Die Redaktion der Gesellschaft für Comicforschung wünscht ihren Leser_Innen und Freund_Innen nachträglich noch einmal einen guten Jahresstart. Auch zu diesem Jahreswechsel findet man sie überall, die Jahresbestenlisten. Die ComFor möchte sich erneut beteiligen und hat ihre Mitglieder_Innen um ganz und gar subjektive Leseempfehlungen gebeten, die aus den vergangenen zwölf Monaten im Gedächtnis geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer. Hier also einige Notizen zum Comicjahr 2015:
Ole Frahm
Literaturwissenschaftler, Arbeitsstelle für Graphische Literatur (ArGL) Hamburg
Kus #23: Redrawing Stories from the Past
Zu diesem Band, das sei vorweg gewarnt, habe ich das Nachwort geschrieben. Weil die lettische, kleinformatige (A6), aber international vertriebene Comic-Zeitschrift aber wenig bekannt ist, erlaube ich mir dennoch hier den Hinweis. Der Band erscheint mir aus mindestens fünf Gründen lesenswert: 1. Weil er andere Perspektiven auf den Holocaust eröffnet – und auf das Verhältnis von Comic und Holocaust. 2. Weil die fünf Kurzgeschichten indirekt die seltsam selbstverständlich gewordene Notwendigkeit in Frage stellen, vom Holocaust als Graphic Novel zu erzählen. 3. Weil die fünf ZeichnerInnen sehr unterschiedliche ästhetische und narrative Entscheidungen getroffen haben. 4. Weil sie aus vier verschiedenen Ländern kommen: Paula Bulling and Max Baitinger aus Deutschland, Zosia Dzierżawska aus Polen, Vuc Palibrk aus Serbien und Mārtiņš Zutis aus Lettland und auch die den Diskurs interessant öffnet. 5. Paula Bulling an die vergessene Solidarität zwischen arabischen und jüdischen Franzosen erinnert. http://www.komikss.lv/
David G. Klein: The Golem’s Voice:
Diese Graphic Novel über den Holocaust wäre nicht der Rede wert, wenn sie nicht noch einmal auf den Punkt bringen würde, was seit siebzig Jahren viele Comics umtreibt, die geheime Verbindung zwischen dem Golem und den Comics, dem anorganischen Lehmwesen, das zugleich lebt und nicht lebt, nicht tot ist, aber auch nicht lebendig, und dem anorganischen, bedruckten Papier. Klein lässt wenig Klischees aus, die Geschichte lässt sich ohne weiteres als kitschig bezeichnen, aber wer, die oder der Comics gerne liest, würde das als Argument gegen einen Band verstehen wollen?
Ahndongshik: Lindbergh (8 Bände):
Lindbergh von Ahndonghik enthält alles, was das postmoderne Leser-Herz begehrt: eine Vielzahl von Charakteren, die weder gut noch böse sind; Figuren, die zugleich original wirken und zahllose Klischees zitieren; keine zentrale Erzählperspektive; die Gleichzeitigkeit verschiedener historischer Moden; eine Handlung aus noch mehr Versatzstücken: Ben Hur in den Lüften, Ritterromantik, Piratenabenteuer und moderne Kriegsführung, ein par force-Flug durch die Menschheitsgeschichte – kurzum ein völlig selbstreferentieller Kosmos, der gleichwohl einen entscheidenden bürgerlichen Mythos aufs Korn nimmt: die Beherrschung der Natur, ihre Maschinisierung. Und dies in interessanten Bildern und Verdichtungen, die daran erinnern, dass der Zeichenstift ganz andere Phantasien freizusetzen vermag als selbst das digitalisierte Filmbild.
Dietrich Grünewald
Kunsthistoriker, Emeritus Universität Koblenz-Landau, ehem. Vorsitzender der ComFor
Froissard & Le Roux: Humboldts letzte Reise, eine fantastische Geschichte in packenden und zugleich poetischen Bildern über die (fiktive) letzte Reise des großen Wissenschaftlers.
Ètienne Davadeau: Der schielende Hund – für alle, die Spaß an Kunst und Museen haben – eine amüsante Geschichte um und im Louvre.
Flurin von Salis: Der Mon Ventoux. Kein Comic im eigentlichen Sinne, eine Wort-Bild-Geschichte über den Berg in der Provence, der immer wieder die Fahrradfahrer anlockt – gerade in der etwas spröden Art der Zeichnung ein sehr poetisches Werk…
Und auf noch eine Bildgeschichte möchte ich verweisen, auch wenn sie bereits 2014 erschienen ist, aber wohl zu wenig Aufmerksamkeit bekommen hat:
Alessandro Sanna: Der Fluss.
