Universität Leipzig
Mit dem Begriff des ‚Orientalismus‘ hat Edward W. Said 1978 einen Terminus in den akademischen Diskurs eingebracht, der seitdem zum Schlüsselbegriff imperialismus- und kolonialismuskritischer Debatten geworden ist und insbesondere den Post Colonial Studies sowie einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft neue Perspektiven eröffnet hat. Laut Said gibt es ‚den‘ Orient nicht. Vielmehr muss dieser als ein Konstrukt des Westens verstanden werden, das sich in Bildern und Texten seit dem 18. Jahrhundert verfestigt hat. Saids Kernthese, dass orientalistische Diskurse den Orient überhaupt erst produziert und dabei als das ‚Andere‘ Europas im öffentlichen Bewusstsein verankert haben, erscheint heute aktueller und diskussionswürdiger denn je.
Andrea Polaschegg hat demgegenüber 2005 in kritischer Ergänzung zu Said das Konzept eines ‚anderen Orientalismus‘ entwickelt. Obwohl Saids Konzeption mit universalistischem Anspruch auftritt, konzentrieren sich seine Analysen doch fast ausschließlich auf die englisch- und französischsprachige Literatur des kolonialen Zeitalters, das in der deutschen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts keine Entsprechung findet. In der ‚deutsch-morgenländischen Imagination‘ von Autoren wie Wieland, Herder, Voss, Hammer-Purgstall, Goethe, Platen und Rückert werden dagegen nicht-imperialistische Modelle der Übersetzung und produktiven Adaption nicht-europäischer Texte und der verstehenden Auseinandersetzung mit einem in seiner Andersheit anerkannten Orient entwickelt. Orientreisende wie Fürst Pückler oder Isabelle Eberhardt bereisen im 19. Jahrhundert monate- oder sogar jahrelang afrikanische und arabische Ländern und sind dabei mit den realen Erfahrungen eines Lebens in diesen Regionen konfrontiert. Zugleich werden die Orient-Imaginationen in der fiktionalen Literatur immer weiter gesponnen.
Heute finden sich Elemente positiver Orient-Imaginationen immer noch etwa in der Reisewerbung von Ländern wie Marokko oder Jordanien, zum Teil auch den Golf-Staaten, also von nicht von Krieg und Bürgerkrieg heimgesuchten, meist monarchisch regierten Ländern. Dem stehen die grauenvollen Bilder und Erfahrungen der vom Bürgerkrieg heimgesuchten und zum großen Teil zerstörten Regionen gegenüber. Ist damit der ‚andere Orientalismus‘ zum nur noch ideologischen Trugbild geworden, und sollte er deswegen durch andere, realistischere Weltbilder ersetzt werden? Oder kann der ‚andere Orientalismus‘ gerade auch in der heutigen Situation dazu beitragen, Selbst- und Fremdbilder eines besseren, ‚anderen Orients‘ zu entwerfen, der für alle in der Region Lebenden wie für Europäerinnen und Europäer ein attraktives nicht-europäisches Kulturmodell darstellt?
In den vergangenen Jahren hat sich die Diskussion auch auf Ausprägungen so genannter neo-orientalistischer Diskurse konzentriert. Damit werden vor allem islamophobe Tendenzen bezeichnet, die seit 9/11 akut geworden sind und mit einer pauschalen Gleichsetzung von Islam und Gewaltbereitschaft, Terrorismus, Frauenfeindlichkeit und Rückständigkeit einhergehen. Eng damit verbunden ist die Vorstellung einer ‚verpassten‘ Aufklärung der arabischen Welt und eines damit einhergehenden fehlenden Anschlusses an die Moderne, wobei diese Moderne als säkular und fortschrittlich, vor allem aber als westlich gedacht wird.
An diese Problemsituation schließen sich weitere Herausforderungen an. Sie betreffen zum einen die Struktur des künstlerischen und literarischen Felds der Gegenwart und zum anderen die Aufgabe, die einer modernen, interdisziplinären und interkulturellen Geisteswissenschaft zukommt: Welche Rolle spielen sowohl europäische als auch arabische Künstlerinnen und Künstler sowie Autorinnen und Autoren bei der Reformulierung alter und neuer Orientalismen? Und wie kann der kultur- und literaturwissenschaftliche Austausch zwischen arabischen und deutschen Forscherinnen und Forschern zur kritischen Auseinandersetzung beitragen?
Alle diese Fragestellungen sind Gegenstand einer internationalen, vom Deutschen Akademischen Austauschdienst geförderten Fachkonferenz, die unter dem Titel Orientalismus heute. Perspektiven arabisch-deutscher Literatur- und Kulturwissenschaft findet vom 25. bis 27. Oktober 2018 am Institut für Germanistik der Universität Leipzig stattfindet. Ziel ist es, deutsche und andere europäische sowie arabische Forscherinnen und Forscher auf einer breiten literatur- und kulturwissenschaftlichen Basis zusammenzubringen und dabei vor allem auch jüngeren Wissenschaftlern und Wissenschaftlern die Möglichkeit zur Vernetzung zu bieten.
