Leseempfehlungen

ComFor-Leseempfehlungen 2023

Auch in diesem Jahr wünscht die Redaktion und der Vorstand der Gesellschaft für Comicforschung all ihren Leser_innen  und Freund_innen einen guten Start ins neue Jahr 2024 und präsentiert zu diesem Anlass wieder aktuelle Leseempfehlungen von Comicforscher_innen, die wir zum Jahresabschluss gesammelt haben. (Die Leseempfehlungen der letzten Jahre finden sich hier.) Viele unserer Mitglieder haben uns erneut ganz subjektive Lektüretipps geschickt, die aus den vergangenen zwölf Monaten im Gedächtnis geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer. Darunter haben sich auch ein, zwei Titel eingeschlichen, die bereits zuvor publiziert worden sind, aber in diesem Jahr nochmal besonders im Gedächtnis geblieben sind.

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Aleta-Amirée von Holzen

Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM

Rina Jost: Weg

WegIn ihrem beeindruckenden Graphic-Novel-Debüt lässt die Rina Jost ihre Protagonistin eine fantastische Reise erleben, die offen als Metapher steht für die Frage, wie man mit der Depression eines geliebten Menschen umgehen kann. Die Schweizer Künstlerin konnte eigene Erfahrungen in die Fiktion einfliessen lassen und hat die komplexe Thematik kreativ und einprägsam, doch stets zugänglich umgesetzt. Am Anfang wirkt die Redensart «in einer Depression versinken» sozusagen buchstäblich: Malins Schwester Sibyl mutiert von einem Deckenberg zu einem Felsen und versinkt durch ihre Matratze. Malin taucht hinterher und landet in fantastischen Gefilden. Hier versucht sie, Sybil zu finden – diese ist jedoch stets schon weitergegangen. Doch hat Malin zumindest in Dackel Wilma eine treue Begleiterin, während sie diese surreale Welt durchstreift und auf Figuren trifft, die oft mythologische Anspielungen verkörpern. Für den wohl eindrücklichsten Schreckensmoment sorgen die schwarzen Raben, die Malins Angst verkörpern, selbst an einer Depression zu erkranken. Schliesslich muss sie erkennen, dass sie ihrer Schwester eigentlich nicht helfen kann und jeder seinen Weg selber finden muss. Malins Reise zieht einen durch die sympathische Hauptfigur, die fantasievollen Stationen und allem voran ihrer Bildmächtigkeit in ihren Bann. Die Texte dazu sind knapp formuliert, und so erhält die Geschichte eine erzählerische Leichtfüssigkeit, die aber die Gewichtigkeit des Themas nicht untergräbt – womit «Weg» durchaus auch schon eine kindlich-jugendliche Leserschaft anspricht.

Flore Vesco und Kerascoët, aus dem Französischen von Ulrich Profröck: Mit Mantel und Worten

Mit Mantel und Worten«Majestät, ihr seid noch bezaubernder als eine Espalüne!» Mit diesem extravaganten Kompliment sichert sich Serine, die Tochter eines verarmten Landadeligen, im barocken Frankreich überraschend eine Stellung als Hofdame der Königin. Obwohl niemand weiss, was das von Serine spontan erfundene Wort bezeichnet, wird es sofort der Hit im höfischen Getue. Trotz der Gunst der launischen Königin erkennt Serine bald, dass sich hinter den Oberflächlichkeiten des Hoflebens handfeste Skrupellosigkeiten verbergen. Doch sie manövriert sich so unbekümmert wie geschickt durch die höfischen Intrigen, bis sie ihre Stellung verliert und in den Fluss gestossen wird. Da beschliesst Serine, dass der Spass nun vorbei ist – und kehrt im Kostüm eines Hofnarren ins Schloss zurück. In dieser Rolle läuft sie zu Hochform auf und gewinnt die Gunst des alten Königs, während sie – unterstützt nur vom Henkerlehrling – herauszufinden versucht, wer dem König nach dem Leben trachtet. Die Literaturadaption präsentiert Serines Abenteuer in kleinteiligen Panels, die aber vom Schwung der wenigen Striche leben, die Serines Unbeschwertheit und ihre soziale und körperliche Agilität abbilden. Viele sprachspielerische Elemente sind immer wieder kreativ ins Bild integriert. Die Lächerlichkeit der Höflinge wird mit viel Augenzwinkern ausgestellt – umso mehr ist Serine mit ihrer Offenheit und Spontanität eine so liebenswerte wie clevere Heldin. Auch wenn sie in der Komödie und im Spielerischen verhaftet bleibt, ist Serine eine emanzipierte Version von Mantel-und-Degen-Helden à la Scaramouche, womit das zurzeit eher wenig produktive Genre hier eine lesenswerte Bereicherung erhält.

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Dietrich Grünewald

Kunstdidaktiker, Emeritus Universität Koblenz-Landau, ehem. 1. Vorsitzender der ComFor

Sid Sharp, aus dem Englischen von Alexandra Rak: Der Wolfspelz

Der WolfspelzDas Buch ist ein Erstlingswerk – kommt aber routiniert und sehr gelungen daher. Wie der Verlag vermuten lässt: ein Bilderbuch für jüngere Kinder – und eine höchst amüsante, lesens- und sehwürdige Bildgeschichte für alle, die in Doppelbildern, Einzelbildern und zwei, drei oder vier Bildern auf einer Seite erzählt, stellenweise mit integriertem kurzen Erzähltext, mit Sprechblasen, aber bildmächtig auch mal ganz ohne Text. Im Wald, düster, angsterregend, spielt die Parabel; entsprechend betont die Farbgebung mit meist schwarz hinterlegtem Grund die Stimmung. Auf den ersten Blick wirken die aquarellierten Zeichnungen ein wenig ungelenk, sehr zeichenhaft und flach, die Akteure z. T. wie Schablonenfiguren. Aber man merkt schnell, dass diese einfache und unmittelbar ansprechende Bildsprache der Thematik wie der intendierten Zielgruppe genau entspricht. Man sieht sich ein, identifiziert sich, spielt mit, fühlt mit, wenn Bellwidder sein Morgenbad genießt, bis weit in den Morgen tanzt, und dann ängstlich im Wald bei der Suche nach Beeren sich beim leisesten Knacken das Schlimmste vorstellt. Angst hat Bellwidder vor Wölfen, denn Bellwidder ist ein Schaft. Doch bei aller Ängstlichkeit: Er lässt sich nicht unterkriegen. Er schneidert sich ein Wolfskostüm, dreht das bekannte Sprichwort herum und begibt sich – nun selbst ganz in der Wolfsrolle – mutig ins Walddickicht. Und Bellwidder trifft tatsächlich auf drei Wölfe, freundet sich mit ihnen an – und dann beginnt sein Wolfspelz Fäden zu verlieren, wird aufgezupft und enthüllt schließlich das Schaf. Der überraschende Clou der Geschichte, der auch Kinder wirkmächtig zum übertragenden Weiterdenken anregt, erweist sich, als Bellwider ergeben die Augen schließt und darauf wartet, von den Wölfe gefressen zu werden: Auch die drei Wölfe tragen nur Kostüme, entpuppen sich als Huhn, Hirsch und Ziege… Der Schluss ist programmatisch symbolisch: Bellwidder lädt die neuen Freunde zu sich ein – und zieht die Vorhänge auf: „Ich möchte hier nur ein wenig Licht hereinlassen.“

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Hanspeter Reiter

Comicoskop-Redakteur

Jan Novak / Jaromir99: Čáslavská

ČáslavskáDiese ausgesprochen farbenfrohe Bildgeschichte von 176 Seiten zeichnet das Leben der berühmten tschechischen Kunstturnerin Věra Čáslavská nach. Sie war eine außergewöhnliche Frau, die bei Olympischen Spielen insgesamt sieben Gold- und vier Silbermedaillen gewann. Sie war eine Frau, die sich nicht verbiegen ließ und für ihre Überzeugung kämpfte. Dieser Band würdigt diese Frau, die sich nicht unterkriegen ließ. Die Farben sind flächig eingesetzt und variieren mit den Erzähl-Strängen. Die Panels sehr variabel, mal sechs, mal vier, mal drei oder auch zwei, dazu ganz- und doppelseitige Bilder (meist angeschnitten), teils mit ergänzenden Auszügen als Kreisflächen. Ebenso flexibel sind Sprechblasen eingesetzt, dazu kommen erläuternde Fußzeilen-Texte und integrierte Kästen. Besonders interessant sind farblich abgesetzte Schattenwürfe bei Gesichtern, während sie in anderen Darstellungen nur in einer Art Ligne-Claire-Stil gestaltet sind. Nun, viele Seiten erinnern gar an PopArt, was Comics als Neunte Kunst verdeutlicht! Ein Kunstwerk mit gestaltetem Vorsatz. Interessant zudem für alle Turn-Interessierten, sind doch vielerlei der komplizierten Übungen an diversen Geräten sequenziell illustriert, etwa Stufenbarren oder Boden… Schön, dass diese exzellente Graphic-Novel nun auf Deutsch verfügbar ist, nachdem ich sie im Rahmen des Münchner Comic-Festivals schon mal im tschechischen Original hatte durchblättern können, beim Tschechischen Zentrum München, Programm siehe https://munich.czechcentres.cz/de.

Käthe Leipold: Die vergessene Hälfte

Die vergessene Hälfte… ist natürlich ein feines Wortspiel zur „besseren Hälfte“, was im Übrigen hier bei vielen der vorgestellten Ehefrauen absolut zutrifft – nur waren sie quasi zur falschen Zeit geboren und wurden so untergebuttert: Wie lebte es sich mit Bach, Mozart, Chaplin, Einstein oder Georg I. von England? Offensichtlich nicht gerade einfach! Manche kennt die Leserschaft wohl schon durch bewusstes Hervorholen in den vergangenen Jahren, zumindest für Minerva Einstein-Maric sollte das zutreffen. Die Künstlerin spielt auf diversen darstellerischen Ebenen mit der Illustration, neben reinem Bild nämlich auch mit kreativen Schriften (plus Hervorhebungen in Farbe und mit Konturierungen à la Schatten, S. 51 z.B.). Gar Sprechblasen kommen ins Spiel (S. 34f. z.B. bei den Mozarts oder S. 129 Ludwig XIV.). Klischees nutzt sie durchaus, seien es Profil-Vorlagen oder bekannte Darstellungen wie Einsteins ausgestreckte Zunge (S. 105). Wer mag, kann vielem folgen, weil S. 136ff. die Quellen für Zitate aufgeführt sind, seien sie textlich, seien sie bildlich. Knapp 150 Seiten fein gezeichneter „Graphic Novel“ im weitesten Sinne – lesen & betrachten! PS: Auch „am Rande“ des Genres Illustration/Bild-Geschichte wird mehr und mehr auf die „vergessene Hälfte“ geachtet: So wurde das berühmte Museum im Münchner Isartor umgetauft in „Valentin-Karlstadt-Musäum“, immerhin…

Walter Trier: Nazi-German in 22 lessons – Nazi-Deutsch in 22 Lektionen

Nazi-German in 22 lessons – Nazi-Deutsch in 22 Lektionen
„Walter Triers Karikaturen gegen die Nazis“ und „including useful information for Führers, fifth Columnists, Gauleiters and Quislings“ sind zwei Bände, die einen exzellenten Ein- und Überblick bieten, zu des Illustrators gelungenen Werks anti Nazi. Beide wertig als Hardcover, mit weiterführenden Analysen, fein! U.a. von Antje M. Warthorst, die es geschafft, diesen deutschen Cartoonisten dem Vergessenwordensein zu entwinden: Das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte hat gerade für Interessierte an Bild-Geschichten viel zu bieten, vom Illustrator Erich Kästners. Und gerade in wieder verdunkelnden Zeiten wie diesen wird es wichtiger denn je, sich zu erinnern. Etwa mit dem Logo X als Begleitung der russischen Aggression, das hiermit als weitere Zwangs-Adoption
erscheint: „Widerstand bis zum Sieg über die Nazis, dafür stand das V.“ Von den Alliierten gut als starkes Signal an und in die Bevölkerung erkannt und eingesetzt. Phasenweise absolut comicesk kommen die Cartoons daher, hier endlich gesammelt zu erleben! Und im zweiten Band ist tatsächlich ein Comic geboten, nämlich sequenziell wirkende Panels, gepackt in ein Flugblatt. Auch hier mit engen Bezügen zur Gegenwart 2023… Nachdruck des illustrierten Original-Flugblatts mit allen „22 Lektionen“ und Kommentaren. Mit Vorwort von Max Czollek sowie wertvollen Anmerkungen der Walter Trier-Expertin Antje M. Warthorst. Zweisprachige Ausgabe.“ Gilt für beide.

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Janika Frei-Kuhlmann

Literaturdidaktikerin, Institut für Germanistik, Justus-Liebig-Universität Gießen

Nando von Arb: Fürchten Lernen

Fürchten LernenMit Fürchten lernen (2023) legt Nando von Arb ein ausdrucksstarkes Werk zum Thema Angsterfahrungen vor. In seinem unverkennbaren Stil widmet sich von Arb in kurzen Episoden den unterschiedlichen Facetten von Angst: der Angst vor Dunkelheit, Einsamkeit, Krankheit, Tod, Versagen und Verlust. Dabei zeigt er nicht nur die verschiedenen Ebenen und Nuancen individueller Angsterfahrungen auf, sondern stellt sich einer besonderen Herausforderung: der Angst ein Gesicht verleihen. In expressiven und kontrastreichen Darstellungen gibt sich die Angst in Fürchten lernen in Form von grotesken, unheimlichen Fratzen, die den Protagonisten nachts aufsuchen oder als organische Auswüchse, die sich durch den Körper der Figur fressen, zu erkennen. Albträume werden grafisch ausdrucksstark festgehalten und durch die Gedanken des Protagonisten kommentiert und kontextualisiert. Neben den individuellen Bewältigungsstrategien mit Angsterfahrungen, bei denen die direkte Konfrontation neben der Flucht vor der Angst skizziert wird, wird dabei gleichermaßen die Frage nach der gesellschaftlichen Akzeptanz von Betroffenen mit Angsterfahrungen aufgeworfen. Die Ängste, Albträume und Panikattacken werden stets individuell – mit und in sich selbst – verhandelt, wodurch eine weitere Dimension von Angst eröffnet wird: die Angst davor, mit anderen über Angst zu sprechen. Nando von Arb gelingt es in Fürchten lernen in besonderer Weise, abstrakte, vielschichtige und persönliche Gefühlszustände, die sich oft nur fließend und nuanciert wahrnehmen lassen, greifbar zu machen. Auf sensible und gleichermaßen eindringliche Weise gelingt es dem Autor durch eine entschiedene Komposition aus Licht, Schatten, Form und Farbwahl ein überzeugendes Werk vorzulegen, das nicht nur durch seine inhaltliche Komplexität und Tiefe, sondern auch durch die stilistisch-grafische Raffinesse beeindruckt. Sein besonderes Talent für die bildhafte Konservierung des ‚Unsagbaren‘ bezeugt er damit auf vielfältige Weise.

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Jörn Ahrens

Kultursoziologe, Justus Liebig Universität Giessen

Jean-Christophe Brisard/Alberto Pagliaro: Hitler ist tot!, 3 Bände

Hitler ist tot!Zwischen Januar und August hat Splitter diese Mini-Serie vorgelegt, deren Handlung am 02. Mai 1945 einsetzt. Die Rote Armee hat Berlin erobert; nun will Stalin zeigen, dass Hitler wirklich tot ist. Das ist schwierig, denn eine Leiche fehlt. Zwei Geheimdienste, der NKWD und die SMERSch, treten in einen Wettlauf darum ein, Hitlers Leiche oder zumindest Beweise für seinen Tod zu finden. Dabei bekämpfen sie sich innerhalb des von Konkurrenzen und Misstrauen durchzogenen sowjetischen Systems unerbittlich. Brisards Plot geht vielschichtig vor. Gezeigt wird die kleinteilige Suche nach Hitlers Leiche, die Elemente einer Detektiv-Serie aufnimmt. Im Trümmer-Berlin des Kriegsendes werden immer wieder die deutschen Informanten thematisiert. Im Vordergrund steht aber der Kampf der beiden ausführende Dienste, die für konkurrierende Fraktionen im System der sowjetischen Führung stehen. Auch deren Intrigen im Hintergrund, speziell um NKWD Chef Beria, werden nicht ausgespart. In atmosphärisch dichten Zeichnungen entfaltet Pagliaro diese Geschichte. Sein kantig abstrahierter Stil erinnert mal, gerade auch in der Kolorierung, an expressionistische Holzschnitte, mal bleibt er skizzenhaft und lehnt sich an die Illustrationsgraphik der 1940er/50er Jahre an. Dass die ebenso glaubwürdig wie fantastisch anmutende Geschichte außerdem historisch gut recherchiert ist, zeigt der Begleitteil im dritten Band.

Marcello Quintanilha: Hör nur, schöne Márcia

Hör nur, schöne MárciaWie beschränkt der Blick auf Comics (nicht nur) hierzulande nach wie vor ist, zeigt sich an ihrer Herkunft, die selten den europäischen oder nordamerikanischen Raum verlässt. Verdienstvoll hat der Reprodukt Verlag nun, nach Tungsténio bei Avant, das zweite Album des Brasilianers Marcello Quintanilha vorgelegt. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Krankenschwester Márcia, die sich sorgt, ihre Tochter Jaqueline, sorglos und ignorant, könne auf die schiefe Bahn geraten. Das bestätigt sich spätestens, als Jaqueline nach einer Festnahme rasch wieder freikommt. Márcia und ihr Freund Aluísio gehen der Sache nach und geraten in einen Strudel aus Drogenkriminalität und Milizen, bis Jaqueline dafür sorgt, dass Aluísio krankenhausreif geprügelt wird und selbst in den Knast geht. Am Ende des Comics aber ziehen Márcia und Aluísio aufs Land zu Jaqueline und deren Familie, ausgerechnet im Gefängnis war sie vom evangelikalen Priester schwanger geworden. Seine ziemlich bittere Geschichte von der Innenseite Brasiliens inszeniert Quintanilha in grellbunten Farben, einschließlich der menschlichen Körper. Viele Konturlinien fehlen. Konturen werden durch die Farben markiert, schwarze Linien gibt es nur dort, wo sie benötigt werden. Die Panels sind nie durch Linien gerahmt, was dem ansonsten nicht experimentell angelegten Band eine große Leichtigkeit in der Graphik verleiht. Zeichnungen und Narrativ stehen in maximalem Kontrast zueinander. Das alles macht Lust auf mehr, mehr von Quintanilha und mehr aus der offensichtlich schwer interessanten Comic-Szene in Brasilien.

Matz/Jörg Mailliet, nach Olivier Guez: Das Verschwinden des Josef Mengele

Das Verschwinden des Josef MengeleIm Juni 1949 erreicht Josef Mengele Argentinien. Unterstützt durch ein gut ausgebautes Netz vor Ort, aber auch durch den niemals abreißenden Kontakt zu seiner Familie, die ein florierendes Unternehmen für Agrartechnik betreibt, baut Mengele sich zunächst eine gut situierte Existenz in Argentinien auf. Das Leben unter den ehemaligen Nazis ist mondän und gut situiert. Mengele reist unbehelligt nach Deutschland ein, um familiäre und finanzielle Belange zu klären, um den Vater zu beerdigen, holt seine Familie nach. Scheinbar geht das Leben im Exil und unter falscher Identität gut auf. Doch im Hintergrund versuchen sowohl der Frankfurter Staatsanwalt Fritz Bauer als auch der israelische Mossad Mengele ausfindig zu machen. Nach der Ergreifung Adolf Eichmanns wird es auch für Mengele eng, aber die deutsche Polizei und innenpolitische Prioritätensetzungen in Israel sorgen am Ende dafür, dass er unbehelligt bleibt. Unter dem Druck der Ermittlungen muss Mengele immer weiter flüchten, seine Netzwerke brechen sukzessive weg, seine Frau verlässt ihn. Die Familie kappt die Unterstützung; am Ende haust Mengele heruntergekommen in Brasilien. Mit 67 Jahren ertrinkt er beim baden im Meer. Basierend auf dem Roman von Olivier Guez hat Matz (Der Killer) ein dichtes, weitgehend chronologisch vorgehendes Script erstellt, das von Jörg Mailliet in flächigen Zeichnungen, die die Tradition der argentinischen Comics der Zeit aufgreifen, gekonnt und mit einer sehr schönen Kolorierung umgesetzt ist. Der Band bleibt konsequent an seinem Protagonisten und lässt dennoch keine falsche Nähe aufkommen; mit Flashbacks geht er angemessen sparsam um, es reicht völlig aus, zu wissen, um wen es geht.

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Lukas R.A. Wilde

Medienwissenschaftler, NTNU Trondheim

JH, Engl. Übersetzung von Ultramedia: The Horizon

The HorizonDank Yen Press hat dieser koreanische manhwa von JH von auch den Sprung vom Webtoon in Print geschafft! Sicherlich eines der düstersten und bedrückendsten Comics der letzten Jahre, überwältigt die Lektüre aber doch vor allem durch das unglaublich präzise, überwiegend visuelle Erzählen, in dem die wenigen gesprochenen Worte kaum mehr als einen düsteren Soundtrack bilden. Trotzdem werden die beiden kindlichen Protagonist*innen, mit denen wir durch eine postapokalyptische Schreckenswelt à la The Road (McCarthy) oder Parable of the Sower (Butler) wandern, vielschichtiger und komplexer als in der schillerndsten Prosa. Auf ihrer hypnotischen, oft phantasmagorischen Alptraumreise entsteht eine zerbrechliche Nähe, vielleicht auch eine Art von Hoffnung, die aber nie ganz die Einsamkeit und das Schweigen zwischen ihnen zu vertreiben vermag. Alle 21 Kapitel der Webtoon-Serie sind online zu lesen und abgeschlossen, die ummontierte Print-Ausgabe (vol.1 enthält chapter 1-5) funktioniert aber auch erschreckend schön.

Yuu Morikawa, Engl. Übersetzung von Julie Gonwich: Mr. Villain’s Day Off

Mr. Villain's Day OffDas Jahr war weltpolitisch ja nicht gerade einfach, manchmal tut daher Feel Good-Lektüre und gepflegter Eskapismus ganz wohl. Etwas Schöneres als Morikawas Kyūjitsu no Warumono-san, 2023 endlich auf Englisch übersetzt, findet man wahrscheinlich nicht so leicht. Episodische slice of life-Szenen laden zu kleinen „mental health“-Ausflügen in den Panda-Zoo oder den Konbini um die Ecke ein, wo sich ein außerirdischer Superschurke kurze Pausen von seinen Weltvernichtungsplänen gönnt. „That being said, today is my day off!“ wird so zu einer Formel, die nicht nur eine ganz zauberhafte Repetition entfaltet, sondern Genre-Regeln und Tonalitäten auch immer wieder neu überblendet und damit neben zauberhaftem Humor und unaufgeregtem Humanismus durchaus auch immer wieder poetische Qualitäten erzeugt.

