Eckart Sackmann (Hg.): Deutsche Comicforschung 2012, Bd. 8, Hildesheim: comicplus+, 2011, 144 Seiten, ca. 400 Abbildungen in Farbe, € 39,00
Eckart Sackmann legt dieses Jahr zum achten Mal einen seiner Sammelbände mit durchweg einem runden Dutzend Studien zur deutschen Comicforschung vor. Im Vorwort trägt er sein Anliegen vor, mit solchen Studien die These zu bekräftigen, dass es eine unabhängige deutsche Comickultur schon vor 1945 gegeben habe (3). Sackmanns wertvolle Arbeit in der Aufbereitung dieser Kultur ist nicht nur in der Herausgeberschaft dieser kontinuierlich und ohne qualitativen Abbruch fortgeführten Reihe zu erkennen, sondern auch in seiner eigenen Forschung, die genau die Hälfte des Sammelbandes abdeckt. Der Sammelband folgt keinem übergeordneten Thema, sondern liefert in chronologischer Ordnung neue Forschungsbeiträge zur Bildergeschichte.
Der Band beginnt mit Helmut Kronthalers Analyse der Radierfolge „Ein Handschuh“ von Max Klinger. Kronthaler spricht die wesentlichen Punkte der Klinger-Forschung an und stellt sie in den Zusammenhang mit Klingers theoretischem Essay „Malerei und Zeichnung“.
Eckart Sackmann präsentiert in einem kurzen Artikel die Bildergeschichten, die Mitte des 19. Jahrhunderts zu Werbezwecken von der Fleischextrakt-Firma Liebig auf Sammelbildern, Reklamemarken und Ansichtskarten verbreitet wurden. Obwohl Sackmann sie künstlerisch als unbedeutend einstuft (20), sollen sie für die Comicforschung von Interesse sein, da sie den Anfang der Reklamekampagnen mit Sammelbildern darstellten (20).
In seinem kurzen zweiseitigen Artikel „Das amerikanische Abenteuer – zum zweiten“ greift Sackmann sodann ein Thema aus dem ersten (2005 erschienenen) Band der Deutschen Comicforschung wieder auf, indem er drei deutsche Kollegen Lyonel Feiningers vorstellt, die für die Chicago Sunday Tribune gezeichnet haben: Hans Horina, Karl Pommerhanz und Victor Schramm. Sackmann verweist auf Alfredo Castellis Gli autori tedeschi del Chicago Sunday Tribune (Neapel 2009) und hebt die Besonderheit Hans Horinas hervor, der in seinen amerikanischen Strips Sprechblasen verwendete (was er in Deutschland vermied) und mit seinen anderen Kollegen das Prinzip der Serie mit einem Stehenden Helden übernimmt, was für den deutschen Comic als revolutionär angesehen werden muss (24).
Harald Havas untersucht den deutschsprachigen Comic im Österreich der 1920er und 1930er Jahre am Beispiel des Comiczeichners Peter Eng, der in den USA gelernt hat und die Sprechblase importierte (29). Havas knüpft dabei an bereits in der Deutschen Comicforschung 2009 und 2010 erschienene Forschungsergebnisse an und beleuchtet Engs 40 Folgen umfassende Serie „Turl und Schurl“. Unter Engs ersten bekannten Arbeiten findet sich auch der vollkommen ausgereifte Sprechblasencomic „Verfehlte Empfehlung“, der als der älteste bekannte österreichische Sprechblasencomic gilt und mit seinen politischen und schlüpfrigen Inhalten die Leserschaft zunächst unter den Erwachsenen suchte (30). Havas spricht Eng in den „Turl und Schurl“-Blättern keinen besonders hohen künstlerischen Wert zu, betont dabei aber die Besonderheit Engs, von der ersten Seite der Serie an „das volle Zeichenrepertoire des US-Comic“ (32) zu benutzen. Engs Pionierleistung lag vor allem im Zeichentrick, so dass ihn Havas zu den bedeutendsten österreichischen Trickfilmern der 1920er Jahre zählt (33). Engs Selbstaussage, über 600 Trickfilme produziert zu haben, beurteilt Havas als großspurige Eigenwerbung (34); der Verlust der Filme hätte man aber auch mit der damals gängigen Methode der Wiederverwertung der Filmrollen erklären können. Interessant sind Engs theoretische Überlegungen zum Medium Trickfilm, das er als „Witzblatt für das Kino“ (34) sah.