Eine textfreie Geschichte: Jede Jahreszeit wird mit einem seitenfüllenden Bild eingeleitet, um dann über zahlreiche Seiten textfreie Episoden in Registern, i. d. R. in vier untereinander geordneten Panorama-Bildstreifen, zu präsentieren. In einer Reise den Fluss entlang verfolgen wir, wie das Hochwasser im Herbst über die Ufer tritt, im Winter Nebel und Schnee Fluss und Ufer beherrschen und im Stall ein Kälbchen geboren wird, wie im Frühling Hochzeit gefeiert wird mit Tanz und Feuerwerk und im Sommer ein Tiger aus dem Zirkus ausbricht, den ein mutiger Maler im Bild festhält. In wunderbaren, stimmungsvollen Aquarellen, in zarten wie kräftigen Farben, die die Jahreszeiten atmosphärisch aufgreifen, lässt uns Sanna das Leben am Fluss erleben. Das braucht keine Worte; Bildstreifen für Bildstreifen taucht der Betrachter in die gezeigte Stimmung wie in den erzählten Prozess ein und wird vom Beobachter zu Mitspieler, zum Radler auf dem Damm, zum Bootsführer, zum Fluggast im Fesselballon. Die Bildgeschichte ist eine lyrisch-visuelle Ballade, eine Hymne auf den Fluss, nicht nur auf Norditaliens Po, der Sanna inspirierte, sondern übertragbar eine Liebeserklärung an alle Natur.
Max Höllen
Kulturwissenschaft und Kulturmanagement an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg
Jakob Hinrichs: Hans Fallada – Der Trinker.
Scott McCloud beschreibt in seinem Lehrbuch Comics machen vier verschiedene Typen von Comic-Künster_innen: Klassizisten, Animisten, Formalisten und Ikonoklasten. Wenn solche Archetypen auch oft einer universalen Anwendbarkeit entbehren und mit der Zeit überdacht werden müssen, so kann man sie doch zur Analyse der Dimensionen Schönheit, Erzählung, Originalität und Authentizität verwenden, wobei man feststellen muss, dass Hans Fallada – Der Trinker von Jakob Hinrichs an allen vier Lagerfeuern seinen Platz findet: Die expressionistischen Illustrationen mit ihren ständig wechselenden Farbkombinationen und –kompositionen lassen den Grafik-Design-Handwerker erkennen, doch reizt dieser damit das Medium Comic bis an seine Grenzen aus und experimentiert grafisch mit Figurengestaltung, Seitenarchitektur und Paneleinteilung was das Zeug hält. Die Geschichte ist dabei genial verschränkt und so vielschichtig, dass man in der Mitte bei einem Buch in einem Buch in einem Buch angekommen ist, nur damit die Ebenen am Ende auf verblüffende Weise zusammenkrachen. Das Farbenspiel hilft bei der Orientierung, wobei die bunte Welt, die Hinrichs erschafft, nicht über Dreck und Elend von Drogensucht, Gefängnis und nationalsozialistischer Unterdrückung hinwegtäuschen kann. So bekommt sogar die deutsche Comic-Koryphäe und Zeitgenosse Hans Falladas e.o.plauen seine Hommage. Wer nüchtern an die Sache herangeht, wird durch die komplexe Erzählung, die aufreizende Farbsymbolik und die psychedelischen Zeichnungen bald betrunken sein von diesem künstlerischen Hochgenuss – also bitte nicht zu viel auf einmal zu Gemüte führen, sondern in kleinen Dosen konsumieren.
Stephan Packard
Medienkulturwissenschaftler, Vertretungsprofessor für Theorien und Kulturen des Populären an der Universität zu Köln
Can Yalçınkaya hat mit Resist Comics: Scenes from the Gezi Resistance eine bemerkenswerte, ästhetisch wie politisch widerständige Anthologie herausgegeben. Auf 110 Seiten finden sich fast 30 Comics: abstrakte und konkrete, Erzählungen und Impressionen, Einseiter und Fortsetzungsgeschichten, von bekannten Namen und pseudonymen sowie anonymen Künstler_innen. Alle beschäftigen sich mit der sog. „Occupy Gezi“-Bewegung in der Türkei im Sommer 2013. Am Protest gegen ein Bauprojekt im Gezi-Park in Istanbul hatte sich ein allgemeiner Widerstand gegen Erdogans Regierung gebildet; nach der gewaltsamen Räumung am 31. Mai wiederholten sich Proteste in anderen Städten. Die vorliegende Sammlung verhandelt die Möglichkeiten von Politik und Zeitgeschichte in Comics in verschiedensten Registern: Einige Beiträge sind unmittelbar engagierte Kunst, die zu spezifischem Handeln aufruft; andere reflektierten autobiographisch Erlebnisse bei den Protesten; etliche finden Bilder für die oft nur indirekt greifbare Hoffnung auf eine andere und anders politische Zukunft. Die Sammlung entstand auf sozialen Netzwerken; an #diren/#resist hängte sich #DirenCizgiRoman/#ResistComics an. Neben einer Kickstarter-finanzierten Druckausgabe hat sich die Anthologie nun vor allem digital über Comixology international verbreitet. „Gezi“ bedeutet Rundgang oder Spaziergang; die Comics in dieser spannenden Sammlung durchwandern persönliche Erinnerungen und politische Entwürfe und werfen ruhige oder aufgeregte Blicke in die jüngste Vergangenheit und auf mögliche Szenarien für die Zukunft.