Paul B. Rainey: Why Don’t You Love Me?

Why Don't You Love Me?Ehrlicherweise ist der Einstieg in dieses seltsame, oft geradezu surreale Drawn&Quarterly-Buch nicht gerade einfach. Schon das Erzählformat lässt sich auf keinen rechten Nenner bringen: Paul B. Rainey bündelt hier ein schnelles Feuerwerk aus einseitigen Punchline-Strips, die häufig in beliebiger Reihenfolge gelesen werden können, langsam aber stetig jedoch immer größere Arcs und ein übergreifendes Gedächtnis entstehen lassen. Der beißend schwarze, mitunter geradezu bizarre Humor lässt Lachen aber nicht wirklich zu: Die kurzen Schnappschüsse aus häuslichen Familienszenen präsentieren das genaue Gegenteil einer Idylle, in der jedes Alltagsdetail von den Depressionen, Verletzungen und Suchtproblemen der Eltern Claire und Mark überschattet ist, die sich nicht einmal die Namen ihres Sohnes merken können und ihre Ehe lange, lange schon aufgegeben haben. Von dieser  schwer verdaulichen „baseline“ aus kippt der Plot aber immer weitere ins Surreale und Phantastische – präzise um die Frage herum, ob dies wirklich nicht die Realität ist, die Claire und Mark leben sollten und alles zuvor – selbst das merkwürdig episodische (Nicht-)Gedächtnis – verblüffend motiviert ist! Am Ende der 210 Episoden ist immer noch nicht ganz klar, was man da eigentlich genau gelesen hat, und angenehm war es auch meistens nicht, ganz sicher aber sehr einzigartig und bewegend unter den Publikationen der letzten 12 Monate.

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Natalie Veith

Anglistin und Mediendidaktikerin, Goethe-Universität Frankfurt

Tom Gauld: Revenge of the Librarians

Revenge of the Librarians“Believe me: you do NOT want to make an enemy of a librarian.” Diese Warnung stellt der schottische Comiczeichner Tom Gauld seiner jüngsten Sammlung von Comic Strips, die nun schon seit mehreren Jahren den Literaturteil des Guardian zieren, voran. Gauld zeichnet in seinen Comics eine Welt, in der Literatur mit groteskem Ernst behandelt wird und man sich vor der Poetry Police in Acht nehmen muss, die bei trivialliterarischen Äußerungen in der Öffentlichkeit sofort eingreift. Auch reimaginiert Gauld gerne die Entstehung der großen Texte der Weltliteratur, etwa wenn Jane Austen bei der Konzeption ihres berühmten Anfangssatzes von Pride und Prejudice darüber sinniert, was ein alleinstehener Mann denn besitzen muss, um eine Frau zu brauchen (Ein sprechendes Pferd? Eine Zeitmaschine? Oder vielleicht doch lieber ein beträchtliches Vermögen?). Gaulds Comics zeugen von einer immensen Liebe zu Büchern – und kombinieren diese gekonnt mit ebenso klugem wie absurdem Humor und einem minimalistischen visuellen Stil, der Comics mit Diagrammen, Pfeilbildern und Anleitungstexten vereint (beispielsweise in einer Studie über das lokale literarische Ökosystem, die über Habitat und gängige Verhaltensmuster der Spezies der Autor*innen aufklärt). Hier offenbart sich nicht zuletzt dann auch das kritische Potenzial der Strips, die bei aller Absurdität dazu anregen, den Blick zurück auf die Realität zu richten und auf die Rolle, die Literatur und literarische Akteur*innen in unserer Welt spielen und spielen sollten. Eine deutsche Version ist unter dem Titel Die Rache der Bücher erhältlich.

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Ole Frahm

Comicforscher, Arbeitsstelle für Graphische Literatur (ArGL) Hamburg

Div.: namesandfaces.il

namesandfaces.ilWährend des Massakers durch die Hamas am 7. Oktober dieses Jahres in mehreren süd-israelischen Kibbuzim und einem Techno-Festival haben sich einige der Angreifer Kameras um den Hals gehängt, um die Bilder ihrer Gräueltaten in der ganzen Welt zu verbreiten. Unabhängig davon, dass ein Sprecher der Hamas inzwischen behauptet, nur militärische Ziele angegriffen zu haben – eine Behauptung, die ihren eigenen Aufnahmen Hohn spricht –, zirkulieren seitdem zahlreiche Bilder – und täglich kommen neue hinzu. Den auch in Deutschland plakatierten Bildern der von der Hamas entführten Menschen kontert die Terrororganisation mit Bildern von Kindern zwischen Trümmern – sie führt auch einen Krieg der Bilder. namesandfaces.il ist eine Initiative israelischer Illustrator*innen, die ihre Ablehnung des Massakers und des dadurch ausgelösten Krieges durch eine Serie von Zeichnungen auf der social media Plattform Instagram veröffentlicht. Kein Comic im eigentlichen Sinne, aber eine Serie von Bildern und Geschichten, die sich den nicht selten für Verschwörungstheorien dienenden Filmbildern auf derselben Plattform entgegenstellt. Nicht sehr laut, eben ohne die dramatische Musik die den Videos, die behaupten, Wahrheiten über den 7. Oktober zu verbreiten, eigen ist, reiht sich ein Beitrag an den anderen – ganz unterschiedliche Bilder: Skizzen, Portraits, Blumenbilder, Graphiken. Schon diese Heterogenität spricht eine andere Sprache als die Fotos, die Filme, die doch behaupten dokumentarisch zu sein, aber unschwer in jeden neuen Kontext gestellt werden können. Diese Bilder sind jeweils zugeeignet, sie sind nicht nur der Betrachtung, sondern auch jeweils einer Person gewidmet, die ermordet oder verschleppt wurden, die Menschen vor den Mördern gerettet haben, aber auch den Menschen in Gaza, „where darkness entered their homes“. Vielen ist wie in Bildergeschichten ein kurzer Text beigeordnet: was die Gezeichneten auszeichnete, was ihnen widerfuhr – Geschichten, die sonst kaum gehört würden, wie die von dem Busfahrer Haim Ben Aryeh: „On Saturday night, the end of Simchat Torah, Haim went to drive the children of Be’eri to safety on his bus. The horrors he had seen that night broke his heart, and he had not been himself since. In the morning of October 25th he was found dead inside his bus”. Diese kleinen digitalen Bilder wirken wie Talismane, uns vor dem Bösen zu schützen, von dem sie künden.

Anke Feuchtenberger: Genossin Kuckuck

Genossin KuckuckSchon der Goldschnitt verkündet etwas Besonderes. Er verbindet die verschiedenen Seiten, deren Figuren mal als Menschen, mal als Katzen, aber auch als andere Tiere gezeichnet sind. Der Stil wechselt von Kapitel zu Kapitel, auch wenn Feuchtenbergers eindrückliche Kohlezeichnungen, wie sie aus Der Spalt bekannt sein könnten, dominieren. Grad wenn sich die Lesenden an den Rhythmus aus zwei Bildern die Seite gewohnt haben, wird dies unterbrochen. So einfach ist die Geschichte, die im ländlichen Raum der Deutschen Demokratischen Republik angesiedelt ist, nicht zu haben. Sie fügt sich zu keiner übersichtlichen Erzählung wie sie im Genre der Graphic Biography so gängig geworden ist. Die Zeiten springen, die Figuren wechseln, manches erscheint als erinnerte Anekdote, anderes wirkt wie im Traum, die Übergänge sind fließend. Nur langsam setzen sich die Fragmente zusammen. Es geht um sexuellen Missbrauch, die Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges, es geht um Gewalterfahrung und Vergewaltigung und wie damit nicht umgegangen wurde. Genossin Kuckuck ist ein verstörendes, mutiges Buch, ein Comic, der mit einer Lektüre längst nicht ausgelesen ist. Es stellt uns die Frage, wie überhaupt solche Bücher mit Goldschnitt zu lesen sind, weil sie das Sehen und das Verstehen historischer Zusammenhänge neu denken lehren.

George Herriman: Krazy Kat. Daily Strips 1924. Hgg. von Snorre Smári Mathiesen

Krazy Kat. Daily Strips 1924Die Einigkeit über die unvergleichliche Bedeutung George Herrimans Krazy Kat für die Geschichte der Zeitungscomics ist unter Comicforscher*innen groß. Die Wiederveröffentlichung des „Werks“ entspricht dieser Bedeutung allerdings nur zur Hälfte: die oft experimentellen Sonntagsseiten, die zwischen 1917 und 1944 erschienen, sind gleich mehrfach veröffentlicht seit Bill Blackbeard mit seinem San Francisco Academy of Comic Art Ende der 1980er Jahre begonnen hatte, diese jahrgangsweise zu edieren. Das Projekt stockte ab 1925, auch weil es für manche Jahre ausgesprochen kompliziert war, die Seiten zu finden, weil sie anders als die Tagesstrips oft nur in wenigen Zeitungen erschienen – sie waren von den Comic-Seiten ins Feuilleton verbannt worden, wo Redakteure sie gerne wegließen. Fantagraphics hat die Reihe dann ab 2002 übernommen und fortgesetzt – jüngst werden je drei Jahre ebendort in einer sehr schönen großformatigen Reihe zusammengefasst. Aber die Tagesstrips? Sie harren ihrer systematischen Veröffentlichung. Auch hier gab es vereinzelte Initiativen: Schon 1991 erschien in der letzten Ausgabe von RAW die Tiger Tea-Episode aus dem Jahr 1936. 2001 brachte ein Verlag namens Stinging Monkey als Volume 1 die Strips von 1918-1919 mit einem Vorwort von Blackbeard heraus. In der sehr verdienstvollen Library of American Comics, die verschiedene Strips jahrgangsweise veröffentlicht, läßt sich das Jahr 1934 nachzulesen. Ein opulentes Querformat macht die experimentellen Strips des Jahres 1920 bei Fantagraphics zugänglich. Die Strips 1921-23 sind beim Pacific Comics Club verlegt. Der norwegische Cartoonist Snorre Smári Mathiesen hat sich nun in Eigeninitiative einer Fortsetzung angenommen und begonnen, die Strips ab 1924 unabhängig, bei Amazon in Polen gedruckt, zu verlegen. Die Ausstattung ist bescheiden, die Gestaltung fragwürdig, die Ausgabe bleibt unvollständig, weil eben nicht alle Strips aufgefunden wurden, und Mathiesens Einleitung kann mit Blackbeards Sprachwitz nicht konkurrieren, zeitbezogene Kommentare schließlich, wie Blackbeard sie rudimentär zur Verfügung stellte, fehlen ganz. Doch die Qualität des Drucks der Strips ist meistens gut und wenn die Rückseite der Zeitung durchscheint, betont dies nur ihre Herkunft. Die Qualität der Strips indes bleibt auch 99 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen überragend.
1924 begann Herriman eine längere Erzählung, die sich mit kleinen Unterbrechungen bis 1925 fortsetzt: Krazy Kat nimmt durch einen Zufall das Kind des reichen Katnip-Produzenten Mr. Max Meeyowl bei sich auf, während sie vor Joe Stork, der bekanntlich die Kinder bringt, flieht – hier oft sie, aber einmal benennt sich die Katze auch als Unkil („How evva I ain’t got no ibjections to being a ‚unkil‘ or a ‚ent‘ to you“, die Barkschen Genealogien vorwegnehmend – 30. Mai). Dem little kitten gefällt es bei Krazy natürlich viel besser als bei dem reichen Vater, doch 1925 sieht es sogar so aus, als könnten die beiden, die arme Kat und der reiche Kater heiraten, wären da nicht die Ziegelsteinwürfe von Ignatz, die Krazy natürlich vermisst… Aber auch die zweite längere Episode des Jahres 1924, in der Madam Kwakk-kwakk fordert, die Ziegelstein-Produktion einzustellen, samt Demonstrationen und einem ziegelsteinwerfenden Offissa Pupp entbehrt nicht der Komik und erinnert daran, wie sehr Charles M. Schulz Peanuts von diesen Seiten profitierte. Am erstaunlichsten erscheint mir bei der Lektüre, wie zugänglich viele der Strips noch sind, wie gut sie die Zeit überdauert haben – vielleicht auch weil die Gewaltverhältnisse und Identitätsfragen der Gesellschaften sich offenbar nicht so umfassend verändert haben wie manche denken.

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*Die ComFor-Redaktion bedauert den Mangel an Diversität in dieser Zusammenstellung, die mehrheitlich aus männlichen Comicschaffenden besteht. Zukünftig würden wir uns sehr über diversere Einreichungen sowie über mehr Beiträge von Forscherinnen in der ComFor freuen. An dieser Stelle wollen wir lediglich auf beides aufmerksam machen, um ein Bewusstsein für diese Umstände zu schaffen.

ComFor-Leseempfehlungen 2022

Auch in diesem Jahr wünscht die Redaktion der Gesellschaft für Comicforschung all ihren Leser_innen  und Freund_innen einen guten Start ins neue Jahr 2023 und präsentiert zu diesem Anlass wieder aktuelle Leseempfehlungen von Comicforscher_innen, die wir zum Jahresabschluss gesammelt haben. (Die Leseempfehlungen der letzten Jahre finden sich hier.) Einige unserer Mitglieder haben uns erneut ganz subjektive Lektüretipps geschickt, die aus den vergangenen zwölf Monaten im Gedächtnis geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer. Darunter haben sich auch ein, zwei Titel eingeschlichen, die bereits vor 2022 publiziert worden sind, aber in diesem Jahr nochmal besonders im Gedächtnis geblieben sind.

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Yun-Jou Chen

Komparatistin, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Sonny Liew: The Art of Charlie Chan Hock Chye (neue Erstveröffentlichung Taiwan)

The Art of Charlie Chan Hock ChyeEs handelt sich um eine Pseudo-Biografie eines fiktiven Comic-Zeichners Charlie Chan Hock Chye (geb. 1938). Der Autor Sonny Liew (geb. 1974) erzählt die Lebensgeschichte dieses fiktiven Künstlers, die mit der jungen Geschichte Singapurs verschmolzen ist: Von der Unabhängigkeit Singapurs von der britischen Kolonialmacht, der Fusion Singapurs mit Malaysia und der Trennung kurz danach, bis auf das politische Ringen zwischen Lee Kuan Yew und Lim Chin Siong in den 50er und 60er Jahren, echte Ereignisse sind in der „Biografie“ überall zu sehen, und vor diesem echten historischen Hintergrund entfaltet sich die Geschichte des Künstlers, den es eigentlich nicht gab, die aber von zahlreichen „Beweisen“, wie z.B. Fotos des Künstlers und Zitate aus seinen Werken, gestützt ist. Eine kritische Haltung gegen die politische Lage sowie das Regime zeigt sich in den Parodien von Charlie Chan Hock Chye. Gerade die Kritik einer fiktiven Figur stellt eine echte, wenn auch subtile, Provokation gegen die nationale Narrativ Singapurs dar.

Die englische Ausgabe wurde bereits 2015 veröffentlicht und gewann 2016 den Singapore Literary Award und 2017 drei Will Eisner Awards (Best Writer/Artist, Best U.S. Edition of International Material-Asia und Best Publication Design). Die Ausgabe im traditionellen Chinesisch wird im Oktober dieses Jahr in Taiwan veröffentlicht.

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Jeannine Feix

Didaktikerin, FU Berlin

Nacha Vollenweider: Zurück in die Heimat

Nacha Vollenweider: Zurück in die Heimat„Nach sechs Jahren in Hamburg und einer gescheiterten Ehe entschließt sich Nacha Vollenweider in ihr Heimatland Argentinien zurückzukehren.“, so der Text auf der Rückseite dieser wunderbaren Graphic Novel. Nach ihrem Debüt „Fußnoten“, die einen Außenseiterinnenblick auf Hamburg und Deutschland wirft, wird man als Leser:in nun mitgenommen in das aktuelle Argentinien, das viel mehr mit unserem Leben im Westen der Welt zu tun hat, als man denken mag. Während wir über unsere Inflationsrate jammern, beträgt diese in Argentinien 50% jährlich. Während wir über Elektroautos als Heilsbringer reden, verursacht der Abbau von Lithium für die Batterien dieser in Argentinien eine Dürre nach der anderen und verändert dortige Ökosysteme für immer. Während wir über Fachkräftemangel klagen, muss eine junge qualifizierte Frau aufgrund ihrer Scheidung von einer Deutschen das Land verlassen, in dem sie sechs Jahre lebt und arbeitet. Die Themen, die Nacha Vollenweider anspricht, könnten aktueller, interessanter und brisanter nicht sein. Wie in ihrer ersten schwarz-weiß Graphic Novel mit interessantem Pinselstrich schafft sie es auf wunderbare Weise ihre Themen zu unseren zu machen.

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Ole Frahm

Comicforscher, Arbeitsstelle für Graphische Literatur (ArGL) Hamburg

David Kunzle: Rebirth of the English Comic Strip

Rebirth of the English Comic StripSeit mehreren Jahren macht David Kunzle, wie als Supplemente zu seinem maßgeblichen zweiten Band The History of the Comic Strip von 1990 in der Mississippi University Press die vielen Seiten zugänglich, die er dort oft nur in Auszügen veröffentlichte. Nach wunderbaren Bänden u.a. über Toepffer und Cham versammelt der marxistische Kunsthistoriker in seiner jüngsten Publikation diverse Zeichnende, vor allem aus Punch aber auch anderen Zeitschriften mit so klingenden Namen wie The Man in the Moon. Viele der Zeichnenden, auch Frauen wie Marie Duval sind darunter, sind eher durch Cartoons in Erinnerung geblieben, manche haben nur wenige Seiten zu der – im Begriff sicher befragbaren – Wiedergeburt des englischen Comic Strips beigetragen, aber es ist wunderbar, diese lang vergessenen Arbeiten so kundig kommentiert entdecken zu dürfen. So diskutabel Kunzles weiter Begriff des Comic Strips ist, so lehrreich bleibt es, den Blick über das 20. Jahrhundert hinaus in die Vergangenheit zu richten. Das 19. Jahrhundert, in dem das Bürgertum durch die Industrialisierung, forcierten Kolonialismus und die Ausweitung kapitalistischer Produktionsweisen die Erde ganz umpflügte, hält vieles zum besseren Verständnis der krisenhaften Gegenwart bereit. Kunzle zögert nicht, diese Aktualität zu benennen und darf so allen kommenden Comic-Forschenden als bewundernswürdiges Vorbild gelten.

Luka Lenzin: Nadel und Folie

Nadel und Folie<„Das Private ist stets politisch“, ist auf der Reprodukt-Seite über Luka Lenzin, vormalig Martina zu lesen – und „lebt nonbinär“. Doch anders als Abfackeln von Nino Bulling, der die Unsicherheit und den Wechsel des Geschlechts zum ausdrücklichen Thema macht und formal sicher ebenfalls einen der innovativsten Bände des Jahres vorgelegt hat, lenkt Lenzin nicht den Blick auf sich, sondern verdichtet in bewundernswürdiger, eleganter und die Lesenden wenig schonenden Weise Gespräche, die Lenzin in der Hamburger Drogenberatungsstelle beim Hauptbahnhof beim Jobben dort geführt hat. Jemanden wie mich, der lange in Hamburg gelebt hat, erfreut besonders, wie sehr hier sprachliche Idiome aufbewahrt und über die Grenzen der Stadt hinaus hörbar werden. Doch der größte Vorzug des Bandes stellt das überzeugende Plädoyer für einen anderen Umgang mit Drogen dar, vor allem mit deren Konsumierenden, deren verdichtete Erzählungen die Lektüre schwer aus der Hand legen lassen. Sind Bullings Innovationen auf die Form selbst bezogen, zeigt Lenzin wie groß der erzählerische Raum zwischen Autobiographie, Dokumentation und poetischer Verdichtung ist. Die überraschend selbstverständlich wirkenden Tierköpfe machen das Geschlecht der Figuren gelegentlich unlesbar und greifen so aufs Schönste die interessanteren Momente der Comic-Geschichte auf.

Milt Gross: Gross Exaggerations. The Meshuga Comic Strips of Milt Gross

Cynthia Häfliger: Fremde BlickeA propos Comic-Geschichte: Manche von Milt Gross‘ Sonntagsseiten wirken wie Drogentrips. Die Verkettung des Unwahrscheinlichen erzeugt eine Komik, die auch 90 Jahre nach dem ersten Erscheinen ihre Wirkung nicht verfehlt. Zu einer Zeit als der Slapstick aus dem Kino zu verschwinden begann, wird er hier nicht nur aufbewahrt, sondern macht dessen gelegentliche Radikalität im Umgang mit den deformierenden gesellschaftlichen Verhältnissen unüberlesbar. Heute erscheinen auch die damals gängigen Sexismen und ethnische Stereotype wie vergrößert. Diese Ausgabe, wie in den letzten Jahren nicht mehr unüblich, kommt dem Druck im Zeitungsformat nahe, wodurch Gross‘ großartige zeichnerische Virtuosität lesbar wird. Ich hab sie jetzt erst in die Hände bekommen und hoffe, dass sie noch viele andere findet.

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Dietrich Grünewald

Kunstdidaktiker, Emeritus Universität Koblenz-Landau, ehem. 1. Vorsitzender der ComFor

Jennifer Daniel: Das Gutachten

Jennifer Daniel: Das GutachtenEine Kiste mit dem Foto aus dem Nachlass ihres Großvaters, der Assistent der Rechtsmedizin in Bonn war, ist Anstoß für Jennifer Daniels Bildroman. Die spannende Kriminalgeschichte ist fiktiv, wenngleich sie – bedrückend und mahnend – sehr reell an die deutsche Geschichte gebunden ist, an die Zeit des Dritten Reiches, den Zweiten Weltkrieg – und wie die schrecklichen Ereignisse und Verbrechen dieser Zeit (in der jungen Bundesrepublik nachhallen bzw. unterdrückt werden. Die Geschichte hat ihren Ausgangspunkt 1977, als der Protagonist Karl Martin – Mitarbeiter der Gerichtsmedizin – mitbekommt, wie bei einem Autounfall eine junge Frau zu Tode kommt. Es ist eine RAF-Sympathisantin; der Unfallverursacher flieht. Martin lässt das Geschehen keine Ruhe und er beginnt zu recherchieren. Daniel weiß spannend zu erzählen, bindet das Geschehen an reale Orte, verschiebt die Erzählebenen, Erinnerungen aus NS-Zeit und Krieg werden mit der Zeit aktuellen Erzählzeit verwoben und decken Haltungen, Verhalten, Positionen auf. Dabei steht das bedrückend düstere Geschehen im provokativen Kontrast zu Daniels farbiger Visualisierung.