Der fast 20seitige Beitrag, den bereits das Titelbild von Deutsche Comicforschung 2012 ankündigt, stammt erneut von Sackmann selbst und stellt den Zeichner Otto Schendel (1888–1943) vor. Sackmann betont Schendels anfängliche Ambitionslosigkeit, was eigene Ausdrucksmittel anbelangt, und erkennt ihn als von Wilhelm Busch geprägten, aber nicht an ihn heranreichenden Zeichner (41). Der Erste Weltkrieg machte insofern einen Einschnitt in der Karriere, als Schendel durch den wirtschaftlichen Aufschwung der 20er Jahre ein neues Feld für sich entdeckte: die humoristische Werbezeichnung. Schendel arbeitete von 1925 an für den Reifenhersteller Continental, zu dessen Archiv Sackmann aufgrund des Ablebens des Archivars keinen Zugang bekommen konnte. Ein weiteres Problem stellen die meist undatierten und nicht katalogisierten Werbeblätter dar, die auch nicht vollständig vorliegen. Sackmann beschreibt einige Continental-Werbefiguren und deren „Abenteuer“ und hebt vor allem die Textlastigkeit sowie den Gebrauch von Sprechblasen hervor, die Schendel zwar auch in reinen Sprechblasenstrips verwendet, die für ihn aber anscheinend keine endgültige Ausdruckweise gewesen seien (49), da er auch immer wieder auf Untertexte zurückgreift. Sackmann hebt als „vielleicht schönste, auf jeden Fall aber längste Bildergeschichte“ (50) Schendels „Meier ist durchgebrannt“, in 36 Folgen in Der lustige Sachse (1930/31) erschienen, hervor, indem er auf den Inhalt und das in ihm transportierte Weltbild der Menschen des Deutschen Reichs anfangs der 30er Jahre verweist. In einem kurzen Abschnitt spricht Sackmann noch Schendels Cover für Der lustige Sachse an, die Beispiele nationalsozialistischer Propaganda sind und eigentlich noch ausführlicher behandelt werden könnten. Etwas mehr erfährt der Leser dann in den Beobachtungen zu Schendels Politischer Satire in Versen und Bildern: Die heilige Plutokrazia, deren braune Tendenz angesprochen, aber dann „außer acht“ (54) gelassen wird (54), damit auf die Bezüge zu Wilhelm Buschs „Die fromme Helene“ und „Der heilige Antonius von Padua“ hingewiesen werden kann, die jedoch rein inhaltlich bleiben.
Ein weiterer Zeichner für Der lustige Sachse (bzw. vor 1929 Der gemütliche Sachse) ist Frank Behmak, dessen unglaublich eigenwillige künstlerische Qualität Gerd Lettkemann für den Sammelband untersucht hat. Lettkemann entwirft ein nachvollziehbares, sehr detailliertes und anspruchsvolles Profil des künstlerischen Stils von Behmak, von der selbstbewussten Signatur (57) über die Körperzeichnung bis hin zum persönlichen Ausdruck in den Zeichnungen. Wegen des Fehlens von Lebensdaten greift Lettkemann auf Hinweise in den Zeichnungen zurück, wie auf die Signatur „Frank Behmak – Paris“ unter einer Zeichnung mit einem (Liebes?-)Paar (57). Allerdings müsste auch auf das Künstlerische gerade dieser interessanten Zeichnung eingegangen werden, der Stil, der hier durchschlägt, ist ganz verwurzelt in der zeitgenössischen deutschen Malerei der Neuen Sachlichkeit. Lettkemann setzt den Schwerpunkt bei Behmaks Serie um den Stehenden Helden Tapsy. In den „leicht gedehnten, etwas gedrehten schlaksigen Figuren“ sollte allerdings nicht nur die Dynamik und Lebendigkeit (57) betont werden, sondern auch die damit verbundene Steigerung des humoristischen Moments (wie es bei französischen Comicserien wie Gaston Lagaffe weitergeführt wurde). Man hätte gern noch mehr von Behmaks ganzseitigen Einzelbildwitzen gesehen und gelesen, da sie in Perspektive, zeichnerischer Qualität und parodistischem Gespür herausstechen. Behmaks Einzelbildwitz „Ostereiersuche bei begeisterten Edgar Wallace-Lesern“ von 1933 (61) wäre einer Konfrontation mit typischen (filmischen, bzw. literarischen) Ausdrucksmitteln wert gewesen.
