sprachlicher Text. Vor allem weicht die räumliche Bildebene des Comics, auf der mehrere Panels zugleich nebeneinander stehen, von der tendenziell chronologischen Ordnung sprachlichen Erzählens ab, in dem Worte auf Worte und Sätze auf Sätze folgen. In diesem Sinne hatte schon Lessing im „Laokoon“ den Unterschied von Raum- und Zeitkunst beschrieben. Indem der Comic gleichzeitig beide Ebenen umfasst, jedoch nicht zur Deckung bringt, hat er schon formal von Haus aus eine multidirektionale Qualität. In einem einzigen Panel können Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft parallel existieren oder einander sogar widersprechen. Modan zufolge liegt hier der Grund für eine der Erzählform Comic innewohnende Tendenz zu postmoderner Vielstimmigkeit, Komik und Ironie. Zugleich „leise“ und „ungezwungen“, dem Auge Zeit und Raum zum Schweifen gebend, kommt im Comic die Erkenntnis zum Zuge, dass es „nicht nur eine Wahrheit gibt“.
Dass die Erinnerung an Holocaust und Kolonialismus einander nicht ausschließen, führt Flix’ jüngster Comic „Das Humboldt-Tier. Ein Marsupilami-Abenteuer“ vor Augen. Im Rückgriff auf den frankobelgischen Figurenkosmos von André Franquin erzählt der Comic deutsche Geschichte neu. Das geschieht an zwei Orten und auf zwei Zeitebenen, im südamerikanischen Dschungel zu Lebzeiten Alexander von Humboldts und im Berlin der frühen 1930er Jahre. Auf subtile Weise führt der Comic koloniale Ausbeutung und Judenverfolgung eng, ohne sie gleichzusetzen. Zugleich verbirgt sich in dem Klamauk, mit dem das „Humboldt-Tier“ genannte Marsupilami durch das Berliner Naturkundemuseum tobt, ein scharfsinniger Kommentar zur Institution Museum und seiner Repräsentations- und Mortifikationslogik. Auch sie stehen heute in der Kritik. Flix’ Comic ist ein Paradebeispiel für jenes multidirektionale Erinnern, das das German Historical Institute London gerade in seinem Bulletin von November 2022 unter den Titel „Memory Cultures 2.0: From Opferkonkurrenz to Solidarity“ gefasst hat. Auch die Marsupilami-Geschichte „Die Bestie“ von Frank Pé und Zidrou sowie die Spirou-Abenteuer „Operation Fledermaus“, „Die Leopardenfrau“ und „Der Meister der schwarzen Hostien“ von Olivier Schwartz und Yann bringen Nationalsozialismus und Kolonialismus zusammen. Beispiele für nicht-europäisches dekoloniales Erzählen wären die Comics von Sarnath Banerjee oder Marguerite Abouet und Clément Oubrerie.
Die Tagung lädt zu Vorträgen von max. 25 Minuten ein, die als Originalbeiträge in einem special issue einer Zeitschrift wie ‘Seminar: A Journal of Germanic Studies’ oder als Buch veröffentlicht werden.
Wir freuen uns über Abstracts bis 300 Wörter und einen kurzen CV bis zum 1.8.2023 an e.dreyfus@filmuniversitaet.de und stefan.boernchen@uni.lu