Melani Garanin: Nils. Von Tod und Wut. Und von Mut

Melani Garanin: Nils. Von Tod und Wut. Und von MutDer Tod eines Kindes schlägt eine furchtbare seelische Wunde, insbesondere, wenn dieser Tod offenbar zu verhindern gewesen wäre. Was Garanin hier erzählt, ist autobiografisch. Ihre farbigen Zeichnungen, leicht karikaturistisch angelegt, bauen eine für Betrachter erträgliche Distanz zum tragischen Geschehen auf und sind für die Autorin selbst Mittel zur Verarbeitung. Sie schildert ihr glücklich-fröhliches Familienleben, in das der kleine Nils und seine drei älteren Geschwister eingebunden sind. Zeigt dann, wie er erkrankt, wie die Familie ihn begleitet, wie sie hofft und dann doch seinen Tod hinnehmen muss. Und wie sie versucht den offensichtlichen Fehler der ärztlichen Behandlung aufzuklären und zur Rechenschaft zu ziehen – gegen eine geschlossene Front von Ärzten, Politikern, Juristen. „Das Verfahren wird eingestellt.“ Die Fantasie, die in der Bildgeschichte Gestalt bekommt, hilft, die Wut zu überwinden und Nils mit den Wildgänsen, wie er es einst beobachtet hat, davon fliegen zu lassen aber stets in Erinnerung zu behalten.

Cynthia Häfliger: Fremde Blicke

Cynthia Häfliger: Fremde BlickeHäflingers leichter, fast skizzenhafter Zeichenstil, die zarte aquarellierte Farbgebung, das Zusammenspiel von handschriftlichem Text (wörtliche Rede, Erzählerkommentar) erwecken den Eindruck einer lyrisch-zarten Geschichte. Doch die Idylle familiären Alltags bricht. Seiten mit wilden, harten dynamisch bewegten Kritzelstrichen, brutalen Versalien (NEEEIIIIN) spielen immer wieder auf seelische Zustände an, eindrucksvolle, erschreckende Bildmetaphern. Es geht in der Geschichte um Lars, der seelisch erkrankt, was die Familie erst allmählich merkt, um seine Versuche, der gefühlten ständigen Bedrohung zu begegnen, die verlorene Realität wieder zu gewinnen. Einfühlsam nimmt die Autorin die Leserschaft mit auf diesen Weg, den Lars, seine Eltern, seine Schwester gehen müssen. Sie erzählt uns eine Geschichte, die die Augen öffnen kann, bedrohlich fremde Blicke zwar nicht zu wissenden, aber ahnend verständnisvollen zu wenden.

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Thomas Hausmanninger

Christliche Sozialethik, Universität Augsburg

Gerry Conway , Ross Andru, et al.: The Amazing Spiderman Omnibus 4 + 5

The Amazing Spiderman Omnibus 4 + 5.Die beiden Bände enthalten fast den ganzen Run von Ross Andru als penciller und sind (inklusive des Todes von Gwen Stacy) von Gerry Conway geschrieben. Andru ist ein leider unterschätzter Zeichner, dessen Perspektiven und anatomische Verzerrungen nicht hinter dem großen Gil Kane zurück stehen müssen. Als besonderes Highlight kann zudem gelten, dass Andru die Geschichten im real existierenden New York zeichnet. Anders als Kane, Romita sr. und Ditko erzeugt er keine generischen Hintergründe und Räume. Er hat mit seiner Kamera immer wieder dokumentiert und das ergibt das Vergnügen, eine reale Raumtiefe und ein Stadtbild sehen zu können, welches wirklich distinkt erscheint. Das hat viel Atmosphäre. Conway schreibt interessante Geschichten, deren Plots sich – typisch Marvel – über viele Hefte ziehen. Wer den frühen Spiderman mag, wird an diesen Bänden sein Vergnügen haben!

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Aleta-Amirée von Holzen

Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM

Patrick Wirbeleit, Andrew Matthews und Uwe Heidschötter: Das unsichtbare Raumschiff

Das unsichtbare Raumschiff
Der Kindercomic Das unsichtbare Raumschiff scheint seine Zugehörigkeit zum Medium a
priori infrage zu stellen, denn es handelt sich laut Verlag um einen Comic (fast) «ohne Bilder». Geht solches überhaupt, und kann das funktionieren? Ja, sogar erstaunlich gut – wenn die witzige Ausgangslage ist, ein Geschehen auf einem unsichtbaren Raumschiff mitten in einer schwarzen Gaswolke in der Weite des Alls zu erzählen. Denn die vierköpfige Mannschaft, die klar eine leicht parodistische Hommage an «Star War» ist, aktiviert die Unsichtbarkeit der «Invisibility 2», ohne die Konsequenzen zu bedenken: Wenn alles unsichtbar ist, findet man auf dem riesigen Schaltbord den Knopf zum Abstellen nicht so leicht wieder, und so spielt sich dieses Abenteuer in absoluter Dunkelheit ab. Auf den allermeisten Seiten sind daher bloß farbige Sprechblasen und Geräuscheffekte in lauter schwarzen Panels zu sehen. Eine Paradebeispiel, um zu zeigen, was allein die Gestaltung und Farbgebung von Sprechblasen und Schrift (die freilich durchaus eine bildliche Komponente haben) zu transportieren vermögen. Neben der gelungenen Umsetzung dieser Idee tragen auch die liebevoll dämlichen bzw. tollpatschigen Figuren dazu bei, dass dieser herrliche Unsinn eine sehr amüsantes Leseerlebnis ist. Nicht zuletzt drängt sich die Frage auf: Wie cool wäre es, Theaterstücke statt in eng gesetzten Textausgaben mit bunten Sprechblasen lesen zu können? Auf der Verlagshomepage ist übrigens einen sehenswerten (achtminütigen!) Trailer zu finden.

Mathieu Burniat: Eine Reise unter die Erde. Die Geheimnisse der Welt unter uns

Eine Reise unter die ErdeHades, der griechische Gott der Unterwelt, sucht einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin und lässt Einladungen zur Bewerbung über den Erdball flattern. Tatsächlich findet sich am Tor A 23 des Totenreichs bald eine ganze Schar von Anwärter:innen ein, darunter die 16-jährige Suzanne, die Hades eigentlich bloss bitten will, ihren Freund wieder lebendig zu machen. Das Bewerbungsprozedere entpuppt sich als mörderischer Wettbewerb mit «Hunger Games»-Vibe. Fünf Aufgaben gilt es zu lösen, die allesamt nicht etwa mythologische Kenntnisse verlangen, sondern Wissen um die Beschaffenheit des Erdreichs. Dazu werden die Bewerber:innen immer kleiner gezaubert und tauchen immer tiefer in die Mikroebene des unterirdischen Lebens ein, während sich die Rivalität unter ihnen verschärft. Suzanne freundet sich mit dem gleichaltrigen Tom an. Als unwahrscheinliche Heldenfiguren – Tom etwa hat Angst vor Mikroben, überwindet diese aber, als sie grösser sind als er – kommen die beiden unscheinbaren Teenager mit Kreativität, Teamgeist und dem nötigen Glück jeweils eine Runde weiter. Eingebettet in die actionreiche Handlung ist ein eindrückliches Sachbuch über die Mechanismen und Lebewesen in jenen anderthalb Metern Erdschicht, denen alles, was wächst, entspringt. Die Informationen etwa über Stickstoff, Pilze, Bakterien oder Nematoden stören dabei den Spannungsbogen des Wettbewerbs keineswegs, sondern wirken als Teil davon. Das befeuert beide Leseinteressen, das literarische und das sachliche – zu wissen, wie die Handlung ausgeht, aber auch mehr über den Boden zu erfahren.

Andreas Steinhöfel und Melanie Garanin (nach einem Drehbuch von Klaus Döring und Adrian Bickenbach): Völlig meschugge?!

Völlig meschugge?!Völlig meschugge?! ist der Comic zur gleichnamigen und gleichzeitig erschienenen ZDF/Kika-Fernsehserie. Das Freundestrio Benny, Charlie und Hamid hält sich für unzertrennlich. Doch dann trägt Benny nach dem Tod seines Opas dessen Judenstern um den Hals und löst damit eine ungewollte Lawine von Vorurteilen aus. Erst gibt es blöde Sprüche, dann stellt sogar Hamid ihre Freundschaft deswegen infrage. Dabei gerät Hamid selbst in Verdacht, ein Handydieb zu sein. So wimmelt es an der Schule plötzlich vor Vorurteilen, und trotz einzelner versöhnlicher Stimmen sind die Erwachsenen angesichts des grassierenden Rassismus zunehmend überfordert. So liegt es an Charlie, die ungläubig zwischen den Parteien steht, sich ins Zeug zu legen, um ihre zwei besten Freunde und die ganze Schule zur Räson zu bringen und nebenbei die Handydiebstähle aufzuklären. Damit das gelingt, braucht es natürlich ein dramatisches Finale. Im Unterschied zur Serie ist der Comic aus der Sicht von Charlie, dem einzigen Mädchen des Trios, erzählt. Zeichnerin Melanie Garanin hat den von Kinderbuchautor Andreas Steinhöfel («Rico und Oskar») verfassten Text kongenial ins Bild gesetzt. Bild- und Textebene überzeugen je für sich, aber auch in ihrem Zusammenspiel. Nah an jugendlichen Lebenswelten, hält die Erzählung gekonnt die Balance zwischen Ernsthaftigkeit und
Augenzwinkern. Mit 288 Seiten, sehr viel und zum Teil recht klein gedrucktem Text ist Völlig meschugge?! formal wie inhaltlich zwar eine durchaus fordernde, aber jederzeit lohnende Lektüre.

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Hanspeter Reiter

Comicoskop-Redakteur

Sophie Standing: … ist ziemlich strange

... ist ziemlich strangeVisualisieren als hoch relevantes Thema, in einem Begleitbuch fürs eigene Umsetzen oder fürs Begleiten im Umsetzen durch Fachleute, bei diesen Themen in aller Regel: Therapeuten. Doch auch diesseits von Therapie für Weiterbildner jeglicher Couleur sinnvoll nutzbar, sich anregen zu lassen! Geschrieben/getextet von unterschiedlicher Fach-Autorenschaft, alle illustriert von der selben Zeichnerin: Bis dato sind fünf Hefte erschienen, jeweils als Graphic Novel umgesetzt, im je gleichartigen Konzept – hier für Trauma kurz dargestellt: „Trauma ist ziemlich strange. Was ist ein Trauma? Wie verändert es die Funktionsweise unseres Gehirns? Und wie können wir es bewältigen, es überwinden und wieder ganz werden? Schafft Verständnis für die Betroffenen, unterstützt Helfer in ihrer Arbeit, hilft Betroffenen, sich und den eigenen Körper zu verstehen… Mit klugen Bildern und Katz- und Maus-Metaphern, grundlegenden wissenschaftlichen Fakten und einer gesunden Portion Humor erläutert Steve Haines, wie zur Heilung eines Traumas nicht nur die Psyche, sondern insbesondere auch der Körper mit einbezogen wird. Er zeigt Methoden und Übungen, mit denen Spannungen abgebaut und tiefe muskuläre Stressmuster gelöst werden können.“ Jeweils um 32 Seiten, variiertes Layout, meist mit Erklär-Texten im Panel, teils auch mit Sprechblasen, je sequenzielle Passagen: So gelingt Erklär-Comic auf beste Weise!

Manny Mercer et al.: Enzyklopädie der deutschen Micky-Maus-Hefte. Band VIII / 1959 – Das 1. Micky Maus-Halbjahr und die Verdienste der Erika Fuchs

Enzyklopädie der deutschen Micky-Maus-Hefte. Band VIII / 1959 – Das 1. Micky Maus-Halbjahr und die Verdienste der Erika FuchsOha, dieses Mal ist eine Menge mehr drin, in diesem nun schon achten Band der MM-Enzyklopädie – nämlich eine starke Analyse zum Einfluss der großen Erika Fuchs! Mehrere Autoren haben dazu beigetragen, u.a.: ich 😉 … Als Comicoskop-Redakteur habe ich die damalige Leiterin des Erika-Fuchs- Hauses und –Museums in Schwarzenbach a.d. Saale interviewt, als studierter Sprachwissenschaftler zentrale linguistische Momente des Wirkens der grande dame eingedeutschter Disney-Comics dargestellt. Eingedeutscht? Ja, denn sie hat weit mehr geschafft (und geschaffen!) als ein Übersetzen – sie hat im besten Sinne die Sprechblasen lokalisiert. So, genug verraten, Details lese Leser:in gefälligst selbst. Denn „das Buch zeigt auf 312 Seiten alle Cover und Rückseiten der Micky Maus-Hefte von 1959 und zu jeder Ausgabe die etwa fünf oder sechs wichtigsten Innenseiten – und das alles in Originalgröße und in den Originalfarben der uralten Hefte.“ Das allein genügt im Grunde, zuzugreifen. Doch weiter geht´s mit der oben genannten Besonderheit: „Wir haben in Band 8 das wissenschaftliche wie leidenschaftliche Vorwort Frau Dr. Erika Fuchs gewidmet, der wir mehr als nur perfekte Übersetzungen verdanken. Ein Sprach-Experte, eine Museums-Leiterin, ein mehr als fachkundiger Donaldist und der Autor selbst haben auf 25 Seiten die unsterblich gewordenen Verdienste der Frau Dr. Erika Fuchs zusammengetragen…“. Very special!

Ulrike Bauer-Eberhardt et al.: Die Bilderbibel aus Padua

Die Bilderbibel aus PaduaStrahlende Bilderwelten des Mittelalters erleben, so der Slogan dieses einzig verbliebenen Luzerner Faksimile-Verlags. Und diese auf 680 Exemplare weltweit strikt limitierte Edition ist ein bestensgelungener Beleg für diese Aussage. Denn „Das Alte Testament in 529 Bildern“ ist in diesem Faksimile exzellent wieder gegeben – in einer Bild(er)geschichte also: Im weitesten Sinne ein früher Comic, nämlich vom Ende des 14. Jahrhunderts. Das zeigt schon der Auszug in der Abbildung, dort auch das durchaus variable Layout erkennbar, das meist allerdings vier Bilder pro Seite zeigt. Alles im allem also „eine prächtige Bilderbibel: In Text und Bild verschmelzen auf einzigartige Weise die Vergangenheit der biblischen Geschichte mit der Gegenwart des Auftraggebers aus Padua um 1400….allesamt Teile des Weltkulturerbes. Unter der Lupe: Bilder wie in einem Film“ oder eben wie in seiner sequenziellen Abfolge von Bildern, mit begleitenden Texten unter dem jeweiligen „Panel“. (Mehr dazu hier) Zwar fehlen Sprechblasen, wie sie in manch anderer mittelalterlicher Bilderhandschrift durchaus auftreten (als Textbanderole in der Regel), doch gibt es durchaus kurze Texte in manchem Bild, meist Personen benamsend: Ein wenig den Begleit-Texten in manchem Comic entsprechend… Wieder ein feines Beispiel dafür, wie Bildgeschichten schon vor Jahrhunderten heutige Comics (besser: Graphic Novels) erahnen ließen!

Timur Vermes: Comic-Verführer

Comic-VerführerWow, ein feiner und gelungener Mix aus Ratgeber, Handbuch und tour d´horizon durch Geschichte und Genre der Comics (plus Graphic Novel und Manga)! Geboten sind „über 250 aufregende Empfehlungen und Abbildungen – durchgehend vierfarbig“, auf deutlich über 300 Seiten, gewidmet eben der Neunten Kunst… Oder schlicht anregende Lektüre mit einer Fülle an Einblicken in Comic-Themen quasi jeder Art: Drei Dutzend Artikel sind geboten, unterschiedlicher Länge, durchweg bebildert und mit Kurz-Verzeichnis der jeweils besprochenen Comics (bzw. Reihen) – dazu „Outtakes“, die kurz kommentiert derlei aufführen (S. 7 erläutert): „die …a) sich super verkaufen (die ich aber weniger gut finde), b) gut aussehen, aber mich erzählerisch nicht überzeugen, c) toll sind, aber leider nicht mehr leicht erhältlich“. Beiträge u.a. Wiedereinstiegsdrogen I bis IV / Ein Sattelfest: Lucky Luke und seine Enkel / Der rote Faden für den Blasendschungel /) / Die echten Reporter ohne Grenzen [Comic-Journalismus] / Panel, Splash & Gutter: Begriffe für Blasendrescher / Was steckt hinter der neuen Comic-Hoffnung? [Graphic Novel] / Die Sache mit den Mangas [sic!] / Mittendrin statt nur dabei (Comic-Künstlern beim Arbeiten) Schon diese zufällig (und dennoch bewusst 🙂 …) ausgewählten Überschriften zeigen, wie unterhaltsam der Stoff geboten ist – und wie „dennoch“ höchst informativ!

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Janek Scholz

Literaturwissenschaftler, PBI an der Universität zu Köln

Marcelo D’Salete: Mukanda Tiodora

Mukanda TiodoraIn der brasilianischen Comicszene gab es im November 2022 ein Highlight, auf das viele lange gewartet haben: Die Veröffentlichung von Marcelo D’Saletes neuem Comic Mukanda Tiodora. Nach Cumbe und Angola Janga beschäftigt sich der Autor ein weiteres Mal mit der Geschichte der Sklaverei in Brasilien und erzählt anhand der Titelfigur Tiodora von den Möglichkeiten und Schwierigkeiten, die 1866, 22 Jahre vor der Abschaffung der Sklaverei, für versklavte Personen bestanden, mittels Briefe miteinander in Kontakt zu treten. Tiodoras Brief muss zugestellt werden, doch diese Zustellung wird zum Abenteuer für Benê, der sich dafür von São Paulo bis zu den Kaffeeplantagen im Hinterland durchschlagen muss.

Wie immer verdichtet D’Salete verschiedene historische Zusammenhänge in seinem Comic und arbeitet mit einer überaus wirkmächtigen Bildsprache. Mukanda Tiodora setzt stark auf die Kraft des Bildes, Sprache tritt dabei fast in den Hintergrund. Das Besondere an D’Saletes Schwarz-Weiß-Stil ist das komplexe Blickregime: Wer blickt in welche Richtung? Wer sieht wen an (und wann)? Wer erblickt welches Detail? Die Blicke der Leser*innen werden dabei stets Teil des komplexen Gefüges aus erblicken und erblickt werden Der 220 Seiten starke Band enthält 45 Seiten Anhang, in dem sich neben historischen Karten und einer Zeittafel auch zahlreiche Fotos und ein Quellenverzeichnis befinden. Besonders außergewöhnlich sind aber zweifellos die sieben Briefe Tiodoras, die D’Salete zu seinem Comic inspirierten und die sowohl als Fotografie als auch als Transkript abgedruckt sind und den Band zu einem interessanten Forschungsgegenstand machen, sowohl in den Comic Studies als auch in den Geschichtswissenschaften. Doch auch ganz unabhängig von jeglichen Forschungsinteressen sei der
Band als bereichernde Lektüre wärmstens empfohlen!

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Lukas R.A. Wilde

Medienwissenschaftler, NTNU Trondheim

Tom King & Greg Smallwood: The Human Target

Jennifer Daniel: Das GutachtenEs ist mittlerweile ja fast schon eine feste Formel, nach der King Jahr um Jahr einen neuen legacy character von Marvel oder DC ausgräbt und dann seine ganz eigene, paranoid-psychologische Erzählweise mit mehr oder minder kurioser Superhelden-Continuity verbindet um so die merkwürdigsten narrativen Kippfiguren zu generieren. Nach Vision, Mister Miracle (meinem bisherigen Highlight) und zuletzt Strange Adventures wird nun also Christopher Chance, „The Human Target“, durch diese Maschine gejagt. King überblendet hier – doch nochmal verblüffend – eine hübsche Noir/Crime-Story im Brubaker-Stil mit Keith Giffens und J.M. DeMatteis‘ eher für Ulk-Humor erinnerte Justice League International-Ära (1987-89). Das ist an sich bereits ein wilder, äußerst lesenswerter Mix, beeindruckend wird das Ganze aber erst durch Greg Smallwoods Mise-en-page und Layouts, die so einzigartig und unkonventionell anmuten, dass man sie sofort in Parodien wiedererkennen könnte.

Lisa Frühbeis: Der Zeitraum/ A Fraction of Time

Der ZeitraumEigentlich bereits zum Jahresabschluss 2021 auf Tapas fertiggestellt, habe ich Lisa Frühbeis‘ 15teiliges Webcomic zu meiner Schande erst durch seine Prämierung mit dem diesjährigen GINCO-Award entdeckt. Die Autorin schöpft dabei das Potenzial digitaler Comics – und nochmal spezieller das serielle Scroll-Down von Tapas – voll aus. Dies aber so selbstbewusst, formal reduziert und ästhetisch präzise, dass Der Zeitraum wirklich eines der faszinierendsten Comics seit langem für mich ist. Auch inhaltlich entfesselt die Geschichte einer alleinerziehenden Mutter und Klavierkomponistin, die auf einer einsamen Insel ein Portal in eine Parallelwelt findet, gleich mit der ersten Folge eine ganz eigene Faszination; Lisa Frühbeis schafft es dabei ganz zauberhaft, Alltägliches mit mehr und mehr Fantastischem zu verbinden und beides zu ganz präzisen Aussagen und Charakterisierungen  zu bündeln. Als I-Tüpfelchen ist zudem alleine die innovative Bildsprache für Musikillustrationen einigermaßen spektakulär – eine wirklich ganz bemerkenswerte Geschichte, die mal wieder an das große Potenzial von Tapas erinnert!

James Tynion IV & Alvaro Martinez Bueno: The Nice House on the Lake

The Nice House on the LakeAuf James Tynion IV ist immer Verlass, eingespielte Genre-Formeln auf den Kopf zu stellen, hier: die „Cabin in the Woods“-trope, bei der am Ende nur eine Person überleben darf. Stattdessen beobachten wir hier einen 11köpfigen Freundeskreis bei der langsamen Realisierung, dass außerhalb ihrer Hütte im Wald die Apokalypse begonnen haben könnte und nur sie selbst gerettet und unsterblich sind, alles Dank ihres langjährigen Freundes Walter, der womöglich schon immer ein Alien ist. Rückblenden durch viele Jahrzehnte meditieren dabei in überraschender Tiefsinnigkeit und Ernsthaftigkeit über Freundschaften, Lebenswege und Lebensziele. All das wird auch noch sehr originell durch häufig wechselnde Erzählebenen – Dialogprotokolle, Email-Verkehr, Diagramme – trianguliert. Lange war ich nicht mehr so auf ein zweites (abschließendes) Trade Paperback gespannt wie hier.

COMFOR-LESEEMPFEHLUNGEN 2021 (TEIL 2/2)

Hier nun der zweite Teil der Leseempfehlungen (der erste Teil findet sich hier) – für genug Lesestoff für die nächsten Wochenenden ist also gesorgt. Wer auf Empfehlungen früherer Jahre zurückblicken möchte, findet diese hier.

Wir bedanken uns sehr herzlich für alle Einsendungen und wünschen hoffentlich entspanntes Lesevergnügen! Und im Sinne von alle Jahre wieder, würden wir uns auch im Dezember 2022 wieder sehr über Empfehlungen freuen!