Lukas R.A. Wilde
Medienwissenschaftler, Doktorand Universität Tübingen
Nick Sousanis‘ Unflattening
hat nun wahrlich einiges an Aufmerksamkeit erhalten im vergangenen Jahr – eine Dissertation in Form eines Comics, eingereicht und angenommen an der ältesten erziehungswissenschaftlichen Graduiertenschule der USA, dem Teachers College der Columbia University, das hatte einiges an Spektakelwert! Dieser hat meines Erachtens leider ein wenig überschattet, was für ein inspirierender Lesestoff Unflattening vor Allem geworden ist! Entlang Edwin A. Abbotts phantastischer Novelle Flatland (1884), in der ein Bewohner eines 2D-Universums Ausflüge in die erste, dritte und schließlich sogar vierte Dimension unternimmt, lädt Sousanis ebenfalls auf eine Reise an die Grenzen der Vorstellungskraft und des Denkens ein – und zwar programmatisch entlang des Zusammenspiels von Textlichkeit und Bildlichkeit. Dass er dabei ohne gezeichnete Erzählerfiguren à la McCloud, aber auch ganz ohne Darstellungen raumzeitlicher „Storyworlds“ auskommt, stellt nebenbei eine interessante Herausforderung an solche „Comic“-Definitionen dar, die allzu sehr dem Narrativen verhaftet sind. Auf fast jeder Doppelseite darf man sich neu von den diskursiven, metaphorischen und epistemischen Funktionen von „Bildern“ überraschen lassen, die weitaus mehr (und immer wieder anderes) können, als die Wahrnehmbarkeit von physischen Einzeldingen abzubilden. Ob Unflatting wissenschaftlich anschlussfähig sein mag, dahingestellt – trotz unzähliger Fußnoten und weiter kulturgeschichtlicher Überblicke bleibt es doch vor Allem ein Lektürespaß, den man schon alleine aus diesem Grund zur Hand nehmen sollte.
Drei Bonus-Empfehlungen von Max Höllen aus dem Kalenderjahr 2014:
Jörg Ulbert / Jörg Mailliet: „Gleisdreieck. Berlin 1981“
Bitte nicht noch eine Graphic Novel über deutsche Zeitgeschichte! Bitte nicht noch ein weiteres von Feuilletonisten, Pädagogen und Historikern gefeiertes Drama, das jedweden Unterhaltungswertes entbehrt! Und dann auch noch Berlin – na, das ist ja mal selten originell. »Gleisdreieck. Berlin 1981« musste sich diesen, meinen Vorbehalten stellen – und belehrte mich schon nach den ersten Seiten eines Besseren. Auf der Innenseite des Umschlages bekommt der Leser eine Playlist präsentiert. Es handelt sich dabei um eine Art Score, da die elf Songs sich in der Geschichte wiederfinden. »Berlin 1981« wird somit nicht nur visuell, sondern auch akustisch zum Leben erweckt. Ein synästhetisches Leseerlebnis, das Atmosphäre und Zeitgefühl schafft. Gute Recherche und Detailverliebtheit was Mode, Inventar und Schauplätze betrifft tun ihr Bestes dazu. Originale Demonstrationsplakate, Zeitungstitel, Reklame, Bierflaschen und das »MAD«-Magazin sind kleine Reminiszenzen, die das längere Verweilen auf den Comicseiten lohnenswert machen. Die acht Kapitel erzählen abwechselnd aus der Sicht von Protagonist, einem Undercover-Polizisten, und Antagonist, einem Terroristen aus der Hausbesetzer-Szene. Dabei besticht die packende Erzählung: An eine Lesepause ist da nicht zu denken, denn nach jedem Kapitel kommt eine abstrakt gehaltene Einführung des nächsten, die die Spannung konstant auf einem Level hält und die Hände an den Buchumschlag fesselt. Vor der realen, historischen Kulisse entfaltet sich eine Agentengeschichte, bei der niemand alle Informationen besitzt – der Undercover-Polizist nicht, sein Verbindungsmann nicht, der Terrorist nicht und auch der Leser nicht. Dieser muss sich die Umstände aus den beiden Perspektiven, die nur durch wenige Personen und den Schauplatz vernetzt sind, zusammenpuzzeln. Alle Teile wird er trotzdem niemals finden.