Neben öffentlichen Keynote-Lectures, in denen eingeladene Expertinnen und Experten zum Thema ‚Orientalismus‘ sprechen, umfasst die Veranstaltung zwei weitere Präsentationsformate:
- Öffentliche Fachvorträge zum Thema ‚Orientalismus heute‘
- Interne Projektpräsentationen (Abschlussarbeiten, Dissertationsprojekte), die in einem ‚Forum‘ gemeinsam besprochen werden
- Ferner wird eine Reading Session angeboten, in der die Teilnehmenden zusammen mit einem arabisch-deutschen Autor zeitgenössische literarische Texte zum Thema ‚arabisch-deutscher Kulturkontakt‘ lesen und besprechen.
Die Tagungssprache der öffentlichen Fachvorträge ist deutsch. Projektpräsentationen im internen Forum sind in deutscher oder englischer Sprache möglich.
Wir möchten Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler, insbesondere auch aus dem arabischen Raum, die zu einem interkulturellen Thema arbeiten, ermutigen, sich mit einer Projektpräsentation (Abschlussarbeit, Dissertationsprojekt) für das Nachwuchsforum zu bewerben. Die vorgestellten Projekte müssen nicht zwingend dem Rahmenthema ‚Orientalismus heute‘ zugeordnet sein.
Ferner freuen wir uns über Angebote für öffentliche Fachvorträge zum Thema ‚Orientalismus heute‘. Folgende Fragestellungen sind in dieser Hinsicht vorstellbar:
- Wie unterscheiden sich die europäische und arabische Rezeption von Saids Orientalismus-Begriff?
- Welche Anschlüsse bietet Saids Orientalismus-Begriff für die Diskussion aktueller Repräsentationen des Orients, beispielsweise mit Blick auf popkulturelle Phänomene und das breite trans- und crossmediale Spektrum an Darstellungsmöglichkeiten? Zu denken wäre neben Bildender Kunst, Fotografie und Literatur auch an Theater, Film, Comic, Karikatur, Mode, Performance, Comedy, Popmusik sowie die verschiedenen Formate der Neuen Medien (Youtube, Blogs, Videospiele, Wikipedia) oder der sozialen Netzwerke (Facebook, Twitter, Instagram etc.).
- In welchem Verhältnis stehen klassische orientalistische und neo-orientalistische Diskurse zueinander?
- Welche Männer- und Frauenbilder sind mit einem ‚Orientalismus heute‘ verbunden? Wo knüpfen diesen an tradierte Orientbilder an, wo unterscheiden sie sich davon?
- Während sich der europäische Orientalismus in Literatur und Bildender Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts unter anderem durch die Exotisierung und Romantisierung eines als weit entfernt imaginierten arabischen Raums auszeichnete, haben sowohl die aggressive islamistische Terrorpropaganda des IS als auch das Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen in ganz Europa zu neuen Stigmatisierungen beigetragen. Ängste vor ‚Parallelgesellschaften‘ und vor Überfremdung im eigenen Land haben zu einer neuen Vorstellung vom Feind im Inneren des eigenen Landes geführt. Inwiefern können zeitgenössische rassistische Stereotypisierungen noch zureichend mit dem Begriff des ‚Orientalismus‘ beschrieben werden? Haben wir es vielleicht schon mit Diskursen des ‚Neo-Orientalismus‘ zu tun?
- Wie gehen arabische Künstlerinnen und Künstler, Autorinnen und Autoren sowie andere Kulturschaffende selbst mit (neo-)orientalistischen Diskursen um? Wo lassen sich affirmative, wo subversive Strategien ausmachen?
- Welche Funktion kommt einem ‚anderen‘, positiven Orientalismus im interkulturellen Austausch heute zu? Welche Rolle kann er bei der Reformulierung von Stereotypen und bei der Etablierung von Gegenbildern spielen?
Wir laden arabische, deutsche und andere europäische Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler aus den Fächern Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft, Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte, Philosophie, Arabistik und Medienwissenschaft dazu ein, sich für die Konferenz zu bewerben.
Ihre Beitragsangebote (für das Forum oder für einen Fachvortrag) umfassen ein Exposé mit Titel (ca. 300 Wörter) und eine Kurzbiografie.
Die Konferenz hält einige Plätze für arabische Teilnehmende bereit, die aktiv an den Diskussionen und der Reading Session teilnehmen, aber keinen Vortrag und keine Projektpräsentation beitragen möchten. In diesem Fall bitten wir um eine Bewerbung mit Motivationsschreiben.
Die Fahrt- und Reisekosten der angenommenen Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden erstattet.
Bitte richten Sie Ihre Unterlagen bis zum 31. Mai 2018 an die folgende E-Mail-Adresse: stephanie.bremerich@uni-leipzig.de.
Organisation: Stephanie Bremerich, Dieter Burdorf, Abdalla Eldimagh (Universität Leipzig)