 

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Hanspeter Reiter
Ulrich Schnakenberg, Wochenschau Geschichte: Geschichte in Karikaturen 1-3

 

„Karikaturen als Quelle“ sind hier versammelt, beginnend mit I „1945 bis heute“. Bestens aufbereitet, findet Nutzer den Cartoon jeweils auf der rechten einer Doppel-Seite, links dazu die didaktisch-methodischen Hinweise, sorgsam strukturiert, den meist erforderlichen Kontext erschließend und einen Deutungs-Vorschlag bietend. Dahin wird Leser/Lehrer/Moderator geführt, etwa zu „Tücken und Fallstricke der Karikaturarbeit“ (wie wirken Cartoons?), Einsatzmöglichkeiten und Auswahlkriterien der vorgelegten Karikaturen. Als Kopier-Vorlage folgen die Arbeitsschritte plus das (Blanko-)Analyseschema, dann Anregungen für Aufgaben. So kann Geschichts-Unterricht quasi lebendig(er) werden! Auch dem Nutzer mit persönlichem Interesse an Cartoons ist hier reiche Fülle geboten, Übergänge zum Comic inklusive, siehe etwa „Tagebuchblätter aus Vietnam“ (S. 32f.), in „Panels“ von 1939 bis 1965 führend… Weitere comicesk-sequenzielle Folgen finden sich z.B. S. 88f. (Karikaturen-Streit!) und 90f. „China – die Supermacht der Zukunft“, wieder als chronologische Entwicklung. „Das Buch präsentiert eine frische, unverbrauchte Auswahl von 50 internationalen Karikaturen der Jahre 1945 bis heute – von der Teilung Deutschlands über den Ost-West-Konflikt bis zu den umstrittenen „Mohammed-Karikaturen“ und zur EU-Verfassung. II 1900 bis 1945 – vom Imperialismus über die Weltkriege bis zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte. III 1800-190 in 4c: Neben diversen Cartoons in Farbe wird diese auch für die didaktischen Hinweise genutzt.

Quino, Carlsen: Mafalda

Da war mir bis dato aber was entgangen! Jedenfalls ist diese Figur ziemlich neu für mich – und ein Sammelband dieser Art besonders gut geeignet, derlei kennen zu lernen: Die Vielfalt wie auch die Entwicklung (inhaltlich der Charaktere wie auch zeichnerisch des Künstlers). Ja, diese 200 Seiten geballte Mafalda-Strips bieten ein Füllhorn – und zwar eines, das mehrfach zu genießen ist. Denn philosophische wie gesellschaftskritische Dialoge sind zugleich Spaß und nachdenklich Machend, unterhaltsam wie informativ: „Mafalda ist eine liebenswerte Nervensäge, denn sie ist ihren Eltern in vielem voraus: Sie tritt schon früh für Weltfrieden, Demokratie und Frauenrechte ein. Der Comic wurde 2014 mit dem Prinz-von Asturien-Preis (dem „spanischen Nobelpreis“) ausgezeichnet, weil er auf amüsante Weise „scharfsinnige Botschaften“ von „universeller Bedeutung“ transportiert.“ Manches mag an Figuren wie die der Peanuts erinnern oder auch Pogo. Strikt in Schwarzweiß (Zeitungs-Strips) mit variablem Layout (von eins bis zu maximal acht Paneln für eine Story, wenn ich richtig „mitgezählt“ habe). Für diesen wertigen Sammelband im Überformat, fest gebunden mit Fadenheftung und Leseband, sind die sorgsam ausgewählten Geschichten thematisch gereiht – alles mit viel Charme, Augenzwinkern und schon mal starke Äußerungen, durchaus im Sinnen von „Kindermund tut Wahrheit kund“ – und „dennoch“ immer liebenswert wie liebenswürdig…

Susanne Kuhlendahl, Knesebeck: Virginia Woolf – die Comic-Biografie

Ein durchaus eigener Stil zeichnet diese Graphic Novel aus, in mehrfacher Hinsicht: Da sind die flächigen Wasserfarben, zart-pastellig, wohl auch als Anklang an die Schreibe der biografierten Schriftstellerin. Davon abweichend ihre depressiven Phasen in Schwarz- und Grautönen. Die unterschiedlichen Schriftarten, um dreierlei zu differenzieren: Erzähler in Begleit-Texten (Gemeine), Zitate aus Woolfs Büchern (Versalien) und eher zurückhaltend Dialoge (Versalien in Sprechblasen). Die Panels sind freigestellt, auf Rahmen ist also verzichtet – was zudem im abwechslungsreichen Layout ein leichtes Ambiente fürs Betrachten ergibt… Und wie ist´s mit dem Übertragen des Literarischen ins Zeichnerische? „Das bewegte Leben der Autorin von Orlando, Mrs Dalloway und Ein Zimmer für sich alleine, erstmals umgesetzt als Graphic Novel: Auf feinsinnige Weise zeichnet diese grafische Biografie von Virginia Woolf ein detailliertes Bild einer der literarischen Größen des 20. Jahrhunderts und zeigt, wie eng ihr Leben mit dem Schreiben verwoben war.“ Das gelingt exzellent auch deshalb, weil „Alltag“ gleich mit Projekten abwechselt und eben Text-Zitate die entsprechende Transformation belegen. Konkret spiegelt sich das hier in ihrer Bisexualität, etwa der langjährigen Beziehung zu Vita in ständigem Auf und Ab.

Annette Köhn, Jaja: Verlagswesen.

Die (sic!) gibt´s reichlich in dieser Comic-Story von mehr als 130 Seiten, als Graphic Novel vierfarbig, großformatig, bibliophil gebunden. Und sie kommentieren reichlich, schauen der Künstlerin über die Schulter, soweit das von unten möglich ist: Damit nehmen sie eine Art begleitende Erzähler-Rolle ein, feine Idee… Wie so manch andere: Die Perspektive „hin zu den Lesern“ einnehmen – das Umfeld kennenlernen lassen (Personen siehe S. 4f.) – Zeichner(innen) einzubeziehen – alle Bereiche dieses (und damit „eines“) Verlages erleben zu lassen! Fein, zum 10.: „Anhand eines Tages im Februar 2020 erzählt Annettes Alter Ego, wie alles so beim Jaja Verlag läuft.“ Nebenbei lernt Leser einiges „inside“ – und sei es, dass der Verlagsname bitteschön korrekt mit kleinem „j“ in der Mitte zu schreiben ist, also „Jaja“ statt „JaJa“, was wohl gelegentlich (immer noch) passiert… Wie Falt-Kartons zu falten sind – wieder was gelernt! Oder a bissal selbstkritisch die Rolle einer Praktikantin  … Interessant natürlich auch für beruflich fokussierte Augen, von Kollegen und Kolleginnen durchaus auch jenseits von Comic-Verlagen. Wer Comics mag, ist hier bestens bedient: Vielseitiges Layout mit flächigen, meist eher pastelligen Farb-Tönen, wechselnde Dynamik je nach aktuellem Thema, Panels kreativ ausufernd oder stark strukturiert: Künstlerin am Werk, kaum ums Verlegen verlegen!

 

Janek Scholz

Universität zu Köln (Portugiesisch-Brasilianisches Institut)

André DinizDarkSide Books (Brasilien): Revolta da vacina

Mit „Revolta da vacina“ hat der brasilianische Comiczeichner André Diniz etwas geschafft, was viele sicher für unmöglich halten: Er hat in Zeiten allgemeiner Pandemiemüdigkeit einen Impfcomic vorgelegt, den man gerne liest, der mitreißend ist und der uns viel über die heutige Zeit erzählen kann. Indem er auf historische Geschehnisse rekurriert (die Hygienekampagnen Oswaldo Cruz‘ gegen Pocken, Gelbfieber und Beulenpest im Rio de Janeiro des frühen 20. Jahrhunderts), gelingt es Diniz, ein brandaktuelles Thema zu verhandeln, ohne sich in das Fahrwasser derzeitiger Debatten zu bewegen. Der Protagonist Zelito ist ein junger Zeichner mit großen Ambitionen, der nach dem Tod des Bruders vom Vater mit einer Galgenfrist nach Rio geschickt wird: Sechs Monate habe er Zeit, um zum „besten Zeichner der Welt“ zu werden und eine standesgemäße Verlobte zu finden. Ein ambitioniertes Ziel, das den jungen Zelito immer weiter in einen Strudel aus Verzweiflung und Radikalisierung treibt. Es herrscht ein Klima grassierender Aggression und zunehmenden Unzufriedenheit gegenüber den Pandemiemaßnahmen der Regierung, zu denen auch eine allgemeine Impflicht gegen Pocken zählt, das sich schließlich 1904 in der titelgebenden Revolte entlädt. Diese dient auch dem Protagonisten als Ventil, seiner Wut und Verzweiflung endlich Luft zu machen. Ein Comic, der historisch und doch aktuell ist und der aufgrund seiner detailliert ausgearbeiteten Metaebene auch Comicforschenden vielfältige Anknüpfungspunkte liefert: Nicht nur ist der Protagonist Zeichner und reflektiert folglich kontinuierlich die Möglichkeiten, als Zeitungskarikaturist Fuß zu fassen. Darüber hinaus liefert die Publikation auch einen Anhang mit einem Archiv aus vierzig Karikaturen der Zeit. Ein wahrer Schatz und für mich das absolute Comic-Highlight des ausklingenden Jahres 2021.

 

Lukas R.A. Wilde

Medienwissenschaftler, Universität Tübingen

N.K. Jemisin und Jamal Campell, DC’s Young Animal: Far Sector

Die Verlagsankündigung klang selbst ein bisschen wie Fan Fiction: Mit N.K. Jemisin sollte eine Titanin der ganz großen, konzeptlastigen SciFi-Literatur als Autorin für einen neuen Green Lantern-Titel gewonnen werden. N.K. Jemisin enttäuscht diese Erwartungen nicht und macht etwas komplett Eigenes und Einzigartiges aus den bekannten Prämissen: Mit der neuen Ringträgerin Sojourner Mullein wurde eine faszinierende Figur geschaffen, die in den fernsten Regionen des DC Universums – dem Far Sector – in v.A. politische Abenteuer geworfen wird. 20 Milliarden Bewohner*innen dreier radikal unterschiedlicher Spezies teilen sich hier eine Dyson-Sphäre, in der es dank Emotionsunterdrückungsdrogen seit 500 Jahren zu keinem Gewaltverbrechen mehr kam – bis Lantern Mullein einen grausamen Mord aufklären muss und in einen herrlich illustrierten Malstrom aus Noir-Elementen, Cyberpunk und politischen Intrigen gerät. Ihr eigentliche übermächtiger Ring wurde nicht nur ordentlich gedowngraded – und wird damit wieder spannend; die Konflikte sind ohnehin eher diplomatischer Natur. „Lang lebe Lantern Mullein!“

Devin Grayson und Alitha E. Martinez, Humanoids: OMNI

Und noch eine neue Heldin, auf die man viel zu lange warten musste! Dr. Cecelia Cobbina bringt locker die spannendsten Superkräfte der letzten Jahrzehnte ins Genre ein: Eine neunfache Super-Intelligenz permanent paralleler Denkprozesse, die in einer recht einzigartigen Medienspezifik übersetzt werden: Caption-Boxen unterschiedlicher Farben, die in ständigem Dialog miteinander die Seitenarchitektur durchziehen und den Lesenden unterschiedliche Pfade zwischen logisch-mathematischen, existenziell-philosophischen, empathisch-sozialen, visuell-räumlichen, lingusitisch-semiotischen oder körperlich-kinetischen Kognitionsprozessen anbieten und so einen ständigen, individuell aktualisierbaren „Chor“ erzeugen. Zeichnerin Alitha E. Martinez streut auch noch wunderbare Bildsymboliken und Piktogrammatik mit ein, um Dr. Cobbinas ausufernd komplexes Innenleben auch bildlich zu transkribieren. „What would you do if you could think faster than the speed of light?“

James Tynion IV und Martin Simmonds, Image: Department of Truth

Teils metaphysischer Thriller, teils Crime-Drama, unternehmen James Tynion IV und Martin Simmonds in dieser neuen Serie Spaziergänge in immer tiefere Abgründe altbekannter und hochaktueller Verschwörungstheorien, von der Mondlandung über Flat Earth bis zu Obamas Geburtsurkunden und Pizza Gate – und alles scheint natürlich auf QAnon zuzulaufen…! Tynion IV verdichtet dabei äußerst luzide Erkenntnisse über die mythische Macht dieser Erzählungen zu einem alptraumhaften Gewebe aus Phantastik und Horror, das zu einem guten Teil von Martin Simmonds (nur gelegentlich gegenständlichen) Gemälden und Collagen im Stile Dave McKeans getragen wird, ebenso wie von Aditya Bidikars unwirklichem Lettering. Keine sonderlich leichte Lektüre, und keine sonderlich angenehme, aber vielleicht, erschreckenderweise, eine Serie, die unheimlich viel zum Verständnis des hinter uns liegenden Jahres 2021 beizutragen hat.

COMFOR-LESEEMPFEHLUNGEN 2021 (Teil 1/2)

Alle Jahre wieder: Die Redaktion der Gesellschaft für Comicforschung wünscht ihren Leser_innen  und Freund_innen einen guten Start ins neue Jahr!

Wie jedes Jahr wollen wir den Leser_innen des ComFor-Blogs auch diesen Winter wieder aktuelle Leseempfehlungen von Comicforscher_innen präsentieren. (Die Leseempfehlungen der letzten Jahre finden sich hier.) – Auch 2021 gab es schließlich eine Vielzahl von Neuerscheinungen, die es sich im Blick zu behalten lohnt – obwohl auch in diesem Jahr mal dahingestellt sein soll, ob man nun Homeoffice- und Pandemiebedingt viel oder eher wenig Zeit zum lesen hatte.

Auch dieses Jahr haben wir unsere Mitglieder unter der Redaktion von Robin-M. Aust und Michaela Schober um ganz subjektive Lektüretipps gebeten, die aus den vergangenen zwölf Monaten im Gedächtnis geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer.

Da es schönerweise auch in diesem Jahr wieder eine Vielzahl von Einreichungen gab, die natürlich nicht in der Masse untergehen sollen, haben wir uns entschieden, die Leseempfehlungen erneut in mehreren Posts zu präsentieren – der zweite folgt dann in Kürze.

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Jörn Ahrens

Justus Liebig Universität Gießen

Richard Stark/Darwyn Cooke: Parker. Martini Edition.

Offensichtlich sind die Krimis von Richard Stark Klassiker, was ich nicht weiß, weil ich Krimis nur als Film oder Comic genieße. So darf ich endlich Parker kennenlernen, einen klassischen Protagonisten des Hardboiled Crime, mit dem Unterschied, dass es sich nicht um einen Privatdetektiv handelt, sondern um einen Gangster. Die Erzählungen sind gekonnt und clever und literarisch gewiss ein Genuss. Den wirklichen Furor aber erzeugt ganz gewiss die Adaption durch Darwyn Cooke. Cooke zeichnet in scheinbar flüchtigen, aber ungeheuer genau durchkomponierten Strichen. Die fehlenden Rahmenlinien seiner Panels ergeben sich wie von selbst aus den Panelkonturen, manchmal lässt er Linien in seinen Figuren und den Décors weg. Die harten schwarz-weiß Zeichnungen sind lediglich mit jeweils einer Kontrastfolie belegt, die sich nicht zwingend in die Objekte einpasst, sondern eher auf ihnen liegt wie Art Déco. Selten hat ein Zeichner so eindrücklich Bewegung umgesetzt. Bei wehenden Gardinen spürt man regelrecht den Wind, die Figuren bewegen sich in rasanter Geschwindigkeit; Cooke gelingt es, die Bewegungslosigkeit der Comic Panels nahezu aufzuheben. So schafft er zeichnerisch eine exzellente Atmosphäre für seine Kriminalgeschichten und schmiegt sich zugleich der Ästhetik der Erzählzeit an. Cooke ist 2016 mit 54 Jahren früh verstorben. Comics wie diese bräuchte es mehr.

Zidrou/Frank Pé: Marsupilami. Teil 1: Die Bestie.

Die Welle der Hommagen an frankobelgische Comic-Klassiker rollt unaufhörlich. Vor allem die Arbeiten André Franquins scheinen nach Historisierungen zu verlangen. Während Émile Bravo die Biographie Spirous und eine kongeniale Comicgeschichte des Zweiten Weltkriegs in Belgien erzählt (auch neu und toll: Spirou oder: Die Hoffnung. Teil 3), berichten Zidrou und Frank Pé von einem Marsupilami, das 1955 nach Belgien gelangt, in der tristen Nachkriegsumgebung aber nicht heimisch werden kann. Das Belgien in diesem Band ist trist, grau, misanthropisch, sehr klassenorientiert und überhaupt eine tendenziell unmenschliche Umgebung. Man fragt sich, wie in dieser Atmosphäre 1952 das Marsupilami im Spirou-Magazin erstmals in die Welt treten konnte. Im Band lächelt das Tier ein einziges Mal – als es schläft. Zugleich knüpft das Album an Franquins Ambitionen zu einer Zoologie des Marsupilami an und entwickelt behutsam eine Studie über ein mögliches Tier. Pés Zeichnungen sind routiniert und einfühlsam; an die École Marcinelle schließen sie an, ohne sie zu adaptieren. Das Buch hat ein ungewöhnliches, quadratisches Format und ist auf sehr dickem Papier gedruckt, was eher an einen Katalog als an einen Comic denken lässt. Diese Geschichte hat kein Happy End. Dem gebeutelten Jungen, der sich des Marsupilamis angenommen hatte, wird alles genommen. Aber es ist ja erst Teil 1…

Manuele Fior: Celestia

Manuele Fior ist einer der profiliertesten Künstler der jüngeren italienischen Comic Szene und steht v.a. für zeichnerische Umsetzungen seiner Stoffe, die einen stark lyrischen Einschlag haben. Celestia bleibt von der ersten bis zur letzten Seite rätselhaft. Angeblich spielt die Geschichte nach einer großen Invasion, vor der sich einige Menschen in eine Lagunenstadt dieses Namens retten konnten. Das Motiv, Nachkriegsszenarien zu entwickeln, denen man den Krieg nicht ansieht, ist in Italien verbreitet; auch Gipi hat es mehrfach genutzt. In Celestia tauchen weder der Krieg auf noch dessen Folgen. Dafür entwirft Fior eine Welt im und am Wasser, mit Protagonisten, denen wir uns anvertrauen, aber deren Motive wir nicht kennen. Da ist die Gruppe Telepathen, die vom Dottor geführt wird. Dessen Sohn kehrt ihnen den Rücken und zieht bald mit einer Renegatin dieser Gruppe durch die Stadt und die nahe Küstenlandschaft. Die leicht futuristisch inszenierte Welt wirkt verzaubert und bleibt ohne narrative Hintergründe. Die will man auch gar nicht wissen, sie würden nur stören. Vordergründig arbeitet Fior klassisch in Stripzeilen, nutzt aber atemberaubende Perspektiven, entzündet ein Feuerwerk an pastellhaften, meist sonnendurchfluteten Farben. Ein rasantes Buch, das eindrücklich zeigt, weshalb der Comic längst nicht tot ist.

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Dietrich Grünewald
Danijel Žeželj: Rotkäppchen

In düsterem, harten Schwarz-Weiß, stilistisch an expressive Holzschnitte erinnernd, erzählt der kroatische Künstler Danijel Žeželj (* 1966) in seiner Sicht das Grimmsche Märchen. Man muss genau hinschauen und, sich auf die atmosphärischen Zeichnungen einlassend, Panel für Panel, Seite für Seite verbinden und deuten, gewissermaßen im Kopf mitspielen. Žeželj erzählt ohne Worte, nutzt die auch ständig die Perspektiven wechselnde enge, filmische Bildfolge, um hoch emotional und spannend zeigend zu erzählen. Wir verfolgen die Pirsch des Wolfes, parallel Rotkäppchen auf ihren Umwegen durch den dichten Wald zum Haus der Großmutter, wo das Mädchen, abstrakt-symbolisch angedeutet, dem Raubtier zum Opfer fällt; begleiten wiederum parallel den Jäger, der schließlich im offenen Kampf den Wolf stellt und aufspießt, Großmutter und Rotkäppchen befreit… Die Bildfolge wirkt archaisch, mythisch, wenn – so ist mehr zu interpretieren anhand verweisender Bildzeichen als zu erkennen – am Schluss wohl das Mädchen und der Jäger zusammenfinden. Eine besondere Bildgeschichte, auf die sich einzulassen lohnt.

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Michael Heinze

Heinrich Heine Universität Düsseldorf

Ralf König: Vervirte Zeiten.

2020 hat Ralf König sein 40jähriges Comiczeichner-Jubiläum begangen und auch in diesem Jahr noch mit zahlreichen on- und offline veranstalteten Jubiläumslesungen gehalten. Damit gehört er klar zu Deutschlands alteingesessenen Comicautor*innen. Als die Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 Fuß fasste, begann König, seinen Fans auf Facebook täglich einen Vier-Panel-Comic zu offerieren, und wieder einmal waren es Konrad und Paul, das Kölner Paar aus intellektuellem Musiklehrer und sex-positivem Freizeitautor, die unser Leben durch die Pandemie begleitet haben.
Seit Jahrzehnten begleitet das Paar nicht nur die schwule Community und erlebt Höhen und Tiefen des Alltags. Wenn auch ein Pandemie-Tagebuch, so ist Vervirte Zeiten doch noch viel mehr. So geht es beispielsweise auch – wie schon im 2017 erschienenen Herbst in der Hose – um das Älterwerden, Lust und Liebe und den Alltag. Da sind die allzu Konservativen, da sind die Diskussionen über Maskenpflicht und Gegendemonstrationen, und wie immer gibt es klare Worte.
Von März bis Oktober hatte König den täglichen Comicstrip 2020 durchgehalten, sich dann aber wieder seinem Tagesgeschäft zugewandt. Doch schon im Februar 2021 erschien dann die Sammlung. Auch stilistisch hat sie einiges zu bieten, da das Vier-Panel-System dem Meister des konzisen Erzählens noch einmal eine neue Grenze auferlegt hat. Und seit einigen Wochen ist nun eine neue tägliche Comic-Reihe auf der Facebook-Seite des Autors zu finden.In «Das Unvermögen» erschafft Andreas Kiener eine futuristisch-dystopische Welt in zarten Pastelltönen. Im 23. Jahrhundert hofft die Eliste, alles Zukünftige – selbst den kleinsten Regentropfen – mittels enormer Computer vorhersagen zu können, während die Ressourcen der Erde aufgebraucht sind. Ihren Anfang nimmt die Geschichte dabei im Gebiet der heutigen Schweiz, was nicht explizit gesagt wird, aber klar zu erkennen ist. Hier macht sich die sechsjährige Ali nach dem Tod ihrer Grossmutter auf die Suche nach ihrer Mutter, die eine wichtige Rolle in der Entwicklung von Superrobotern gespielt haben muss. Die Reise führt sie nach Abidjan zur grössten Roboterproduktionsfirma. Als Begleiter kann Ali dabei auf ihren potenziell allwissenden Androiden in Gestalt eines lebensgrossen weissen Teddybären zählen. Die Geschichte lebt von der Beziehung dieser beiden, denn Ali muss den hochintelligenten Androiden immer wieder mahnen, ihr die Dinge so zu erklären, dass sie sie verstehen kann. Und obwohl sie aufgrund ihres Alters vieles noch nicht ganz versteht, gelingt es ihr mit Pfiffigkeit und Glück immer wieder, die Regeln zu umgehen, an die der Android sich aufgrund seiner Programmierung halten müsste. Und dann wird seine Batterie knapp … Die detailreichen Bilder laden zum mehrmaligen Betrachten ein, und da die Geschichte noch nicht abgeschlossen ist, ist auf eine Fortsetzung zu hoffen.

