University of Kiel
Ursprünglich als medizinischer Terminus für eine pathologische Form des Heimwehs bei Soldaten eingeführt, beschreibt „Nostalgie“ heute gemeinhin eine romantisierende Rückwendung zu Vergangenem. Mal als individuelle Emotion, mal als gesellschaftlicher Trend, mal als ästhetische Kategorie diskutiert, changiert der Begriff zwischen Persönlichem und Kollektivem – nicht selten stellen Nostalgiediskurse dabei einen unmittelbaren Zusammenhang zu medialen Praktiken her. Private Fotografien und Videos fungieren seit langem als Speichermedien, die Erfahrungen in jeweils zeitgenössischen Repräsentationsformen ,konservieren‘ und retrospektiv betrachtet nostalgische Imaginationen über die Vergangenheit auslösen können (und sollen). Bedingt durch mediatisierte Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen sowie sich beschleunigende medientechnologische und -kulturelle Wandlungsprozesse, sind Medien aber längst nicht mehr nur Mittel, sondern zunehmend selbst die Objekte der Nostalgie.
Eine solche Mediennostalgie materialisiert sich z.B. in gezieltem Medienkonsum als Technik der Gefühlsregulation oder als soziales Ereignis: Filme und Serien werden gesehen, Games gespielt, Musik oder Hörspiele gehört, Comics oder Bücher gelesen, um nostalgische Emotionen verbunden mit der Erinnerung an die Erstrezeption hervorzurufen. Medien werden folglich als externale Trigger der Nostalgie funktionalisiert (Schiefer 2021, 19). Mediennostalgie weist damit über das konkrete Medienprodukt hinaus und eröffnet komplexe Resonanzräume, die mit dem biografischen oder generationalen Selbstbild verbunden sind: ein bestimmtes Kinoerlebnis, Nachmittage vor der Konsole mit der besten Freundin, das Warten auf eine bestimmte Serie im linearen TV-Programm usw.
Viele populäre Franchises der Gegenwart wirken, als würden sie geradezu mit Blick auf potentielle externale Nostalgie-Trigger hin produziert und vermarktet. Von Star Wars über das MCU und Harry Potter bis Barbie setzen Filmstudios strategisch und ,im Großen‘ auf etablierte Marken in der Produktion, ,im Kleinen‘ auf selbstreferenzielle Erzählstrategien im Umgang mit den (nostalgisch bedingten) Erwartungshaltungen ihrer Rezipient:innen (vgl. die verbreitete Rede vom „Fanservice“).
Der dominant digitalen Medienkultur der Gegenwart – manifest im Streaming, Onlinemedien, E-Readern u.v.m. – wird nicht selten die physisch-materielle Dimension „bedeutungsvolle[r] medienbezogene[r] Resonanzbeziehungen der Vergangenheit“ entgegengesetzt (Menke 2018, 20). Diese Materialität analoger Medientechnologien wie der VHS, LP, MC oder Analogfotografie wird z.B. gegenüber dem Streaming aufgewertet. Onlineplattformen fungieren in diesem Zusammenhang als paradoxe Orte mediennostalgischer Aushandlungsprozesse und Vergemeinschaftung, erkennbar sowohl im Bereich dezidierten Fandoms als auch anhand von Onlinevideotrends wie ,Teenager Then And Now‘-Clips. Mediennostalgie – so wird in vielen Phänomenen der Onlinekultur deutlich – ist auch nostalgizing, d.h. kommunikative Praxis und „etwas, das man [in und mit Medien] tut“ (Menke/Niemeyer 2019, 94). Zugleich sind Onlineplattformen im weitreichenden Sinne niedrigschwellige Archive und steigern die Präsenz und Verfügbarkeit historischer Medientexte im Alltag immens. Ihrem ursprünglichen dispositiven und historischen Kontext enthoben, dienen TV-Shows, Musikvideos oder Werbespots vergangener Dekaden auf YouTube der unterhaltsamen Vergegenwärtigung von Mediengeschichte.
