Ein Gastbeitrag von Matthias Harbeck
Populäre Medienformen wie Comics in ihrer ganzen Vielfalt (aber z.B. auch Computer- und Videospiele oder TV-Serien) wurden lange Zeit nicht nur in der Erwerbungspolitik wissenschaftlicher Bibliotheken vernachlässigt, sondern fanden in der Folge auch kaum Berücksichtigung in den Aufstellungssystematiken der Freihandbibliotheken (also den thematischen Bereichen nach denen die Bücher in den Regalen aufgestellt werden). Wie man an den wachsenden Mitgliederzahlen der Gesellschaft für Comicforschung und der steigenden Zahl Publikationen zum Thema sehen kann, haben sich in den letzen 30 Jahren die wissenschaftlichen Paradigmen geändert, es hat unzweifelhaft eine verstärkte akademische Auseinandersetzung mit derartigen populären Materialien eingesetzt und mittlerweile haben auch endlich die wissenschaftlichen Bibliotheken begonnen, Comics und vor allem die Forschung zu ihnen zu sammeln. Einige größere Sammlungen sind so bereits entstanden oder im Entstehen begriffen (siehe „Comic-Bibliotheken in Deutschland“ und „Bibliothekenrundschau“; außerdem „Superhelden an der Staatsbibliothek“).
Klassifikatorisch, d.h. durch ihre Themenzuordnungen in Aufstellungssystematiken, haben die Bibliotheken allerdings mit dieser Entwicklung nicht Schritt gehalten: In der am weitesten im deutschsprachigen Raum verbreiteten wissenschaftlichen Aufstellungssystematik, der Regensburger Verbundklassifikation (RVK), fanden sich bis zum Frühjahr 2016 abgesehen von kleineren Anpassungen bei der Japanologie lediglich Einzelstellen in einzelnen Fächern, wo man Comics und ihre Sekundärliteratur bündeln kann. Diese so genannten Systemstellen reichen weder aus, um Bibliotheken mit entsprechenden Beständen und Schwerpunkten eine differenzierte Aufstellung zu ermöglichen, noch lassen sich mit ihnen Inhalte und formale Unterschiede von Comics und der Literatur über sie darstellen und für das Informationsretrieval in digitalen Katalogen nutzen. Comicforscher_innen müssen sich mühsam ihre Literatur an verschiedenen Stellen der Bibliotheken zusammensuchen.
Um diese ungünstige Situation zu beheben hatte die Bibliothekarin Dr. Angelika Steinmaus-Pollak von der Universitätsbibliothek Regensburg bereits 2013 angeregt, einen differenzierteren Systemabschnitt in der RVK für Comics und Comicforschung zu schaffen. Gemeinsam mit Comicforscher und Bibliothekar Matthias Harbeck von der Humboldt-Universität zu Berlin und Sacherschließungsspezialist Michael Franke-Maier von der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin wurde dann in einem langwierigen Abstimmungsprozess eine Systematik erarbeitet, die im Bereich „A – Allgemeines“ der Systematik und dort im Untergebiet „AP – Medien- und Kommunikationswissenschaften, Kommunikationsdesign“ verortet ist: „AP 88500 – AP 89999 Comics und Comicforschung“. In diesem Prozess wurde auch das Feedback der Comfor eingeholt und in Teilen eingearbeitet. Sie orientiert sich im Aufbau an der auch unter AP eingeordneten Filmwissenschaft, allerdings kombiniert mit einem Bereich für Primärliteratur, der ein sehr differenziertes Länderspektrum bietet. Diese Lösung war ein Kompromiss aus dem Bestreben der Regensburger Verantwortlichen keine stark abweichende Insellösung zu schaffen und dem Wunsch der Berliner Kollegen eine reduzierte deutsch- und eurozentrierte Regionalaufteilung zu vermeiden.
Der jetzt seit Mitte Juni freigeschaltete RVK-Systemabschnitt Comics und Comicforschung soll das grundsätzliche Desiderat einer differenzierten Aufstellungsmöglichkeit und der Trennung von Primär- und Sekundärliteratur beheben und denjenigen Bibliotheken, die entsprechenden Bedarf sehen und haben, eine Möglichkeit bieten ihre Bestände adäquat abzubilden. Natürlich bleiben auch bei diesem Ansatz offene Punkte und Dinge, die aus Comicforschungssicht auch anders gelöst hätten werden können: Bildet man stilistisch-kulturelle Unterschiede wie z.B. partiell noch zwischen Manga und Comic (bspw. von den gängigen Publikationsformaten) ab? Lässt man transnationale Verlagsproduktionen (z.B. Disney, Marvel) beieinander? In beiden Fällen haben sich die Autor_innen aus pragmatischen Gründen dagegen entschieden: Auch Bibliothekar_innen, die keine Comicexpertise besitzen, sollen ohne große Recherche Primärliteratur bearbeiten können. Hierfür ist das Produktionsland als maßgebliche Orientierung praktikabel. Entscheiden muss sich die jeweilige Bibliothek nur noch, ob sie Übersetzungen beim Original oder im herauskommenden Land aufstellen will, diese Information ist aber im Regelfall in den Comics enthalten. Ein weiteres Entscheidungsfeld ist die Frage, ob bei abgeschlossenen Werken von zwei Personen nach Künstler_in oder Autor_in aufgestellt wird. Auch hier muss die jeweilige Bibliothek eine Grundsatzentscheidung fällen.
Auch wenn nicht allen Comicforscher_innen alle Systemstellen sinnvoll oder adäquat benannt vorkommen mögen und die oben genannten Fragen diskutiert werden können – das wichtige Ziel einer Verankerung der Comicforschung als offizieller und gut sichtbarer und ausdifferenzierter Bereich in einer etablierten und weit verbreiteten wissenschaftlichen Bibliotheksklassifikation/Aufstellungssystematik ist erreicht und stellt einerseits einen Meilenstein auf dem Weg zur fortschreitenden Institutionalisierung der Comicforschung und andererseits schlichtweg eine Arbeitserleichterung für Bibliothekar_innen und Bibliotheksbenutzer_innen die mit Comicbeständen arbeiten dar.
Weitere Literatur zum Thema:
– Thomas R.: „Die Comicwissenschaft in der Regensburger Verbundklassifikation“, in: Neunte Kunst, 20. Juni 2016.
– Matthias Harbeck und Michael Franke-Maier: „Superman = Persepolis = Naruto? Herausforderungen und Probleme der formalen und inhaltlichen Vielfalt von Comics und Comicforschung für die RVK“, 2016 auf: BIB Opus Publikationsserver (zit. 23.07.2016, publ. 15.02.2016).