Baptiste Bouthier Héloise Chochois. 11 septembre 2001, le jour où le monde a basculé.

„Wo warst Du am 11. September?“ ist eine Frage, die in vielerlei Gesprächen in den letzten 20 Jahren gefallen ist. Und wir erinnern uns alle daran, müssen nicht einmal das Jahr erwähnen. Héloise Chochois und Baptiste Bouthier wählen eine etwas andere Perspektive auf diese subjektiv geprägte Erinnerung, indem sie die 1987 geborene Protagonistin Juliette am 20. Jahrestag des Anschlags nach New York reisen lassen und sich erinnern lassen, wie sie als 14-Jährige den Tag und die Folgen erlebte, an die Reaktionen der Mutter, zum Beispiel, aber auch an ihre Betroffenheit, die dennoch die Frage stellte: „Was bedeutet das alles?“
Erzählt werden Zeitzeugengeschichten, die aus anderen Medien schon hinlänglich bekannt sind, aber der sehr nüchterne Stil des Comics macht diese Erzählungen umso eindringlicher. Andreas Platthaus beklagt – nicht ganz zu Unrecht – in seiner Rezension in der F.A.Z., dass es erzählerisch nicht viel Neues gibt, und dass der Comic seinem Anspruch, eine Chronik zu sein, nicht gerecht werde, weil er nicht darauf eingehe, was in den 20 Jahren dazwischen zum Beispiel in Afghanistan geschehen ist. Platthaus liegt richtig, unterstellt man die Absicht zur Chronik, doch ich würde eher sagen, hier beschäftigen sich der Autor und die Zeichnerin mit dem Funktionieren der Erinnerung, mit Memorialkultur und unserer Wahrnehmung der Dinge in verschiedenen Lebensaltern. Und das tut der Band in herausragender Art und Weise.
Der Comic ist ebenfalls dieses Jahr auf Deutsch unter dem Titel 9/11 Ein Tag, der die Welt veränderte bei Knesebeck in München erschienen.

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Aleta-Amirée von Holzen

Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM

Andreas Kiener: Das Unvermögen

In «Das Unvermögen» erschafft Andreas Kiener eine futuristisch-dystopische Welt in zarten Pastelltönen. Im 23. Jahrhundert hofft die Eliste, alles Zukünftige – selbst den kleinsten Regentropfen – mittels enormer Computer vorhersagen zu können, während die Ressourcen der Erde aufgebraucht sind. Ihren Anfang nimmt die Geschichte dabei im Gebiet der heutigen Schweiz, was nicht explizit gesagt wird, aber klar zu erkennen ist. Hier macht sich die sechsjährige Ali nach dem Tod ihrer Grossmutter auf die Suche nach ihrer Mutter, die eine wichtige Rolle in der Entwicklung von Superrobotern gespielt haben muss. Die Reise führt sie nach Abidjan zur grössten Roboterproduktionsfirma. Als Begleiter kann Ali dabei auf ihren potenziell allwissenden Androiden in Gestalt eines lebensgrossen weissen Teddybären zählen. Die Geschichte lebt von der Beziehung dieser beiden, denn Ali muss den hochintelligenten Androiden immer wieder mahnen, ihr die Dinge so zu erklären, dass sie sie verstehen kann. Und obwohl sie aufgrund ihres Alters vieles noch nicht ganz versteht, gelingt es ihr mit Pfiffigkeit und Glück immer wieder, die Regeln zu umgehen, an die der Android sich aufgrund seiner Programmierung halten müsste. Und dann wird seine Batterie knapp … Die detailreichen Bilder laden zum mehrmaligen Betrachten ein, und da die Geschichte noch nicht abgeschlossen ist, ist auf eine Fortsetzung zu hoffen.

Bruno Duhamel: Niemals

In «Niemals» nimmt Duhamel die Folgen der Klimaerwärmung als Anlass der Geschichte sowie als dramatische Kulisse. Im bretonischen Fischerdorf Troumesnil lebt die alte Madeleine. Obwohl sie schon über neunzig und von Geburt an blind ist, meistert sie ihren Alltag noch gut allein. Standhaft weigert sie sich, ins Altersheim zu ziehen – selbst wenn der Bürgermeister sie noch so drängt und es dafür einen guten Grund gäbe: Jede Nacht erodieren mehrere Meter Küste, Madeleines Garten ist schon zur Hälfte im Meer versunken. Der Untergang steht buchstäblich vor ihrer Tür, es kann sich nur noch um Tage handeln, bis auch ihr Häuschen ins Meer rutscht. Da Madeleine fest entschlossen ist, ihr Haus niemals zu verlassen, greift der Bürgermeister nicht zuletzt aus Sorge um seinen Ruf zu billigen Tricks – was wiederum Madeleine ergrimmt. Der Zwist nimmt immer absurdere Formen an und persifliert das Beamtentum. Auf dem Höhepunkt des Dramas soll Madeleine in einer stürmischen Nacht mit Zwang aus dem Haus geholt werden. Es gelingt ihr aber, einem der Feuerwehrmänner ihre Beweggründe für ihre Unbeugsamkeit verständlich zu machen. Visuell der ligne claire verpflichtet, lässt Duhamel eindrücklich und mit satirischem Blick Sicherheitsdenken und Selbstbehauptung aufeinanderprallen und wirft Fragen auf, für die es keine einfachen Antworten gibt. Mit Madeleine hat er eine Protagonistin geschaffen, die einem lange im Gedächtnis bleibt.

Serena Blasco, nach Nancy Springer: Enola Holmes 1: Der Fall des verschwundenen Lords

An ihrem 14. Geburtstag wird Enolas Name (rückwärts «alone») zum Programm. Denn ihre Mutter verlässt das Haus und ist nicht wieder auffindbar; selbst Enolas grosse Brüder – keine Geringeren als Sherlock und Mycroft Holmes – kommen nicht weiter. Und mit der auf dem Land aufgewachsenen Schwester wissen die Männer auch nichts anzufangen, ausser sie in eine Töchterschule zu stecken. Zum Glück aber hat ihre Mutter Enola konsequent zur Selbstständigkeit erzogen – und sie hat Hinweise hinterlassen, die nur Enola entschlüsseln kann. Daher reist Enola lieber allein allein nach London, wo sie verkleidet ein eigenes Detektivbüro eröffnet und auf der Suche nach ihrer Mutter nebenbei einen entführten Jungen rettet. Mit Cleverness und Kühnheit lässt das junge Mädchen die gestandenen und in Geschlechterfragen zu Engstirnigkeit neigenden Detektive ziemlich alt aussehen. Die im französischen Original seit 2015 erschienenen Comics halten sich dabei in der Handlung viel näher an der gleichnamigen Buchvorlage (2006–2010, dt. ab 2019) der englischen Autorin Nancy Springer als die Netflix-Verfilmung von 2020 (Regie: Harry Bradbeer). Während das nur von Gaslaternen beleuchtete, dunkle und armutsverseuchte London aus dem Buch im Comic (wie übrigens im Film) kaum sichtbar wird, setzen Serena Blascos schwungvolle, in starken Pastelltönen gehaltenen Aquarellzeichnungen Enolas Esprit und eine gewisse Eigenwilligkeit visuell gelungen um.

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COMFOR-LESEEMPFEHLUNGEN 2020 (TEIL 3/3)

Auch im letzten Teil unserer Reihe haben wir spannende Leseempfehlungen unserer Mitglieder. Wir bedanken uns sehr herzlich für die Tipps sowie die Rezensionen! Sollte Ihnen im heurigen Jahr bei Ihrer Lektüre etwas besonders ins Auge stechen, behalten Sie es im Hinterkopf: 2022 kommt bestimmt, und damit auch die nächste Bitte der Redaktion um Empfehlungen!

Die Leseempfehlungen der letzten Jahre finden sich hier.

Den ersten Teil der Comfor-Leseempfehlungen 2020 finden Sie hier.

Den zweiten Teil der ComFor-Leseempfehlungen 2020 finden Sie hier.

 

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Jennifer Neidhardt

Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Lore Olympus (Webtoon)

„Witness what the gods do…after dark.”

Eines meiner absoluten Comic-Highlights der letzten Jahre ist Rachel Smythes Lore Olympus. Der Webcomic ist mit seinen über 300 Millionen Views der erfolgreichste Comic des Onlineportals Webtoon und kostenlos zugänglich. Momentan ist sogar eine animierte TV-Adaptation durch die Jim Henson Company in Planung.

Lore Olympus ist eine moderne Neuerzählung des griechischen Mythos von Hades und Persephone, in der die klassische Vergangenheit mit der Gegenwart verschmilzt. Die farbenfroh gestalteten Göttinnen und Götter dieser Welt gehen zur Universität, fahren Sportwagen und kommunizieren über Smartphones und Zoom-Meetings, während sich die menschliche Welt noch in der Antike befindet. Die Unterwelt wird so zu einer modernen Metropole und ihr Herrscher Hades zu einem überarbeiteten (und liebenswerten) Firmenchef, der sich auf einer Party in die junge Studentin Persephone verliebt.

Trotz der Einordnung des Comics als romantische Komödie behandelt er komplexe Themen wie Trauma, Missbrauch und Vergewaltigungen und zeigt die griechischen Göttinnen und Götter so von ihrer verletzlichsten und menschlichsten Seite. Die Emotionen der Figuren werden durch die expressionistische Farbgebung und den geschickten Einsatz des Webcomic-Mediums auf eindrucksvolle Weise zum Ausdruck gebracht. Durch miteinander verschmelzende, vertikal gelesene Panels und gelegentliche musikalische Begleitungen werden Leser*innen so auf intimste Weise in das Innenleben der Figuren gezogen.

 

Hanspeter Reiter

Comicoskop

Yuval Noah Harari, Daniel Casanave, David Vandermeulen und C.H.Beck: Sapiens – der Aufstieg

So geht gelungener Sach-Comic! Ein diesem Verlag durchaus angemessenes Großformat-Hardcover von knapp 250 Seiten, Entwicklung und Sein des Homo Sapiens in einer variantenreichen, kunterbunten vierteiligen Graphic Novel. Den Anfang macht „Sapiens. Der Aufstieg“. Als Story mit wechselnder Perspektive präsentiert, verstehen ggf. auch schon Kinder besser, was alles passiert ist, hin zum beginnenden Anthropozän. Darin tritt Yuval Noah Harari selbst auf und analysiert gemeinsam mit seiner Nichte Zoe vergnüglich wie informativ etwa das Schicksal der Neandertaler, schaut sich die Gameshow «Evolution» an und verfolgt die Abenteuer von „Prehistorik Bill“. Durchaus Augen zwinkernd, doch ernsthaft-fundiert auch und gerade für Erwachsene, Farben differenzierend einsetzend – und mit vielerlei Selbstbezügen zum Medium Comic: Da gibt es den Stil der Familie Feuerstein (S. 124ff.) und generell Anklänge an Tim und Struppi (etwa Frau Prof. Sarawati à la Bianca Castafiori) – oder à la Superman Den Doctor (Who?!) Fiction mit Augmented- und Virtual-Reality-Fähigkeiten (S. 81ff., zudem schwarz und eher androgyn): Leser werde selbst mit mehr fündig J … Und freue sich auf die Fortsetzung(en)! Weiter geht´s mit „Der größte Schwindel aller Zeiten – oder wie Super Sapiens vom Weizenmonster übers Ohr gehauen wurde!“.

 

Moritz Stetter: Mythos Beethoven

Fast in Vergessenheit geraten, in Zeiten wie diesen: Das Jubiläums-Jahr 250. Geburtstag Beethovens. Hiermit meldet er sich zurück, als Comic-Biografie von knapp 100 Seiten, als Graphic Novel zum “Revolutionär und Erneuerer“. Ein feines, variables Layout, gewaltig daher kommenden Bildern mit dickem Strich und flächigen Farben. Die Kapitel sind an Musik-Begriffe angelehnt: Präludium – Pathétique – Eroica – La Malinconia – Pastorale – Appassionata – Postludium – Ode an die Freude. „Ganz nach dem Rhythmus Beethovens gestaltet, erkundet die Erzählung in ausgewählten Episoden wichtige Stationen des Komponisten. Sein überragendes Talent und seine Beliebtheit beim Publikum werden ebenso thematisiert wie seine Überheblichkeit gegenüber seinen Zeitgenossen und Gönnern und der allmähliche Verlust seines Gehörs.“ Und sein dennoch (gerade deshalb?!) sensationelles Komponieren… „Gleichzeitig wird aber auch die Rezeption von Beethovens Werk nach seinem Tod behandelt sowie das ikonenhafte „Beethoven-Künstlerbild“ hinterfragt.“ Klischees aufgreifend also und zugleich diskutierend. Mit einem erhellenden Nachwort von Ariana Zustra S. 93ff. „Der Mythos Beethoven“, Ihres Zeichens u.a. Chefredakteurin des #beethoven Magazins. Und vielerlei Original-Zitaten von Zeitgenossen wie aus Veröffentlichungen über Beethoven, jeweils als Fußnote benannt und im Quellenverzeichnis zusammen gefasst: Ein bestens gelungenes Kunstwerk – so ist Comic „Neunte Kunst“, auch und gerade für eine Gattung der anderen, Musik! Hier integriert durch vielerlei Noten-Zitate, teils gar aufwändig eingezeichnet – so hat der Meister selbst mitwirken dürfen J … Eine Ode an Beethoven, dem Leser/Betrachter funke(l)nd schöne Freude bietend, visuell und zugleich – voll tönend, fast synästhetisch…

 

Martin Stark: Der Ring des Nibelungen, nach Richard Wagner

Bilderbogen haben (vor allem im 19. Jahrhundert) Geschichten erzählt, eben primär visuell, textlich nur ergänzend – Vorläufer der US-Comics, die ja lange Zeit als ganzseitige, großformatige Seiten der Sonntags-Zeitungen daher kamen. Diese Tradition hat die Büchergilde nun aufgegriffen und bringt nach und nach moderne Bilderbogen heraus. Hier in einem aufwändigen Konvolut gleich mehrere, die je eins der Werke Richard Wagners aus dem kompletten Zyklus „erzählt“: „Unter- und überirdische Verwicklungen voller Liebe, Drama, Neid und Gefahren und nicht weniger als eine neue Weltordnung. Mit dem Ring schuf Wagner eine generationenübergreifende Geschichte, die eine Aufführungszeit von über 16 Stunden erreicht.“ Der Illustrator Martin Stark hat nun in expressionistischem Stil den Opernzyklus auf vier Bilderbogen umfassend verbildlicht, wahrlich sequenziell. „En goldener Faden führt dabei erzählerisch durch die Handlung der Bilder, die Libretti sind in voller Länge abgedruckt und ein fünfter Bogen erklärt den Stammbaum der Figuren. Wagalaweia!“ Natürlich ein absolutes Schmankerl für jeden Opern- resp. Ring-Fan, fürs häusliche Erleben: Wer mag, kann die Bogen natürlich auch gerahmt an der Wand präsentierten – doch im Grunde ist das eine Graphic-Novel im besten Sinne, eben in Einzel-Bögen aufbereitet… „Jeder der fünf großformatigen Bogen funktioniert anders… Die Leserichtung gibt ein goldener Faden vor, der sich durch das Schwarz-Weiß der Zeichnungen zieht.“ Initiiert und begleitet übrigens von einer Cosima – statt Wagner hier Schneider, der Herstellungs-Leiterin der Büchergilde J …

 

Aleta-Amirée von Holzen

Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM

Drew Weing: Die geheimnisvollen Akten von Margo Maloo

„Margo Maloo“ ist eine erfrischende und gleichwohl nostalgisch angehauchte „Monster in der Stadt“-Story für Kinder. Charles, der kindliche Protagonist, ist wenig begeistert, als er mit seinen Eltern in die Metropole Echo City zieht, weil sein Vater dort ein heruntergekommenes Hotel restaurieren soll. Nicht nur ist der Kasten baufällig, sondern zudem von einem Monster bewohnt. Von Nachbarjunge Kevin erhält Charles die Visitenkarte von Margo Maloo, Monster-Mediatorin. Zu Charles‘ Begeisterung entpuppt sich die gleichaltrige Margo als coole Troubleshooterin zwischen den Welten, ist doch die ganze Stadt vom Briefkasten bis zum Abwassersystem von allerlei Monstern unterwandert. An der Seite dieser souveränen Heldin glaubt Möchtegern-Reporter Charles den Stoff für eine Knüller-Reportage gefunden zu haben – obwohl er versprechen muss, niemandem etwas zu erzählen. Nur wir LeserInnen dürfen über Charles‘ witzige Einträge in seinem Erlebnistagebuch und seinem Blog schmunzeln. Und da Monster im Grunde auch (fast) nur Menschen sind, geht es nie darum, sie zu bekämpfen oder unschädlich zu machen. Vielmehr findet Margo für den jeweiligen Konflikt stets eine diplomatische Lösung – mit dem Hotelmonster lautet diese Actionfiguren-Tauschen. Der erste Band umfasst drei Geschichten; der nächste ist in Vorbereitung. Auf der Homepage des Autors gibt es auf Englisch schon weitere Abenteuer auszugsweise zu lesen.

 

Martin Panchaud: Die Farbe der Dinge

Die Farbe der Dinge wurde gleich zwei Mal empfohlen – einmal von Aleta-Amirée von Holzen und einmal von Lukas R.A. Wilde. 

Ein Unglück-im-Glück-Dilemma steht am Beginn von „Die Farbe der Dinge“: Der 14-jährige Londoner Simon, ein typisches „no hope, no future“-Kid, setzt bei den Pferdewetten tausend Pfund, aus Vaters Sparbüchse entwendet, auf einen Aussenseiter und gewinnt: 14 Millionen! Dumm nur, dass er zu jung ist, um den Gewinn auszulösen. Die Eltern kann er nicht fragen, denn gleich darauf liegt die Mutter nach einem tätlichen Angriff im Koma, der Vater befindet sich wohl auf der Flucht. Um ihn zu finden, nimmt ein ehemaliger Liebhaber der Mutter Simon mit auf einen kurzen Road Trip … Wem in dieser Welt voller (Un-)Glücksritter und Geschäftemacher kann Simon mit dem Los in der Tasche trauen? Simon scheint einfach kein Glück zu haben, doch schliesslich erscheint als abstruser „deus ex machina“ ein explodierender gestrandeter Wal. Martin Panchaud erzählt diese filmreife Geschichte spektakulärerweise in einer, so würde man meinen, absolut der Nüchternheit verpflichteter Darstellungsweise, nämlich allein in Infografiken. Die Figuren sind bunte Punkte, denen man aus der Vogelsperspektive zusieht, wie sie sich durch Pläne bewegen (ähnlich gewisser Game-Optiken); einige gut platzierte zusätzliche Infografiken informieren etwa über das Schmerzlevel bei Faustschlägen oder die Überlebenschancen von Walen. Dieses Gestaltungsprinzip setzt der Künstler beeindruckend einfallsreich wie konsequent um und schafft so eine aussergewöhnliche Graphic Novel.

 

Lukas R.A. Wilde

Medienwissenschaftler, Universität Tübingen

Martin Panchaud: Die Farbe der Dinge

Die Farbe der Dinge wurde gleich zwei Mal empfohlen – einmal von Aleta-Amirée von Holzen und einmal von Lukas R.A. Wilde. 

Die Farbe der Dinge ist schon auf den ersten Blick so ungewöhnlich, dass der Einstieg nicht ganz leichtfällt. Anstelle von szenischen Zeichnungen greift Panchaud ausschließlich auf Diagramme, Infografiken und schematische Kartendarstellungen zurück; seine Progatonist*innen werden exklusiv durch komplementärfarbige Kreise repräsentiert. Damit erschließt sich der Autor eine geradezu unverschämte Palette an neuen Darstellungsmitteln, hinter denen eine manchmal absurd-komische, zumeist aber schmerzhaft-tragische Coming of Age-Story prosaisch eingekleidet wird. Simon Hope, 14 Jahre, gewinnt am gleichen Tag 16 Millionen Pfund beim Pferdewetten, an dem seine Mutter ins Koma fällt und sein gewalttätiger Vater spurlos verschwindet. Trotz der kühlen, distanzierten Optik will Die Farbe der Dinge sehr ernsthaft erzählen, oft sogar in quälend langwierigen, tastenden Dialogen. Ein widerständiges, oft anstrengendes, mitunter auch spektakuläres Buch, an das man sich lange erinnern wird. Als kleines Gimmick zum Abschluss sei an dieser Stelle auch auf Panchauds humorvolle Adaption von Star Wars: A New Hope im gleichen Vokabular verwiesen: https://swanh.net.

 

Mariko Tamaki und Steve Punch: Harley Quinn: Breaking Glass – Jetzt kracht’s!

Harley Quinn in allen Medien! Nachdem der Frühjahrskinofilm trotz wohlgemeinter Ansätze nicht so wirklich aufging überzeugte die neue Harley-Animationsserie mit immer neuen überraschenden Wendungen und Figurenaspekten in konsequent durchgehaltener Cartoon/Comedy-Tonalität. Die alleinstehende Graphic Novel Breaking Glass schlägt einen anderen Weg ein und lässt mit Großmeisterin Mariko Tamaki endlich eine Comic-Gigantin an die Figur, die sie völlig neu erfinden kann – und den Rest von Gotham City gleich mit! Was früher wohl einfach „Elseworld“ genannt worden wäre – Breaking Glass erschien unter DC’s Label „Ink“, heute „Graphic Novels for Young Adults“ – macht schon nach wenigen Seiten vergessen, dass Harley nicht schon immer eine 15jährige Ausreißerin war, die in einem schillernden Drag-Palast voll hinreißender Nebenfiguren erwachsen wird. Nicht nur die Neuinterpretation von („Poison“) Ivy als aufgeklärte Aktivistin, auch Tamakis Abrechnung mit dem Joker machen es fast unmöglich, dieses Figurenensemble noch einmal mit den gleichen Augen zu sehen – oder sich mit weniger komplexen Fassungen zufrieden zu geben! Wer den perfekten Einstieg in etablierte Comic-Topoi für Skeptiker*innen sucht, findet hier ein echtes Juwel.