Jörg Maillet benutzt weder für Panelränder noch für Gebäudezeichnungen ein Lineal, seine dünnen Outlines sind wackelig und geben dem Comic eine skizzenhafte, doch bei Weitem nicht dilettantische Anmutung. Die Stimmung wird durch die Kolorierung hergestellt, bei der die Farben dreckig, meist düster und sehr gut aufeinander abgestimmt sind. Nur manchmal brechen bunte Nuancen wie Sonnenstrahlen aus der Palette, welche die schönen Momente im Revoluzzer-Milieu zur Geltung bringen. Hin und wieder bekommt man ein Split-Panel zu Gesicht, was die Herzen von Comicexperten und Scott-McLoud-Jüngern höher schlagen lassen wird.
Jan Soeken – FRiENDS
Wenn ich hin und wieder einen Comic zeichne, vermeide ich es tunlichst, vor dem Scannen noch Rückstände der Bleistiftvorzeichnung zu hinterlassen. Jede der grauen Linien wird akribisch wegradiert (was nicht selten das Papier zerreißt). So lernt man es in den gängigen Lehrbüchern für analoges Comiczeichnen. Jan Soeken macht sich nichts aus derlei Pedanterie und erzielt damit eine charakteristische ästhetische Wirkung sowie wirkungsvolle Bewegungs-Effekte. Den komischen Charakteren fehlt der Feinschliff keineswegs. Sie sind die Hauptfiguren einer skurrilen Geschichte über die beiden Ku-Klux-Klan-Aspiranten Hermann und Thomas, die während einer verzerrten Heldenreise zum ersten Kennenlern-Treffen in »Schwulitäten« geraten. Würden sich die beiden Jungs nicht gerade zur Aufnahme in einen antisemitischen, rassistischen Geheimbund bereitmachen, könnte man sie fast sympathisch finden: So liebevoll und authentisch sind die Dialoge geschrieben. Auf diese Weise gelingt dem Comic nebenbei ein sarkastischer Seitenhieb auf die kurz nach seinem Erscheinen gegründeten ausländerfeindlichen Gemeinschaften besorgter Bürger, die Menschen sind wie du und ich bei gleichzeitiger Radikalität. Neben dieser Karikatur kann man das Werk dem Titel getreu als eine Ode an die (Männer-)Freundschaft lesen. Die ideologischen Beweggründe der Zipfelmützenträger treten in der Regel hinter deren Unvermögen, zwischenmenschliche Konflikte ordentlich zu bewältigen, gegenseitige Unterstützung zu leisten und ehrlich mit dem Gegenüber umzugehen, zurück. Die vom Forstamt Baden-Württemberg kontrollierte Wildnis wird dies auf eine Bewährungsprobe stellen.
Robert Mühlich / Bastian Baier: Mister Origami
Philipp Krautstengel, von Statur eher ein Hokkaido-Kürbis, möchte bei dem alten Kampfsportmeister Origami Karate lernen. Diese traditionelle Erzählstruktur ist Grundlage für eine komische Rahmenhandlung mit allerhand skurrilen, episodischen Rückblenden. Dem ambitionierten Schüler geht es nicht um persönliche Rache, edle Prinzipien oder die Rettung einer Prinzessin: Er möchte in die Fußstapfen der Ninja-Turtles treten und seiner Angebeteten imponieren. Die Karatestunden werden allerdings weniger zum Kampftraining, als zur Kontemplation des in die Jahre gekommenen Kampfprofis genutzt.
Das Artwork vereint Elemente aus Cartoon und Comic: Ein präziser Strich und eine flächige, harmonische Kolorierung lassen liebenswerte, originelle Figuren vor schlichten Hintergründen entstehen. Dialog- und Situationskomik wird durch einen intelligent konstruierten Panel-Rhythmus verstärkt. Ab und zu beweisen die beiden Künstler Mühlich und Baier ein Geschick für rasante Aktion-Szenen, die aus dem vergnüglichen Rahmen herausbrechen.
Mit seinen vielen intertextuellen Anspielungen auf Kampf-, Aktion- und Trickfilme, Star Wars und Stephen King ist der Comic eine spaßige Abwechslung zu so manch ernsthafter Thematik. Und wenn auch das Ende einer gewissen Tragik nicht entbehrt, so muss man doch lauthals lachen.