In gewohnt detailliert-historischer Manier stellt Sackmann mit einem Schwerpunkt auf biografischen Daten und der Suche nach möglichst umfassendem Werkverzeichnis die Arbeiten des Pressezeichners und Illustrators Gerhard Brinkmann (alias G. Bri) vor. Anstelle der steten Hinweise auf die An- bzw. Abwesenheit von Sprechblasen könnte auch bei Brinkmanns kurzen (‚stummen‘) Comicstrips eine eingehendere Bildanalyse von erheblichem Nutzen sein. Es wird zwar angedeutet, dass sich die künstlerische Handschrift während der Schaffenszeit des Zeichners geändert hat (77), jedoch wird dieser Tatbestand nicht weiter ausgeführt. Gerade bei den Kriegs- und Nachkriegs- Comics, die mit humoristischen Elementen spielen, sind Fragen nach der Kommentierung des Zeitgeschehens von großer Bedeutung für die Forschung.
Ebenso detailliert beschreibt Werner Reuß das Frühwerk des produktivsten humoristischen Comiczeichners der 50er Jahre: Bob Heinz. Bis auf den gewellten Sprechblasenrand und die „feuchte Aussprache“ von Heinz’ Figuren (93) wird nicht weiter auf künstlerische Besonderheiten eingegangen. Bob Heinz soll die deutsche Comiclandschaft „wie kaum ein anderer“ (93) geprägt haben, seine Arbeiten „ein Spiegel der Zeit, in der sie entstanden“ (93), sein, was allerdings nicht weiter erläutert wird.
Äußerst interessant und spannend liest sich Ralf Palandts Artikel über die Nick Knatterton-Adaption in der kroatischen Satire-Zeitschrift Kerempuh in den 50er Jahren. Zunächst wurden wohl Manfred Schmidts Originalgeschichten einfach abgezeichnet (Urheberrechtseinforderungen gab es nicht), dann aber an professionelle, meist unbekannte Zeichner weitergegeben. Der kroatische Zeichner Ico Voljevica war einer der bekannten Knatterton-Umsetzer und lässt auch kulturelles Zeitgeschehen seiner Heimat in die Krimi-Komödie mit einfließen (101).
Eine weitere Comic-Export-Geschichte erzählt Eckart Sackmann über Walter Lehnings Winnetou in Frankreich und Holland. Interessant sind die Beobachtungen zu den Unterschieden in den französischen Nachdrucken, die vor allem einen Qualitätsverlust der Zeichnungen aufweisen. Sackmanns Überlegungen zu den verwendeten Vorlagen und die Ausführungen zu den gebräuchlichen Methoden sind von großem Wert, um die historischen Zusammenhänge im Bereich des Nachdrucks zu verstehen.
Der DDR-Comic-Experte Guido Weißhahn beschäftigt sich mit den Dick Dickson-Comics der 60er Jahre in der Zeitschrift Frösi, deren Vorlage (Hörspiel), Umsetzung in Druck, Zeichnung und Layout. Vor allem Weißhahns Beobachtungen über die Veränderungen durch die (systemnahe) Redaktion sind von großer Bedeutung für das Verständnis der DDR-Comics.
In seinem Artikel zu DDR-Comics der Wende (1989/90) zeigt wieder Sackmann Beispiele deutscher Untergrund-Zeichner, indem er die Bemühungen Volker Handloiks beschreibt, DDR-Untergrund-Zeichner in dem von ihm herausgegebenen Buch „Leichtmetall – Comics in der DDR“ (in Anlehnung an „Schwermetall“) zu präsentieren. Sackmann gibt vor allem Persönlichkeiten wie Handloik und die Zeichner Schwarwel (Thomas Meitsch), Anke Feuchtenberger und Holger Fickelscherer selbst das Wort, deren Schilderungen die Vergangenheit lebendig werden lassen.
Die reichbebilderte Reihe Deutsche Comicforschung ist ein wichtiger Bestandteil der Aufarbeitung der deutschsprachigen Comics geworden und liefert eine Grundlage für weiterführende Bildanalysen. Die qualitativ hochwertigen Reproduktionen veranschaulichen nicht nur die Forschungsergebnisse, sondern offenbaren auch den großen Schatz der schwer zugänglichen und bisweilen nur durch den „wertvollsten Mitarbeiter“, den „Kollege[n] Zufall“ (4), entdeckten deutschen Comics. Ein wichtiges Desiderat ist und bleibt allerdings die genaue Bildanalyse ausgewählter und repräsentativer Bildfolgen und deren Einbettung in kunst- und gesellschaftshistorische Zusammenhänge. Gerade für ein Populärmedium wie den Comic ist es wichtig, den historischen und künstlerischen Gesamtkontext nicht aus den Augen zu verlieren.
Martha Zan, Köln