 

Darcy Van Poelgeests und Ian Bertrams: Little Bird – Der Kampf um Elders Hope

 Little Bird ist die vielleicht merkwürdigste Eisner-Auszeichnung dieses Jahres; zugleich zeitlos und völlig aus der Zeit gefallen mutet dieses Mini-Opus nach einem vergessenen Kult-Comic der 1980er Jahre an. Auf der Handlungsebene haben wir es mit einem dystopischen Regime des „New Vatican“ zu tun, das mit erzkonservativer Rute über ein American Empire wacht! Man kennt, was folgt: Indigene Widerstandskämpfer*innen, genmodifizierte Supersoldaten und grotesker Body Horror. Erzählerisch spielt Szenarist Darcy Van Poelgeests schamlos, und nicht immer nur elegant mit Genreversatzstücken, Pathosformeln, Archetypen, und unverhohlenen Klischees. Doch was Zeichner Ian Bertrams und Kolorist Matt Hollingsworth aus diesen Prämissen hochkochen lassen, muss man selbst gesehen und gelesen haben! Sie setzen nicht nur auf symbolschwere, surreale Verfremdungen, sondern verbinden amerikanische Traditionen (v.A. Geof Darrow, Frank Quitely) auch brillant mit frankobelgischen Phantasmagorien à la Möbius zu einem referenzwürdigen Bilder- und Panelrausch. Das ist Character Design und World Building, wie man sie nur im Comic findet, und auch hier nur selten in dieser Intensität – einzelne Splash Pages und Sequenzen brennen sich geradezu ins visuelle Gedächtnis.

 

Robin-M. Aust

Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Ralf König: Frankenstein

Als neuester Band der insgesamt durchweg interessanten und hochkarätig besetzten Grusel-Literaturcomic-Reihe Die Unheimlichen (hrsg. v. Isabell Kreitz) erschien kürzlich Ralf Königs Frankenstein-Adaption – hier treffen sich also zwei Herren, die bereits für sich genommen eine ungemeine Wirkung in der Popkultur bzw. Comicwelt entfalten konnten. Nach einigen insgesamt durchweg guten, teils aber relativ analogen und leider kurzen Literaturadaptionen der Reihe legt König nun ein konzeptuell und inhaltlich ambitioniertes Werk vor: seine sehr freie Transformation fungiert teils als Metatext zu Mary Shelleys Frankenstein-Erzählung. König verzichtet dabei unerwarteter- aber schönerweise auf die typischen, popkulturellen Frankenstein-Horror-Klischees und erzählt stattdessen eine einfühlsame Geschichte von Einsamkeit und Verlust, von der Sehnsucht nach dem perfekten Gegenstück, und zeigt dabei, dass die Triebfeder menschlichen Strebens manchmal einfach nur die Suche nach Liebe ist, selbst wenn diese gegen gesellschaftliche Normen oder eine göttliche Ordnung verstoßen mag.

Nicolas Mahler: Ulysses

Auch Nicolas Mahler fügt seiner eigenen Reihe von Literaturadaptionen einen weiteren Titel hinzu: nach Alice in Sussex, Alte Meister, Der Mann ohne Eigenschaften und Auf der Suche nach der verlorenen Zeit folgt nun mit Ulysses nach James Joyce ein weiteres Schwergewicht der Weltliteratur. Wie auch schon teilweise in früheren Transformationen geht Mahler mit seinen Prätexten ziemlich frei um – was angesichts der Vorlage vermutlich auch nicht anders möglich wäre: Aus Leopold Bloom wird Leopold Wurmb, aus Dublin wird Wien und aus Ulysses wird ein Comic über… ja, nun, über was eigentlich? Dazu müsste ich vermutlich eine genaue Idee haben, worum es überhaupt in Joyces Original geht. Auf jeden Fall geht es in dieser Transformation um Verlorenheit, Monotonie, Alkoholismus und sexuelle Leistungs(un)fähigkeit – nicht ganz untypisch für Mahler-Comics. Konzeptuell greift Mahler hier auf eine Technik zurück, die er bereits ähnlich auch für seine Gedichtbände Dachbodenfund, Solar Plexy und In der Isolierzelle verwendete, die aber auch in gewisser Hinsicht zur referentialistischen Vorlage Ulysses passt: Teile des Text- und Bildmaterials sind aus Werbeanzeigen und Annoncen des Wiener Neuigkeits-Welt-Blatt collagiert. Das hebt einerseits die Skurrilität dieser Anzeigen hervor (und liefert dem Freund von Jahrhundertwende-Kuriosa einiges an Material). Es macht Ulysses (wie schon Alice in Sussex) andererseits, in Kombination mit vielen Cameos bekannter früher Zeitungsstrip-Protagonisten, zu einer schwanengesangesken Hommage an das Massenmedium schlechthin, dessen Zeit nun langsam zu Ende geht: die Zeitung.

Peter Kuper: Kafkaesque. Fourteen Stories

Auch Peter Kuper widmet sich in seiner neuesten Erscheinung einem ›alten Bekannten‹: Nachdem er 2003 bereits eine höchst gelungene und vielschichtige Adaption von Die Verwandlung vorlegte und einzelne Strips zu anderen Erzählungen Kafkas veröffentlichte, folgt nun mit Kafkaesque eine Zusammenstellung von Adaptionen eher kürzerer Kafka-Texte: neben vielen weiteren werden Der Bau, Der Kübelreiter, Ein Hungerkünstler und Vor dem Gesetz auf wenigen, aber eindrücklichen, detailverliebten und symbolisch wie erzählerisch komplexen Seiten ins visuelle übertragen, teils in relativ analogen Adaptionen, teils in stark konzeptuellen Umdeutungen. In der Strafkolonie bekommt dabei den meisten Platz eingeräumt. Die vermutlich interessanteste Transformation nimmt Kuper aber in seiner Variante von Die Bäume vor: in wenigen Bildern deutet Kuper Kafkas Vier-Satz-Erzählung in eine bedrückende hegemonie- und kapitalismuskritische Bilderzählung um – eine Deutungslinie, die sich nicht nur durch die anderen Adaptionen in Kafkaesque zieht, sondern die er auch schon an Die Verwandlung anlegte und die auch sein sonstiges Werk bestimmt.

COMFOR-LESEEMPFEHLUNGEN 2020 (TEIL 2/3)

Den ersten Streich an Leseempfehlungen für 2020 haben wir bereits gepostet, und der zweite folgt sogleich. Unsere Mitglieder haben im vergangenen Jahr anscheinend doch die eine oder andere Minute zum Lesen gefunden und uns eine ganze Reihe an spannenden Empfehlungen zukommen lassen. Hier nun der zweite Teil; der dritte folgt am kommenden Montag (edit: am Donnerstag, dem 21.01.).

(Die Leseempfehlungen der letzten Jahre finden sich hier.)

 

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Laura Glötter

Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Sean Murphy: Batman: Curse of the White Knight

Mit Batman: Curse of the White Knight (2020) liefert Sean Murphy die Fortsetzung zu seinem vielfach gelobten Batman: White Knight (2019), das nicht nur mit einer extensiven Rogues Gallery, sondern darüber hinaus mit einer komplexen Handlung auftrumpfte. Im Fokus standen dabei die Gentrifizierung Gothams, Bruce Waynes Verstrickungen darin sowie der Einblick in Jokers Psyche. Mit Curse of the White Knight nimmt Murphy genau diese Fäden wieder auf, doch widmet er sich nun vor allem dem Ursprung der Stadt und damit einhergehend der Geschichte der Waynes. Die Basis für Batmans Abenteuer bildet erneut der im ersten Teil geschickt aufgebaute Populismus sowie die verwobene Beziehung zwischen Harley Quinn, Joker und Batman. Dass Murphy in seiner Fortsetzung jedoch den Joker in den Hintergrund rückt und Azrael die Bühne überlässt, ruft freudige Erinnerungen an die 1990er Reihe Knightfall hervor, ohne dabei repetitiv zu wirken. Das kantige, düstere Artwork, das ebenfalls von Murphy stammt und durch die Kolorierung Matt Hollingsworths ergänzt wird, zeichnet sich durch scharfe Schraffuren aus und konzentriert sich, trotz zeitweiligem Minimalismus, vor allem auf die Mimik der Figuren.
Obwohl Murphy bei seinem Charakter-Design Größen wie Tim Burton oder Frank Miller folgt und ebenfalls mit dem Bruch der für Batman typischen Regeln spielt, komponiert er den Batman-Mythos, der sein Finale 2021 im dritten Teil finden wird, doch neu.

 

Dietrich Grünewald
Max: König Kohle

Ein anthropomorpher Vogelakteur schreitet ins Bild, sieht eine Linie, nimmt sie hoch und wickelt sie auf. Der Knäuel wird dick und dicker und zieht dabei so etwas wie ein sehr reduziert gezeichnetes Bergmassiv heran. Die Linie reißt, die Bergwelt verselbständigt sich, wird zum Handlungsort einer Geschichte. Max (d.i. der spanische Comickünstler Francec Capdevila) hat uns mit seinem textfreien Bildroman ein subtiles, vielschichtiges Grafik-Spiel geschenkt, das selbstreferentiell mit der Kunst der Zeichnung und der Bildgeschichte umgeht. Die Linie mag den sprichwörtlichen Erzählfaden einer Geschichte andeuten, der dann zur zeichengebenden Kontur wird. Die Idee, mit einem Stück Kohle einen Schatten-Umriss an der Höhlenwand festzuhalten, referiert auf eigene Art die bekannte Entstehunglegende der Malerei nach Plinius und mag zugleich an Platons Höhlengleichnis erinnern. Bild für Bild, Seite für Seite präsentiert Max eine lieare Geschichte, die demonstriert, wie reich bereits die einfachste Zeichnung sein kann, bewegt, lebendig, abstrakt und überraschend, witzig und dramatisch – bis hin zur Papierpuppenbühne. Große Comickunst für ein genussvolles Seh-Vergnügen.

 

Isaac Wens (Z)/Sylvain Venayre (Sz): Auf der Suche nach Moby Dick

Melvilles weltberühmter und berührender Roman ist schon vielfach als Comic adaptiert wurden, vom Illustrierten Klassiker Nr. 17, dem illistrierten Bestseller von Pelikan (Xenos) bis zu Eisners Moby Dick (dt. Ehapa 1998). Selbst als Mischung von Comic und Pop-up-Buch gibt es die Geschichte (Sam Ita; dt. Knesebeck 2009). Und doch: was Wens und Venayre hier vorlegen, ist keine übersetzte Nacherzählung, sondern ein kongeniales Werk, das nicht nur Melvilles Geschichte neu und spannend zu verfolgen präsentiert, sondern auch den Blickpunkit verändert, den Roman und seine Geschichte selbst thematisiert, uns motiviert weit, tiefergehend, über die spannende Handlung hinaus zu sehen. Ein wahres Denkmal für Melville und für den Wal.

 

Andrea Serio: Rhapsodie in Blau

1938 – Mussolini erlässt für Italien die Rassengesetze, was dazu führt, dass der Ich-Erzähler Andrea Goldstein seine Schulbildung nicht abschließen kann, aus seinem Freundeskreis gerissen wird und von seiner Familie in Sicherheit, in die Obhut einer Tante nach New York verschifft wird. Denn Andrea ist Jude. Er nennt sich jetzt Andrew, gewinnt in den USA ein neues Zuhause; aber er meldet sich zur Armee und kommt im Dezember 1944 mit einem Truppentransporter zurück nach Italien. Er ist Sanitäter – und bei dem Versuch, einen Kameraden zu retten, wird er erschossen. Serios Bildroman – eine freie Adaption des Romans Ci sarebbe bastato von Silvia Cuttin (Epika Editioni 2011) – erzählt die bedrückende Geschichte ruhig, ohne aufputschende Spannung, vielmehr besinnlich. Die wunderbaren Pastellzeichnungen wirken poetisch,  sind stimmungsvoll und lassen den Betrachter stets fühlen, was hinter dem äußeren Geschehen vorgeht. Die Geschichte ergreift durch diese Erzähl- und Darstellungweise auf besonders eindringliche Weise und wird so – vielleicht wirkungsvoller als manche pathetische Darstellung – zu einem ergreifenden Mahnmal.

 

Thomas Hausmanninger

Professor für christliche Sozialethik, Universität Augsburg

Jean Valhardi, l’intégrale 1-6, Dupuis 2015-2020

 Die Neuausgabe sämtlicher Geschichten von Valhardi – in Deutsch sind seinerzeit bei Carlsen nur die Geschichten ab Chateau maudit erschienen – glänzt durch zwei Leckerbissen: Bei den Comics sind nun auch die Geschichten aus den 1940er Jahren enthalten, die relativ gut aus den Vorlagen der Zeitschrift Spirou bzw. des Almanach Spirou reproduziert worden sind. Für das intellektuelle Publikum und die Comicforschung bieten die Bände zudem durch die sehr umfangreichen Dossiers v.a. des Ehepaars Pissavy-Ivernault hervorragende Hintergrundinformation. Dazu sind diese Dossiers mit seltenem Bildmaterial geradezu luxuriös ausgestattet. In diesem Jahr wurde die intégrale-Ausgabe mit dem 6. Band abgeschlossen, so dass sich die Anschaffung en bloc lohnt.

 

Lucky Luke: Nouvelle intégrale 1-2

Gegenüber der älteren französischen und bisherigen deutschen Gesamtausgabe glänzt auch diese Neuausgabe in Frankreich mit den hervorragenden Dossiers der Pissavy-Ivernaults. Leider ist Dupius hier recht zögerlich mit der Publikation, Band 3 ist derzeit zudem vergriffen und der 4. erst für 2022 angekündigt. Auf Deutsch liegt der 1. Band vor, der 2. ist für Juli 2021 angekündigt. Doch lohnen sich allein schon die ersten Bände wegen der genannten Dossiers – die französische Ausgabe ist zudem deutlich preisgünstiger als die deutsche.

 

Didier Convard, Denis Falque: Lacrima Christi 1-6

 In diesem Jahr ist diese Staffel um „Das Geheime Dreieck“ vollendet worden. Die Geschichte zählt zu den verschwörungstheoretischen Erzählungen, wählt mit einer schon im 17. Jahrhundert generierten Biowaffe und einer drohenden Pandemie ein derzeit unangenehm aktuelles Thema. Dennoch lohnt sich die Lektüre – und dies nicht nur wegen des routinierten Erzählers Convard, der einen gut verschachtelten Plot entwickelt, sondern vor allem wegen der extrem detaillierten und zugleich enorm filmischen Zeichnungen von Denis Falque. Befreit vom Produktionsdruck der ersten Staffel kann er nun seine ganze Zeichenkunst entfalten und erhält durch die stimmige, nuancierte Colorierung von Angélique Césano endlich auch eine dieser Kunst angemessene Farbgebung.

 

Kalina Kupczynska

Literaturwissenschaftlerin, Universität Lodz

Moa Romanova: Identikid

Kann man sich in seinem (gezeichneten) Körper verstecken und ihn zugleich entblößen? Moa Romanova zeigt in ihrem autobiografischen Comic so viel Körperlichkeit, dass die Panelrahmen für die weichen weißen, zuweilen rosa oder grau anlaufenden Beine, Rücken, Arme zu eng sind. Dies hat seine Logik: In den Panels wie auch in Moa Leben gibt es zu wenig safe space für das von Angstattacken geplagte weibliche Ich. Schon in den ersten Panels entblößt sich Moa, und zwar doppelt – sie zeichnet sich halbnackt, und sie zeichnet sich auf ihrem Bett liegend, am Handy, „faul und selbstgerecht“; in diesen Settings sieht man sie später oft. Der ausufernde Körper geht zu einer Therapie, auf Techno-Parties, trifft Freundinnen, die als Figuren ebenfalls zu groß und zu breit geraten sind. Viel Raum in den Panels nehmen auch Textnachrichten ein, Moa chattet viel mit einem viel älteren Fernseh-Promi, der angeblich ihre Kunst promoten möchte, aber eigentlich an ihr selbst interessiert ist. Und dann doch nicht. Es ist kompliziert; warum, das will ich nicht spoilern. Es ist auch nicht das Wichtigste in Identikid – der Comic ist vor allem visuell eine Attraktion. Flache, kalte Farben und kantige, urbane Landschaften erscheinen entwirklicht, künstlich und abweisend, kalt wie der Angstschweiß der Hauptfigur. Die raumgreifenden Körperformen erinnern in ihrer Überzeichnung an Figuren aus den US-amerikanischen Underground-Comics – auch diese hatten auffallend kleine Köpfe – bloß ist die Irritation der Körperproportionen hier nicht ein Selbstzweck. Der Comic bedient sich auch aus der Manga- und Funnies-Ästhetik, er ist zuweilen witzig und selbstironisch; Comics waren ein Teil der Sozialisation der schwedischen Autorin.

In Interviews sagt Romanova, sie wollte mit Identikid, der auf ihren Tagebucheinträgen basiert, vor allem eins erreichen – dass über Depressionen, Einsamkeitsgefühle mehr gesprochen wird, dass Betroffene in ihrer mentalen Isolation dennoch das Gefühl haben, sie sind nicht allein. Das Potential des Comics wurde schnell erkannt – er wurde bereits in sieben Sprachen übersetzt (u.a. Englisch, Französisch und Finnisch), in der deutschen Übersetzung begeistern vor allem die vielen jugendsprachlichen Bezeichnungen für Emojis.

COMFOR-LESEEMPFEHLUNGEN 2020 (Teil 1/3)

Die Redaktion der Gesellschaft für Comicforschung wünscht ihren Leser_innen  und Freund_innen einen guten Start ins neue Jahr!

Auch 2020 ist, ob man es glaubt oder nicht, vorbei. Ob wir neben allem anderen auch noch Zeit zum Lesen hatten, sei mal dahingestellt. Zumindest konnten wir aber den Blick zur Genüge über das heimische Bücherregal schweifen lassen – und wie jedes Jahr wollen wir den Leser_innen des ComFor-Blogs auch diesen Winter wieder aktuelle Leseempfehlungen von Comicforscher_innen präsentieren. (Die Leseempfehlungen der letzten Jahre finden sich hier.)

Auch dieses Jahr haben wir unsere Mitglieder unter der Redaktion von Robin-M. Aust und Michaela Schober um ganz subjektive Lektüretipps gebeten, die aus den vergangenen zwölf Monaten im Gedächtnis geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer.

Anders als in den letzten Jahren haben wir uns dieses Jahr entschieden, die Empfehlungen auf mehrere Posts aufzuteilen, um den einzelnen Beiträgen mehr Raum bieten zu können. Hier also nun der erste Teil – der zweite und dritte folgen in Kürze!

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Jörn Ahrens

Professor für Kultursoziologie, Justus Liebig Universität Giessen

 

Uli Oesterle: Vatermilch. Buch 1: Die Irrfahrten des Rufus Himmelstoß

Mit Vatermilch legt Uli Oesterle eine atemberaubende, auf vier Bände angelegte Autofiktion vor. Darin erzählt er die Geschichte seines Vaters und zugleich seine eigene und nennt dies im Nachwort eine „fiktive Biografie“. Dieses sehr persönliche Nachwort verleiht dem Buch das Air der Authentizität, was zweifellos zu dessen Faszination beiträgt. Zugleich fiktionalisiert Oesterle programmatisch und ganz offensichtlich, sodass nie wirklich unterscheidbar ist, wo die Erinnerung in Fiktion übergeht oder Fiktion zu Erinnerung wird. Wie er selbst über das von ihm Erdichtete schreibt: „Jedes einzelne Wort davon ist wahr“. Schöner wurde der Wahrheitsanspruch von Erinnerung selten dekonstruiert, in einer chronologischen und dennoch elliptischen Erzählung. Insbesondere ist dieser Comic auch eine Augenweide. Wo es um den Vater geht, in den 1970er Jahren angesiedelt, reicht die Ästhetik zurück bis in Designs der 1950er und 60er Jahre. Oesterle arbeitet im Grundsatz in schwarz-weiß, zumeist unterlegt mit einer Variation an Grautönen; mal löst er Panelstrukturen auf, mal lässt er Konturlinien weg, sodass die Bilder aussehen, wie Illustrationen aus Kinderbüchern jener Zeit. Erzählt er von der Gegenwart, markiert Oesterle diese Zeitspur mit einem Lilaton, der nichts schönt. Auch seinem Alter Ego schenkt er nichts. Ein großer Comic, auf dessen Fortsetzung man sehr gespannt sein darf.

 

Hub: Schlange und Speer. Teil 1: Schatten-Berg

Mit seiner neuen Serie entwirft Hub eine im Grunde klassisch angelegte Kriminalgeschichte im Reich der Azteken. Außerhalb der Hauptstadt werden Mumien offenbar ermordeter und verunstalteter Mädchen gefunden. Die Mumien und das dahinter stehende Verbrechen sind unheimlich und erschrecken den Vizekönig zutiefst, der einen skrupellosen Sonderermittler beauftragt, die Fälle zu klären. Zugleich ist ein Hohepriester aufgeschreckt von den Vorfällen und beauftragt seinerseits einen Vertrauten mit Ermittlungen. Erzählerisch wie auch in den Zeichnungen ist der Franzose Hub ein Routinier. Da gibt es keinen unnötigen Originalitätswillen. Die Zeichnungen dienen der Geschichte, die klassisch filmisch gebauten Panels unterstreichen die Spannung und den Verlauf der Geschichte. Die wiederum ist ebenso schnörkellos wie gekonnt erzählt. Spannung baut Hub gleich auf mehreren Ebenen auf. Nicht nur gilt es, das Geheimnis der Mumien aufzuklären, auch zwischen den drei Protagonisten gibt es eine Verbindung, die im ersten, voluminösen Band (von dreien) nur angedeutet wird. Die für die Azteken unbedeutende Jahreszahl 1454 zeigt an, dass die Erzählzeit noch deutlich vor Einsetzen der Invasion durch die Spanier liegt. Ein gelungener Band für eine unterhaltsame Abendlektüre.

 

Sylvain Runberg / Francois Miville-Deschenes: Zaroff

Da gab es 1932 die Verfilmung einer Kurzgeschichte von 1924, The Most Dangerous Game, worin Schiffbrüchige auf eine Insel geraten und dort von einem Lebemann wie Wild gejagt werden, dem exilierten russischen Aristokraten Zaroff. Sowohl das Buch als auch diese, scheinbar bekannteste, Filmadaption enden mit dem Tod des Übeltäters. Variationen gab es einige, ob man das alles kennen muss, ist fraglich. Nun folgt eine Variante für den Comic, die eine Fortsetzung entwirft, worin Zaroff überlebt und eine neue Insel bezogen hat. Darin verfolgt die Tochter eines der Opfer seiner Spur, bis sie nicht nur das Inselversteck aufspürt, sondern auch die Familie seiner Schwester. Zaroffs Unglück ist, dass jenes Opfer selbst ein Gangsterboss war, weshalb die Tochter über die nötigen Mittel verfügt, Zaroffs Schwester und ihre drei Kinder auf dessen Insel zu verfrachten und dort selbst zu Objekten eines Jagdspiels zu machen – entweder Zaroff findet sie zuerst oder die Männer der Tochter töten sie. Nun beginnt eine atemlose Jagd durch den Dschungel. Das ist spannend und geradlinig erzählt. Und auch wenn der Realismus der Figuren zuweilen etwas steif wirkt, ist das Dschungel-Ambiente grandios in Szene gesetzt. Zaroff ist ein klassischer Genre-Comic, der, um der stilistischen Geradlinigkeit willen, auch vor Klischees nicht zurückscheut. Gerade das macht ihn aber aufregend und angesichts des offenen Endes wünscht man sich gleich eine Fortsetzung.