Wir möchten nach Formen und Funktionen der Mediennostalgie sowie nach möglichen Erklärungen für ihre gegenwärtige Popularität fragen. Neben (A) medienkulturtheoretischen, – psychologischen und -soziologischen Perspektiven auf das Thema Mediennostalgie will sich die Tagung dem Phänomen dafür auch (B) materialgeleitet, d.h. medien- bzw. textanalytisch nähern: Es sollen literarische und audiovisuelle Erzählungen (Romane, Comics, Games, Streaming-Serien und Filme) oder Paratexte in den Blick genommen werden, in denen mediennostalgische Praktiken
in ästhetischer Hinsicht stilbildend sind oder diskursiv-thematisch im Zentrum stehen. Mediennostalgie ist in solchen ‚Texten‘ vielfach als Modus der Welt- und Selbsterfahrung rekonstruierbar, der (narrativ) auf eine spezifische Art und Weise von (bzw. in) den Texten oder audiovisuellen Medien inszeniert wird. Hierbei sind unseres Erachtens vor allem zwei Inszenierungsformen besonders relevant: 1.) Geschichten, die eine spezifische Ästhetik aus intertextuellen oder intermedialen Referenzen auf der Ebene der Darstellung ausprägen, um Rezipierenden (kollektive) mediennostalgische Erinnerungsräume zu erschließen. Entsprechende Referenzen und ästhetische Praktiken finden sich im Bereich der Literatur z.B. in Thomas Hettches Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste, Ernest Clines Ready Player One oder Cornelia Funkes Tintenwelt-Trilogie; im Bereich des (Retro-)Gamings z.B. in Cuphead; im Bereich des filmischen und seriellen Erzählens in Netflix-Produktionen wie Stranger Things und DO REVENGE, zudem in Franchise-Produktionen wie WandaVision aber auch Independent-Produktionen wie BRIGSBY BEAR. Zu fragen wäre hier insgesamt nach spezifischen Darstellungsstilen, Erzählhaltungen oder -strategien, die sich als ‚Formsprache‘ vergangener Jahrzehnte lesen lässt, aber auch nach Verfahren, die Mediennostalgie dadurch transportieren, dass sie selbstbezüglich die Tradition der eigenen medialen Form betonen. 2.) werden narrative Formen adressiert, in denen nostalgischer Medienkonsum zum Thema gemacht wird. In diesen Erzählungen – z.B. den Romanen Frank Goosens oder Josefine Rieks Serverland, in den Filmen BE KIND, REWIND oder LAST NIGHT IN SOHO – handeln Figuren gezielt mediennostalgisch, wobei danach zu fragen ist, welche Figurentypen, Handlungsorte sowie Raum- und Zeitkonstellationen an die jeweils spezifischen Repräsentationsformen dieser Emotion gebunden sind, wie die Erlebnisqualität nostalgischer Erfahrungen durch ästhetische und medienreflexive Momente ausgedrückt werden oder überhaupt (biografische und/oder kollektive) Vergangenheit konstruiert und auf Gegenwart bezogen wird.
Mit Blick auf die angesprochenen Fragestellungen gilt es in Einzelfall- oder Korpusanalysen nicht nur medienspezifische Erzählweisen von Mediennostalgie (im Sinne der Erzähltextanalyse, der Comic-, Game- oder Filmnarratologie) herauszuarbeiten, sondern auch danach zu fragen, inwiefern sich Tendenzen zu transmedialen narrativen Repräsentationsformen ausmachen lassen, die die unterschiedlichen medialen Formen miteinander teilen.
Thesen
- Medien fungieren als Nostalgietrigger (zufällig oder gezielt eingesetzt).
- Medien sind selbst Gegenstände nostalgischen Erinnerns und der Identitätsbildung.
- Als Gegenstände nostalgischen Erinnerns hat Mediennostalgie eine kollektive Dimension (prägen z.B. als populäre Erzeugnisse biogr. Erfahrungen einer Vielzahl von Menschen).
- Medien-Franchises sind geformt durch einen strategischen Umgang bzw. das Bedienen von Mediennostalgie.
- Medien sind Anlass zur Produktion neuer Nostalgie-)Medienformate.
- Medien arbeiten mit nostalgischen Codes (ggf. anderer Medien im Sinne einer Remediation).
- Medien generieren Imaginationen von Vergangenen (in Dekaden/als Stilgeschichte).
- Medien reflektieren und interpretieren den Zusammenhang von Medien und Nostalgie.
- Medien sind Speicher und Vermittler von Erfahrung, die nostalgisch erinnert werden kann, diese hat somit eine mediatisierte Dimension, die wiederum einen spez. kulturhist. Kontext aufweist.
Mögliche Fragestellungen (können die folgenden sein, sind aber nicht auf diese beschränkt)
- Wie wird Mediennostalgie in gegenwärtigen Medien verhandelt?
- Wie vermitteln Medien zwischen individuell-biografischem und kollektivem nostalgischen Erinnern?
- Wie lassen sich Phänomene nostalgischen Erinnerns (als Emotion/Kognition), nostalgischen Medienkonsums (als soziale Praxis) und nostalgischer Formen (als Ästhetik) begrifflich fassen, kategorisieren und zueinander ins Verhältnis setzen?
Gegenstandsfelder
- Film
- Literatur
- Games („Retrogaming“)
- Hörspiele
- Werbekampagnen (Mode u.v.m.)
- Onlineplattformen (Kunst, Foto, Video u.v.m.)
- Onlinediskurse (Imageboards, Fanforen u.v.m.)
- Comic
Abstracts und Tagung
Abstracts (ca. 500 Wörter) können bis spätestens zum 15. Februar 2024 unter dem Betreff „Mediennostalgie“ geschickt werden an mkoerber[at]ndl-medien.uni-kiel.de
Die Tagung ist geplant für den 19.09.2024 und 20.09.2024 in Kiel. Wir bemühen uns, um eine Finanzierung der Tagung, sodass Fahrt- und Übernachtungskosten übernommen werden
können; anderenfalls ist eine Hybrid-Veranstaltung vorgesehen.
Wir freuen uns auf Ihre Einreichungen, David Höwelkröger, Ingo Irsigler, Martha-Lotta Körber und Andreas Veits