 

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Romain Becker

 

Moreil, Roxanne; Pedrosa, Cyril, L’âge d’or. Volume 2, Aire Libre

Klar, L’Âge d’Or ist eine klassische, unterhaltsame Fantasy-Geschichte, in der es um Ritter, Kriege und Schätze geht; sie ist aber auch viel mehr. Einerseits ist da Cyril Pedrosas wundervoller und unvergesslicher Zeichenstil, der hervorragend zur Atmosphäre passt. Inspiriert von mittelalterlichen Wandteppichen und von klassischen Disney-Filmen (der Künstler hat übrigens eine Zeit lang bei Disney als Trickfilm-Animator gearbeitet), mit satten und teils surrealen Farben koloriert, sind die auf Doppelseiten dargestellten Landschaften und Schlachten wahrhaftig beeindruckend – das übergroße Format spielt hierbei auch eine Rolle. Hinzu kommt, dass Pedrosa hier – in mittelalterlicher Manier – im Allgemeinen wenig Panels verwendet und lieber seine Figuren auf ein- und derselben Seite mehrfach durchs Bild laufen lässt: So ist wirklich jede Seite des Comics ein Augenschmaus. Andererseits hinterlässt aber auch die Geschichte, für die Roxanne Moreil und Pedrosa zusammen verantwortlich sind, einen bleibenden Eindruck. Denn die an sich schon interessanten Intrigen rund um die Thronanwärterin Tilda sind eigentlich eine Metapher für die politische und soziale Situation Frankreichs (und anderer Länder): So kann man beispielsweise in den Bauern Gelbwesten und in Tildas Kontrahent*innen und Gefährt*innen verschiedene politische Parteien und Ideologien erkennen. Wie bereits der erste, ist dieser zweite Teil von L’Âge d’Or, der nächstes Jahr auch auf Deutsch (Das Goldene Zeitalter), nämlich bei Reprodukt, erscheinen soll, ein mitreißendes und zutiefst engagiertes Werk.

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Helene Bongers

Kunsthistorikerin, Freie Universität Berlin

 

Hannah Brinkmann: Gegen mein Gewissen

Brinkmann verarbeitet die eigene Familienhistorie und bettet die Biografie ihres Onkels in den gesellschaftlichen und politischen Diskurs um die Kriegsdienstverweigerung im Deutschland der 1960er und 1970er Jahre ein. Der 18-jährige Hermann ist Pazifist und verweigert den Kriegsdienst. Trotz der Verweigerung und eines erniedrigenden und laufenden Verfahrens wird er zum Wehrdienst eingezogen. In der Folge begeht er Suizid. Die Familie sieht in Hermanns Suizid das Versagen des gesellschaftspolitischen Systems. Brinkmanns Spurensuche drückt sich in der Darstellung von Dokumenten, Fotografien und Briefen aus, geht aber darüber hinaus. Sie lässt das bürgerliche Nachkriegsdeutschland anhand von Orten, wie die Kneipe Kehrwieder und das Haus der Großeltern, visuell auferstehen. Interieur- und Gegenstandsdarstellungen, beispielsweise die Libelle in Plexiglas, werden detailreich und wirklichkeitsnah ausgearbeitet. Dieses Abarbeiten an den Oberflächen wird durch die Ästhetik der Bilder unterstützt. Der monochrome Einsatz gedeckter Farben und die klaren schwarzen Konturen generieren eine Flachheit, die in einem spannungsreichen Kontrast zu den Darstellungen des Innenlebens des Protagonisten stehen. Besonders eindrucksvoll ist dabei die formal und inhaltlich zentrale Sequenz der gerichtlichen Anhörung: Die Angst und der Schmerz des Protagonisten werden durch psychedelische Kompositionen vermittelt. Der Schmerz wird körperlich und die Körperlichkeit wird visuell seziert. Am Ende bleibt die Wut über eine Zeit, in der Gesellschaft und politisches System noch eng mit der Nazivergangenheit verbunden waren und das Grundgesetz sich gegen die Menschen wendete. Ein erschütterndes Kapitel des jungen Nachkriegsdeutschlands, bildgewaltig umgesetzt.

 

Melanie Garanin: NILS. Von Tod und Wut. Und von Mut

NILS ist Garanins autobiografische Chronik über die Leukämieerkrankung und den Tod ihres jüngsten Sohnes. Sie umspannt mehrere Jahre und begleitet die Familie aus Sicht der Mutter und Künstlerin durch die Diagnose, den Krankheitsverlauf, den Tod und vor allem auch durch das erste Trauerjahr. Mitweilen humorvoll schafft die Künstlerin Zeichnungen, die eindrucksvoll den Schmerz, die Ohnmacht und den Kontrollverlust und gleichsam die gesellschaftliche ausgesparte Alltäglichkeit und Normalität von Krankheit und Tod vermitteln. Die Dokumentation des Krankheitsverlaufs beinhaltet auch die Krankenhausaufenthalte, die endlosen Gespräche mit den Ärzt*innen, die rechtlichen Folgen und die Friedhofsbesuche. Die Erzählung wird von einer fantastischen Kinderwelt überformt: die Ärzt*innen haben Namen wie Frau Antibiotika-Aber, Tiere und Gegenstände werden zum Leben erweckt und helfen der Protagonistin wie auch uns als Rezipient*innen, das Leid zu ertragen. Die humorvoll detaillierten lavierten Zeichnungen beinhalten kleine Vögel mit Ritterhelmen und Laserschwertern oder die diskutierende Schreibtischlampe, die für die Protagonistin einsteht. Sie erinnern an Sven Nordquists Illustrationen von Pettersson und Findus und greifen Nils‘ kindliche Perspektive innerhalb des ausgewachsenen Leids auf. Diesem fantastischen Realismus folgt auch das bewegende letzte Kapitel, in dem die Künstlerin zu einer Katharsis führt, die sie nur innerhalb ihrer Zeichnungen eigenständig konstruieren kann. Zeichnen fungiert bei Garanin als Trauerbewältigung und Tabubruch.

 

Bernd Kissel und Marc-Uwe Kling: Die Känguru-Comics

Seit Dezember durchbricht auf Zeit Online ein Webcomic in klassischer Comicstrip-Ästhetik das tägliche Doomscolling. Bernd Kissel gewährt dem prominentesten Beuteltier Deutschlands nach Buch, Radio und Film nun auch den Einzug in das Medium Comic. Mit subversiver Leichtigkeit gehen das Känguru und der befreundete Kleinkünstler durch den Corona-Alltag dieses Jahres. Die lakonischen Kommentare zu Kinderbetreuung, Verschwörungstheorien, einschlägigen Videokonferenzplattfomen, Schlangestehen vor dem Späti oder vollen U-Bahnen verpacken eine Prise erbauliche Gesellschaftskritik in kurze und kurzweilige Strips und Tableaus. Formal orientieren sich die Känguru-Comics nostalgisch an klassischen Formaten der Druckpresse: samstags erscheint ein farbiges Tableau im Stil einer ganzseitigen Wochenendbeilage, werktags ein einzeiliger Strip monochrom in Schwarzweiß und Grau. Erstere sind besonders gut für die Rezeption auf dem Smartphone geeignet, letztere für die Rezeption am PC. Kissels Umsetzung von Klings abgeschlossenen Kurzerzählungen zeichnen sich durch aufmerksamen Detailreichtum in Kombination mit reduzierter Strichführung aus, die an Calvin und Hobbes von Bill Watterson erinnert. Insgesamt sind die kurzen Reflexionen des tagesaktuellen großstädtischen Alltags erfrischend und eignen sich als humorvolle Abwechslung zur Lockdown-Depressivität am Ende des Jahres 2020.

 

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Ole Frahm

Literaturwissenschaftler, Arbeitsstelle für Graphische Literatur (ArGL) Hamburg

Rutu Modan: Tunnel

Wenige Tage vor Weihnachten trudelte Rutu Modans neue Graphic Novel ein. Sieben Jahre ist die Veröffentlichung von Das Erbe her, sieben Jahre hat sie an diesen 275 Seiten gearbeitet. Am Ende des Bandes ist eine Liste der Menschen, die für sie die vielen verschiedenen Figuren dargestellt haben – wen das an Hergé erinnert, liegt richtig, denn Zeichenstil, aber auch Figurenrepertoire orientieren sich an der ligne claire, nur dass in der komplexen Welt Israels alles nicht ganz so klar ist. Anders gesagt: 44 Jahre nach dem letzten Tim und Struppi-Album Tim und die Picaros schließt Modan da an. Es gibt verrückte Wissenschaftler, zwielichtige Händler und die karge Landschaft, wie sie aus Im Reiche des schwarzen Goldes oder auch Die Zigarren des Pharaos bekannt ist. Doch tritt auch der Islamische Staat auf, die Mauer, die Israel von der Westbank trennt, spielt ihre Rolle und die sagenumwobende, seit Jahrtausenden verschollene Bundeslade dient als Handlungstreiber. Kurzum: es ist die beste Graphic Novel, die ich seit langem gelesen habe.

 

Paul C. Tumey: Srewball. The Cartoonists who Made the Funnies Funny

Mit einiger Verzögerung ist bei mir wiederum dieser sehr schöne quadratische Band angekommen, der in die frühe Zeit der Comics zurückführt. Neben alten Bekannten wie Frederick Burr Opper oder E.C. Segar, gleichwohl mit Material aus dem Archiv, das wenig wahrgenommen wurde, gibt es tolle Zeichnende zu entdecken wie Clare Victor Dwiggins alias ‚Dwig’ oder George ‚Swan’ Swanson, der so tolle Titel wie Nonsense und $alesman $am gezeichnet hat. Tumeys Texte stehen in der Tradition von Coulton Waugh mit vielen unerlässlichen Informationen, kurzum ein Muß für alle, die sich entfernt für die Geschichte der Comics vor 1939 interessieren.

 

Linda Berry: Making Comics.

Dieser Band wurde mir in dem Hamburger Comic-Laden meines Vertrauens empfohlen und ich habe das nicht bereut. Linda Berry ist eh großartig und hier faßt sie ihre Lehre als Comic-Zeichnerin an der University of Wisconsin-Madison in wunderbare Text-Bild-Seiten zusammen. Ihre Aufgaben für die angehenden Zeichner*innen sind auch ohne Ergebnisse unterhaltsam zu lesen, weil sie die Möglichkeiten der Comics elegant nebenher aufzeigen. „My way of teaching comics is not about developing characters, it’s about waiting to see who shows up in certain circumstances“. Und entsprechend wartet die Sektion über Monster mit sehr lustigen Gefährten auf – um dann auf Batman zu kommen. Für Comic-Forschende eine, wie ich meine, notwendige Ergänzung für jeden Blick auf dieses seltsame Medium.

COMFOR-LESEEMPFEHLUNGEN 2019

Die Redaktion der Gesellschaft für Comicforschung wünscht ihren Leser_innen  und Freund_innen einen guten Start ins neue Jahrzehnt. Wie immer gilt: kein Jahreswechsel ohne Best Ofs – höchste Zeit also, auch in diesem Jahr wieder mit einer Liste von Leseempfehlungen aufzuwarten. (Die Leseempfehlungen der letzten Jahre finden sich hier.)

Entsprechend haben wir unsere Mitglieder unter sanfter Redaktion von Katharina Serles um ganz subjektive Lektüretipps gebeten, die aus den vergangenen zwölf Monaten im Gedächtnis geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer. Die Bandbreite reicht dabei nun etwa von Jodie Bellaires Buffy über Fumettibruttis P. La mia adolescenza trans bis zu Regina Hofers und Leopold Maurers Insekten

In diesem Sinn wünscht die ComFor inspirierende Lektüren ebenso wie produktive Diskussionen über Kanonisierungen und Diversität in der Comicwelt – und freut sich auf ein spannendes Comicjahr 2020!

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Julian Auringer

Comicforscher, www.bilderbogenforschung.de

Brian Augstyn, Mark Waid, Peter Krause, Kelly Fitzpatrick: Archie 1941
Was wäre wenn Archie & Co in jener Zeit gelebt hätten, als ihre ersten Comics erschienen? Erschuf man die Comics ursprünglich, um die daheimgebliebenen Kinder während des Zweiten Weltkriegs von der Abwesenheit ihrer Väter und dem Krieg an sich abzulenken, spielten ernste Themen folglich für die Comics keine Rolle. Doch inzwischen geht der Verlag neue Wege. Obschon es in den 70er Jahren einige düstere Experimente gab, widmete man sich erst in den letzten Jahren intensiv dem Horrorgenre und experimentiert nun also auch mit Themen wie Krieg.
Archie und seine Freund_innen stehen kurz vor dem Highschoolabschluss und wissen nicht, was sie mit ihrer Zukunft anstellen sollen, was Archie dazu inspiriert, sich beim Militär zu verpflichten und gegen die Nationalsozialisten zu kämpfen. Archie 1941 fokussiert dabei nicht nur die innere Zerrissenheit seines Protagonisten, sondern widmet sich vor allem denen, die nicht in den Krieg zogen und dennoch unter seinen Auswirkungen leiden. Das Artwork soll dabei besonders hervorgehoben werden und fängt den Geist der 1940er Jahre perfekt ein. Leider haben viele abgeschlossene Archie-Serien ein großes Manko: Im letzen Band (so etwa beim ebenso schönen Blossoms 666 – bei dem allerdings der Spannungsbogen plötzlich rasant abfällt und die Erwartungen nicht erfüllt werden) wird alles überhastet und teils sehr unprofessionell ins Gute verkehrt, was besonders bei diesem Thema leider den Gesamteindruck schmälert.

Jim: Eine Nacht in Rom (Band 3)
Wer hätte das gedacht? Nachdem die Story um Marie und Raphael bereits in den ersten beiden Bänden perfekt abgeschlossen zu sein schien, wird sie nun um zwei finale Bände erweitert. Beide Protagonist_innen gehen inzwischen auf die 50 zu – und sie stecken erneut in einer Sinnkrise. Einmal noch wollen sie sich treffen und Raphaels 50. Geburtstag in Rom feiern, doch sehen werden sie sich nur kurz.
Nachdem Jim mit Die Erektion mehr (Band 1) bzw. weniger (Band 2) gut mit den Erzählmöglichkeiten des Theaters experimentierte, widmet er sich nun endlich wieder Marie und Raphael. Und obwohl Marie wieder einmal viel zu jung aussieht (wie auch Jim im Nachwort zugibt) transportiert er erneut jene Melancholie, die bereits die ersten beiden Bände auszeichnete. Wieder einmal steht die Frage im Raum, was einen jetzt noch erwartet. Hat man bereits alles erlebt oder wartet die große Liebe noch? Wie mit den Alterserscheinungen umgehen? Wie mit Verlust? All das verpackt der Autor/Zeichner in wunderbare Bilder mit der für Jim typischen Farbpalette Delphines, deren Kolorierung den Geist des Comics perfekt einfängt.

Andreas Eikenroth: Woyzeck
Woyzeck wurde bereits vor einigen Jahren von Dino Battaglia als Comic adaptiert, bot schöne Bilder zu überhasteten Szenen sowie einen sehr ausführlichen Anhang mit einer sehr detaillierten Fassungsgeschichte des Dramentextes.
Obschon mir die Bilder Eikenroths nicht so zusagen wie die von Battaglia, der Stil zwar in die richtige Richtung tendiert (orientiert an Schiele, Liebermann und Co), m. E. jedoch nicht extrem genug ausfällt, überzeugt der Comic durch eine sehr eigene Erzählweise. Eikenroth verwendet einzig Metapanels, also ganzseitige Einzelbilder, die mehrere Handlungssegmente miteinander vereinen. Auf diese Weise gelingt es ihm, die kleine Welt Woyzecks und den Wahnsinn derselben in erdrückender Intensität zu fokussieren.
Unter der Vielzahl an zumeist schlechten Adaptionen bereits bestehender Texte hebt sich Woyzeck ab und zeigt, wie man mit dem Urtext umgehen kann, wenn man sich selbst die nötigen Freiheiten nimmt.

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Robin-M. Aust

Literaturwissenschaftler, Heinrich Heine Universität Düsseldorf

Lucas Harrari: Der Magnet
Der junge Architekturstudent Pierre ist fasziniert von der Therme des Architekten Peter Zumthor und macht sich auf den Weg ins schweizerische Vals, um das Gebäude zu zeichnen. Was vorerst nach einer eher trockenen Story klingt, wird in Lucas Harraris Der Magnet zu einem spannenden Thriller: Die Bewohner_innen von Vals und die anderen Gäste in der Therme verhalten sich seltsam, auch mit Pierre selbst scheint etwas nicht so ganz zu stimmen – und letztlich scheint auch die Therme ein Geheimnis zu bergen, das im Aberglauben der Einheimischen verwurzelt ist.
Harraris erste Graphic Novel ist gleichermaßen eine Hommage an die Architektur der Therme Vals als auch eine spannende Mystery-Geschichte mit metafiktionalen Anleihen. Dabei macht nicht nur die Geschichte den Reiz dieses Comics aus: Harraris rot-blau gehaltene Bilder versprühen einen wunderschönen Retro-Chic und erinnern an die ligne claire oder Werbeillustrationen der Jahrhundertmitte; sie sind gleichzeitig eigentümlich kühl und labyrinthisch, sodass die Leser_innen sich zwischen den organischen Formen der Schweizer Berge und den harten Kanten der Therme teils genauso desorientiert fühlen können wie Pierre auf seiner Suche nach
dem Geheimnis der Therme.

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Tillmann Courth

Comicjournalist und Blogger (COMIXENE, Comicoskop, tillmanncourth.de)

Darko Macan , Igor Kordey: Marshal Bass
Frei nach Eddie Murphys Ausspruch aus Nur 48 Stunden („Es ist ein neuer Sheriff in der Stadt – und er ist schwarz!“) tischen uns die kroatischen Kreativen Darko Macan (Text) und Igor Kordey (Zeichnungen) einen Western auf, wie es noch keinen gab.
Hilfsmarshal River Bass ist Afroamerikaner, alles andere als ein Held und nur ein Mann, der seine Vision von Gerechtigkeit durchzusetzen versucht. Da niemand ihn respektiert, selbst die eigene Frau nicht, muss Bass oft zu rabiaten Mitteln greifen.
Es wird viel gestorben in Marshal Bass, aber es tut immer weh. Dies ist jedoch kein Ballerwestern mit Guten und Bösen, sondern die womöglich realistischste Version des Westens, die uns Comics bis dato präsentiert haben.
Die Handlungsstränge sind erschütternd banal, aber sorgen ihrer Bodenständigkeit wegen für glaubwürdige und nachvollziehbare Entwicklungen. Bass unterwandert eine Bande marodierender Sklaven und gerät in die Bredouille. Bass verfolgt eine Siedlerfamilie, die Reisende ausplündert und umbringt. Bass läuft die Tochter weg und sein unehelicher Sohn will mit ihm abrechnen. Bass geht undercover in den Knast, um einen korrupten Politiker zur Strecke zu bringen.
Kordeys klumpige, fiebrige Illustrationen erinnern an Richard Corben, was dieser Serie einen unbequemen, plastischen Look verleiht. Ein Pseudorealismus, der uns Distanz zum Geschehen bewahren lässt. Noch dazu glänzt dieser Comic mit lebendigen Figuren, einem trockenen Humor und lakonischen Dialogen.
In bisher vier Alben kann River Bass alle Herausforderungen meistern. Denn er ist zäh, entschlossen, bauernschlau und clever genug, einfach mal zu überleben (auch wenn  er dafür anderen das Leben nehmen muss).
Die Geschichte der Comics ist mit Westernstoffen reichlich gesegnet. Für mich jedoch haben die Klassiker Leutnant Blueberry und Comanche erst mit Marshal Bass einen dritten, würdigen Vertreter dieses Genres gefunden.
Hier noch der Link zur Besprechung des ersten Bandes.

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Dietrich Grünewald

Kunstdidaktiker, Emeritus Universität Koblenz-Landau, ehem. 1. Vorsitzender der ComFor

Alain Ayroles, Juanjo Guarnido: Der große Indienschwindel
Das barocke Spanien hat uns den Schelmenroman geschenkt. Die Historia de la vida del Buscón von de Quevedo ist eines seiner Hauptwerke und schildert darin das Leben des Taugenichts Pablos. Der grandiose Comic von Ayroles und Guranido ist nun keine Adaption, sondern führt den Textroman fort, erzählt, wie Pablos, nachdem er in Spanien gescheitert ist, in den südamerikanischen Kolonien sein Glück machen will. Das 160 seitige Werk (Hardcover, 34 x 25 cm) ist wunderbar gezeichnet und koloriert. (Guardino hat seine Kunst ja u.a. schon in Blacksad, Carlsen, bewiesen). Es besticht ebenso durch die spannende, witzig-satirische und groteske Geschichte. Die begeistert vor allem durch die überraschende Dramaturgie. Das fängt schon mit dem zweiseitigen Prolog an. Wer sich ein wenig in der Kunstgeschichte auskennt, wird das gezeigte Personal wiedererkennen: Es entstammt dem berühmten Gemälde von Velazquez, auf dem er sich zeigt, wie er den spanischen König Philipp IV (genannt „König der Welt“, wenngleich mit ihm der Niedergang der spanisch-habsburgischen Weltmachtstellung einhergeht) und seine Gemahlin porträtiert, während die Infantin mit zwei Ehrenjungfern ins Atelier kommt. Eine Zwergin und ein Zwerg, der den Hund neckt, sind auch vertreten. Auf den Prologseiten wird das Bild gewissermaßen lebendig – ohne dass die Betrachter_innen wissen, worum es eigentlich geht, denn der Ich-Erzähler der eingeschobenen Textfahnen nimmt auf das Gezeigte keinen Bezug, sondern begründet seinen Entschluss, nach Indien (als was man damals fälschlicherweise Amerika verstand) aufzubrechen. Drei große Kapitel erzählen nun, wie Pablos auf der Suche nach dem sagenhaften El Dorado zwar nicht das Goldland findet, aber einen großen Betrugscoup startet, um in den Besitz von Silber zu kommen. Das soll per Schiff nach Madrid gebracht werden. Im ersten Kapitel wird aus der Sicht Pablos‘ erzählt, der auf der Streckbank liegend dem Kommandanten, der für den Silbertransport verantwortlich ist, berichtet. Der Ich-Erzähler Pablo spricht in den Textkommentaren; die Bildfolge zeigt das Geschehen in stimmungsvollen Szenerien, wunderbaren Typen, faszinierender Landschaft. Und wo das spannende Geschehen keiner Worte bedarf und ganz aus der Anschauung lebt, so kann über längere Seiten hinweg ganz auf Schrift verzichtet werden. Im 2. Kapitel berichtet dann der Kommandant seinem Vorgesetzten, im 3. Kapitel erzählt wieder Pablo, diesmal direkt dem_der angesprochenen Betrachter_in. Es macht Spaß, der Subjektivität der Erzählpositionen zu folgen, wie sie in modifizierten Wiederholungen den tatsächlichen Handlungsstrang allmählich in der Geschehensfolge freigeben. Der Epilog des Buches führt zurück in Velazquez‘ Atelier – und löst nun in überraschend erstaunlicher Weise auch dieses verblüffende Geheimnis. Um das zu lüften, sei die Lektüre dieses Comics dringend empfohlen. Es lohnt sich.

Alexander Braun: George Herriman’s Krazy Kat.  The Complete Color Sundays 1935–1944
Da hat man was zu schleppen: 44,5 x 35 cm groß, 5 cm dick. Das voluminöse Werk bietet 632 großformatige Seiten: die surreal-philosophisch witzigen, unterhaltsamen, nachdenkenswerten, überraschenden Episoden um den/die verliebte(n) Krazy Kat, den backsteinwerfenden Mäuserich und den Hüter des Gesetzes, Officer Pupp. Ich gebe zu: Ich habe zu tun, das riesige Werk auf den Knien zu balancieren, wenn ich in meinem Lesesessel sitze – aber die Anstrengung lohnt sich! Sie lohnt sich vor allem, weil Alexander Braun dem Buch eine hervorragende Einleitung vorangestellt hat. Sie würdigt nicht nur Herrimans Leben und Schaffen, stellt nicht nur in Text und opulenten Bildern (Fotomaterial, verweisende Comic-Belege und Dokumente) die ganze Comic-Zeichner-Welt dieser Zeit vor. Sie macht vor allem mit klugen Analysen diese besondere, herausragende Comic-Serie ein großes Stück verständlicher, ohne ihr den geheimnisvollen Reiz und ihre Offenheit zu nehmen. Das ironische Papierschauspiel, das Herriman inszeniert und seinen autonomen Beitrag zur Kunstavantgarde des frühen 20. Jahrhunderts, wird vertrauter – und der Blick für all die Feinheiten und Besonderheiten, das freie Spiel mit den Komponenten Akteur, Handlungsort, Zeit, geschärft. Diese gesammelten farbigen großformatigen Sonntagsseiten demonstrieren nachhaltig, welch hohen Stellenwert Comics als Kunst- und Kulturform haben können. Gut – der Sammelband ist mit 150€ nicht gerade billig. Aber er ist sein Geld wert – ein Weihnachtsgeschenk, das einen lang anhaltenden und wiederkehrenden Genuss bietet.

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Thomas Hausmanninger

Christliche Sozialethik, Universität Augsburg

Michel Rouge, Christophe Bec:
Gunfighter 1
Christophe Bec hat mit diesem Comic einmal keine SciFi-Horrorgeschichte geschrieben, sondern beteiligt sich an dem – bis zu einem gewissen Grad – in letzter Zeit bei den französischen Comics feststellbaren kleinen Western-Boom. Seine Erzählung ist klassisch am amerikanischen Western der 1950er bis 1970er Jahre orientiert, nimmt die wachsende soziale Ungleichheit am Beispiel der Rinderzüchter auf und verwebt dies mit einer vielschichtigen Story, die in mehreren Strängen aufbereitet ist. Dabei fehlt auch der titelgebende Gunfighter nicht, dessen Backstory wohl erst in kommenden Alben erschlossen werden wird. Bec gelingen schon mit der Exposition ungemein packende dramatische Momente, die Michel Rouge meisterhaft in Szene setzt. Sein Artwork bietet exzellente, hoch detaillierte und filmisch angelegte Zeichnungen, variiert geradezu virtuos die Panelgrößen und setzt auch das Layout gekonnt dramaturgisch ein. In der französischen Ausgabe genießt man dies im Überformat, das wie ein Cinemascope-Kinoerlebnis wirkt (Splitter wird es wohl ähnlich großformatig veröffentlichen). Der Detailreichtum lädt dazu ein, das Album zu studieren; das dramatische Tempo wird dadurch ein wenig gebremst. Insgesamt ergibt das jedoch ein Leseerlebnis, das haften bleibt.

Laurent-Frédéric Bollée, Philippe Aymond: Les nouvelles aventures de Bruno Brazil 1: Black Program
Mit Bruno Brazil hatte der Texter Michel Régnier alias Greg in den späten 1960er und den 1970er Jahren eine vor allem den Älteren unter uns vertrauten Agentencomic geschrieben, dessen Abschluss die Leser_innenschaft nachhaltig geschockt hatte – eine nicht geringe Zahl der Protagonist_innen wird in der vorletzten und letzten Mission getötet oder mit bleibenden Schäden verletzt; die Titelfigur verfällt in eine Depression. Heute kennt man den schonungslosen Umgang mit Hauptfiguren freilich hinreichend etwa aus den amerikanischen romanartigen TV-Serien und Filmen. Gerade für die ältere Leser_innengemeinde bietet jedoch eben dieser Hintergrund der Originalserie den eigentlichen Point of interest für eine Fortsetzung. Das dürfte Bollée bewusst gewesen sein, als er den Auftakt zu den nouvelles aventures geschrieben hat. So siedelt er klugerweise die neue Story in den 1970er Jahren an – ein period piece, das für sich genommen schon einen Reiz hat und ein wenig an die britische TV-Serie Life on Mars erinnert. Die Geschichte setzt kurz nach dem Fiasko der letzten Mission ein und knüpft direkt an die ursprüngliche Serie an. Das ist ein gelungener erzählerischer Coup – für eben die ältere Leser_innengemeinde. Neuleser_innen hingegen wird man empfehlen müssen, zunächst diese alte Serie zu lesen, um in die Story einsteigen zu können. Philippe Aymond kennt man vor allem als Zeichner von Lady S. Er legt hier nun einen davon abweichenden, recht kraftvollen und mitunter etwas grob wirkenden Tuschestrich an den Tag. Das bricht mit den feinen Linien von William Vance, obschon Aymond in den Rückblenden dessen Panels zitiert. Gleichwohl ist die Neuinszenierung des Klassikers eine gelungene Fortsetzung, die schmutziger als das Original erscheint und dennoch letztlich so dessen Drastik in den letzten Alben in Erinnerung ruft.

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Linda-Rabea Heyden

Literaturwissenschaftlerin, Universität Jena

Shigeru Mizuki: Tante NonNon
Mit Tante NonNon bringt Reprodukt dieses Jahr eine weitere, längst überfällige, deutschsprachige Übersetzung von Mizuki heraus. Der Manga ist vor allem deshalb eine so große Freude für mich dieses Jahr, weil mein Interesse an Mizuki durch seine Darstellungen der japanischen Dämonen und Geisterwesen, den Yokai, geweckt wurde. In Tante NonNon erzählt Mizuki in episodenhaft aneinandergereihten Kapiteln aus seiner Kindheit mit der titelgebenden Ersatzgroßmutter, deren Geschichten und Wissen den Grundstein für Mizukis langjährige Befassung mit den Yokai legen. Von diesen begegnet im Manga ein ganzer Reigen mit oft verblüffend spezifischen Zuständigkeiten und Erscheinungsweisen – z. B. Nurunuru-Bozu, „die sich auf Menschen lehnen, die nachts am Strand sind.“ Die Yokai-Erscheinungen sind eingebettet in Geschichten über Shigerus Freund_innen und Familie, die einem mit ihren Eigenheiten und nicht zuletzt durch den cartoonhaft reduzierten Stil Mizukis ans Herz wachsen. Durch ihre Geschichten, z.B. über die Eröffnung eines Kinos im Ort, die Schul- und Arbeitssituation der Familie, die kindlichen Kriegsspiele, aber auch lebensbedrohliche Krankheiten und Menschenhandel, bietet der Manga nebenbei Einblicke in Japan in den 1930ern und damit verbundene größere Themenkomplexe. Insgesamt ergibt sich eine sowohl informative als auch facettenreiche Lektüre, die auf weitere Mizuki-Übersetzungen hoffen macht.

Jodie Bellaire, Dan Mora: Buffy, Vol. 1
Bis heute gilt die Fernsehserie Buffy für mich als das Beste, was das Fernsehen je hervorgebracht hat. Mit der Weitererzählung der Story in den damaligen Comics bin ich jedoch nie richtig warm geworden. Was für ein großer Spaß und was für eine Überraschung war da der erste Sammelband von Boom! Studios dieses Jahr, der ein Reboot der Serie im Comic darstellt und in der heutigen Zeit spielt. Dabei bleiben die Eckpunkte bestehen, aber werden eben nicht eins zu eins wiederholt. Perfekt schafft es Bellaire, dass Handlung und Figuren gleichzeitig vertraut wirken und doch neu. So ist Cordelia zwar immer noch Prom-Queen, aber weitaus sympathischer. Willow tritt direkt selbstbewusst und mutig auf und lebt offen in einer festen lesbischen Beziehung. Ebenso beginnt Xanders Handlungsbogen vielversprechend und deutet einen größeren an. Dass auch Spike und Drusilla von Anfang an dabei sind, erfreut sehr. Die Charakterisierungen und Storyführung verraten insgesamt eine große Vertrautheit mit den Figuren. Moras Zeichnungen unterstützen diesen Eindruck. Nicht zuletzt sind ganz besonders die Figurendialoge hervorzuheben, die genau den Whedon-esken Wortwitz einfangen und auch außerhalb der unterhaltsamen Actionszenen viel zum Lesespaß beitragen. Der Sammelband macht Lust auf den zweiten und bevor dieser im nächsten Jahr erscheint, möchte man direkt nochmal einen Buffy Re-watch starten.

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Kalina Kupczynska

Literaturwissenschaftlerin, Universität Lodz

Regina Hofer, Leopold Maurer: Insekten
2008 am Jahrestag der Novemberpogrome 1938 zerbricht in einer Wiener Wohnung ein Glas, auf einem Tisch, der von den früheren Bewohner_innen zurückgelassen wurde. Die früheren Bewohner_innen waren Juden, deren Schicksal in der Graphic Novel von Hofer und Maurer immer wieder mit Splittern, mit deformierten Hakenkreuzen, SS-Emblemen ins Abstrakte übertragen wird. Viele Split-Panels lassen die schwarz-weißen Formen, die diverse Tötungsarten als Kriegsrealität von Waffen-SS-Kommandos darstellen, zu beunruhigenden Puzzlebildern einer individuellen Vergangenheit werden, die den Angehörigen lange als unzumutbar erschien. 2004 hat das Wiener Zeichner_innenpaar Maurers Großvater, überzeugten Nationalsozialisten, von seinen Kriegserlebnissen erzählen lassen, die Aufnahmen wurden zur Grundlage der Graphic Novel. Großvaters Erinnerungen wechseln sich ab mit autobiografischen Szenen aus Leopold Maurers Jugend, eingestreut werden u. a. Zeugenaussagen der Überlebenden der Massaker im ukrainischen Babyn Jar sowie Aussagen der Kriegsverbrecher.
Insekten – Fliegen, Mücken – kreisen durch manche Panels, was harmlos wäre, würden sich nicht Panels mit Gräbern voller Leichen dazwischen schieben, und gäbe es da nicht geradezu reflexhaft eine Assoziation mit Art Spiegelman in der Maus-Maske am Zeichentisch, umschwirrt von Fliegen, die die Leichen zu seinen Füßen als organische Realität erkennen lassen. Surreal-rätselhaft wird es, wenn bei Hofer/Maurer menschengroße Insekten Rad fahren, am Tisch sitzen, in einem Blasorchester spielen und so eine Verwandlung suggerieren, die seit Kafka als Sinnbild der (Selbst)Entfremdung gelesen wird. Zwei Zeichenstile erzählen hier zwei Geschichten – Hofers reduzierte Abstraktion lässt den nüchternen Bericht des Großvaters ins Unheimliche steigern, Maurers skizzenhafter Strich verortet das Leben des Nazi-Opas in einer Normalität der österreichischen Provinz. Das Gesicht des Täters wird nicht gezeigt.

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Jennifer Neidhardt

Vergleichende Literaturwissenschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Maia Kobabe: Gender Queer. A Memoir
„I don’t want to be a girl. I don’t want to be a boy either. I just want to be myself.” – Aus Maia Kobabes Tagebuch, 2005
In dem autobiografischen Comic Gender Queer: A Memoir erzählt Maia Kobabe aus eirem* Leben als nichtbinäre Person. Bereits in eirer frühen Schulzeit scheitert Kobabe daran, sich einer binären Identität zuzuordnen und findet stattdessen Halt in der Welt homoerotischer Fanfictions und der Musik von David Bowie. Die Episoden aus eirem Alltag reichen von humorvollen Anekdoten zu gescheiterten Frisörbesuchen bis hin zu beklemmenden Darstellungen von Albträumen über Menstruationsblut. Kobabe zeigt sich stets selbstreflektiert und stellt sich selbst die Frage: Wo ist die Grenze zwischen Geschlechtsdysphorie und internalisiertem Sexismus? Wer definiert überhaupt, was „männlich“ und „weiblich“ ist? E findet Antworten in der biologischen Geschlechterforschung und schlussfolgert: „So Lady Gaga was right – I was born this way.“ In einer Zeit, in der sich Medien über „Transtrender“ zerreißen, ohne diese Personen selbst zu Wort kommen zu lassen, bietet dieser Comic einen wichtigen Einblick in den Alltag queerer Personen und schenkt ihnen eine Stimme, die ihnen sonst oft verwehrt bleibt.
* Kobabe benutzt in der englischen Originalversion geschlechtsneutrale e/em/eir-Pronomen, die bisher kein deutsches Equivalent besitzen.

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Hanspeter Reiter

Comicoskop-Redakteur

Kren Krimstein: Die drei Leben der Hannah Arendt
Eine starke Comic-Biografie hat hier ein Verlag (in Übersetzung) vorgelegt, der eben ein Literatur-Verlag ist: dtv. Als Graphic Novel konzipiert, also als gebundenes Buch (Softcover, fast 250 Seiten), strikt in Schwarz-Weiß (und Grau natürlich), nur der Protagonistin „ihr Grün“ gönnend, wie schon auf dem Cover angedeutet, mit vielerlei Zitaten und viel Einblick in jüdisches Leben unterschiedlichster Einstellungen und Lokationen: „Am Leben zu sein und zu denken ist ein und dasselbe… Hannah Arendt: streitbare Jahrhundertdenkerin, zu früh, zu wütend, auf so einschüchternde Weise klug, zu jüdisch, nicht jüdisch genug. 1933 floh sie aus Nazi-Deutschland ins Exil, über Tschechien, Italien und die Schweiz zunächst nach Paris. Später dann in die USA. Von dort aus avancierte sie zu einer der großen Ikonen unserer Zeit. Die drei Leben der Hannah Arendt skizziert rasant und liebevoll ihren Lebensweg. Mit einem Nachwort von Ken Krimstein.“ Der auf S. 234 seine Gedanken präsentiert, etwa diese: „Ich bin der Meinung, dass die Philosophie – das Denken – etwas sein sollte, womit sich jedermann auseinander setzen kann. Die G.N. mit ihrer einzigartigen Eigenschaft, Worte und Bilder gemeinsam wirken zu lassen, ist ein Medium, das sich besonders gut eignet, komplexe Themen zugänglich zu machen.“ Was er übrigens bestens (aus)nutzt, indem er Hannah Arendt und viele ihre Zeitgenoss_innen ausgiebig mit Worten ins Bild setzt (Walter Benjamin „Der Flaneur“ S. 98), teils auch grafisch aufbereitet, à la MindMap z. B. (siehe die Vielfalt ihres Netzwerks, wie wir heute sagen würden, S. 52f.: Maler_innen, Musiker_innen, Theoretiker_innen, Regisseur_innen) – oder als Podium intellektueller Diskutant_innen, Arendt inklusive (S. 162). Wieder kehrend und über weitere Strecken kommen private Beziehung und inhaltliches Auseinandersetzen mit Martin Heidegger ins Spiel (siehe „Die Jüdin und der Nazi“ u. a. rund um S. 207) – oder auch ihr Umgehen mit dem Eichmann-Prozess (eben „Die Banalität des Bösen“, rund um S. 225). Welch eine Fülle an Gedanken-Austausch, quasi interdisziplinär, Berühmtheiten wie Albert Einstein inkludierend: So geht Geist! Jedenfalls damals… Was ein eigenes Personenverzeichnis sinnvoll macht, das volle sechs Seiten umfasst (S. 238ff.)! Mehrfach entkommt Hannah nur knapp den Nazi-Schergen, mehrfach muss sie wieder weiter, deshalb auch die „drei Leben“, die die Leser_innen miterleben und -erdulden: Zu Anfang „Die Sorgen der kleinen Hannah“ (bis zur Studentin), danach „Hannahs erste Flucht“ (Berlin, S. 49ff.), dann die zweite Flucht (Paris, S. 89ff.), die dritte (New York, S. 149ff.), quasi erweitert final zu „Denken ohne Geländer“ (Jerusalem und danach, S. 213ff.). H. A. natürlich immer qualmend, seien es Zigaretten, seien es Havannas – andere Zeiten, andere Sitten. Ein wildes Denkerinnen-Leben, exzellent „eingefangen“ in Wort und Bild! Verarbeitet sind zudem Original-Texte, wieder eine Form der Adaption (siehe ComFor-Jahrestagung 2019)!

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Janek Scholz

Literaturwissenschaftler, ZPW an der Universität zu Köln

Fumettibrutti: P. La mia adolescenza trans
P. La mia adolescenza trans ist für mich das absolute Comic-Highlight des Jahres 2019. Fumettibrutti zeichnet darin ihre Geschichte als transsexueller Teenager nach, von Selbstzweifeln, die sie über sexuelle Begegnungen zu kompensieren versucht, über Beleidigungen und Gewalterfahrungen, bis hin zu ihrem Mut, die Erwartungen der Gesellschaft zu enttäuschen und sich selbst so zu lieben, wie sie ist – ein klares Plädoyer für mehr Toleranz jenseits der Binarität, was jedoch an keiner Stelle vorwurfsvoll, kitschig oder pathetisch daherkommt.
Es wird erzählt, wie brutal das Heranwachsen sein kann, wenn man „anders“ ist, aber auch, welche enorme Wirkung kleine Momente von Menschlichkeit haben. Der Zeichenstil ist schnörkellos, nichts wird beschönigt. Die Gesichter und die Umgebung werden stark reduziert dargestellt und die Kolorierung beschränkt sich auf gelb, schwarz und weiß – nur P.’s Erinnerungen sind in ein tiefes Lila gehüllt. Im Laufe der Erzählung nimmt P. immer weniger Raum ein, gemeint ist damit jedoch nicht nur der männliche Vorname der Protagonistin, sondern auch das Zeichen der Sünde auf ihrer Stirn (eine Anspielung auf das Purgatorio in Dantes Göttlicher Komödie). P. La mia adolescenza trans ist ein herausragender Comic, der schleunigst ins Deutsche übersetzt werden sollte.

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Véronique Sina

Medienwissenschaftlerin und Genderforscherin, Universität zu Köln,
2. Vorsitzende der ComFor

Helen Blejerman: Lulu la sensationelle
In ihrem autobiografischen Debütwerk Lulu la sensationelle (2014) inszeniert die in Großbritannien ansässige Künstlerin Helen Blejerman mit viel Feingefühl und zeichnerischem Geschick die Geschichte ihres Alter Egos Lulu, einem siebenjährigen Mädchen, das mit seinen Eltern in einem unbekannten Wohngebiet lebt. Eines Tages erleidet Lulus Mutter einen Nervenzusammenbruch, der sie dazu bringt, sich ohne weitere Erklärung in der heimischen Toilette einzuschließen und fortan dort zu leben. Um die emotionale Leere zu füllen, die die Abwesenheit ihrer Mutter hinterlässt, entwickelt Lulu eine Essstörung und beginnt, in ihrem Kleiderschrank zu schlafen. Ihre kulinarische Überkompensation bringt ihr jedoch keine Erleichterung und als Lulu nach den großen Ferien zur Schule zurückkehren muss, wird sie von ihren Mitschüler_innen aufgrund ihrer starken Gewichtszunahme schikaniert. Das Einzige, was Lulu noch bleibt, ist Trost in ihrer Fantasie zu suchen, in dem Traum, ‚Lulu la sensationelle’ zu werden.
Trotz der eher pessimistischen Grundstimmung und des düsteren Inhalts der Geschichte wird der Comic selbst von leuchtenden Pastellfarben dominiert und spielt so gekonnt mit der Erwartungshaltung der Leser_innen, die durch die Aufmachung der Bande Bessinée und Blejermans persönlicher Neuinterpretation der berühmten Ligne Claire an ‚leichte Unterhaltung’ und das Genre des Kinderbuchs erinnert werden. Durch den Verzicht auf Schraffuren oder Schattierungen und die Repräsentation geometrischer Formen sowie körperloser Bilder, kreiert Blejerman eine wunderschöne dichromatische Welt, die scheinbar keinen visuellen Raum für Zwischenräume oder -töne lässt und so das Gefühl von Verlust, Abwesenheit und Einsamkeit verstärkt, welches das Hauptmotiv des Comics bildet.

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Lukas R.A. Wilde

Medienwissenschaftler, Universität Tübingen

Jérôme Tubiana, Alexandre Franc: Guantanamo Kid: Die wahre Geschichte des Mohammed El Gharani
Verlangen verstörende Ereignisse nach verstörenden Darstellungen, um sich nicht der Verharmlosung zu verschuldigen? Jérôme Tubiana und Alexandre Franc werfen einen ganz anderen Blick auf die bis heute anhaltenden illegalen Inhaftierungen, die Menschenrechtsverletzungen und die alltäglichen Folterpraxen in Guantanamo Bay, als man es je in einem engagierten Dokumentarfilm gesehen hätte. Sie übersetzen dafür die Perspektive von Mohammed el Gharani, der nach 9/11 unschuldig an die US-amerikanische Regierung verkauft wurde – im Alter von 13 Jahren. Sie erzählen in simplen Cartoon-Strips von seinen langen Jahren in der Hölle, um gleichzeitig auch zu vermenschlichen: nicht nur eines der jüngsten Opfer der US-Amerikaner im „War on Terror“ und seine Mitgefangenen, sondern auch die „guten Wärter“, und, ja, irgendwie auch die rassistischen Bestien. Doch die naiv-hoffnungsvolle Trotzigkeit, mit der El Gharani heranwächst und dabei trotz allem erst langsam vom Kind zum Jugendlichen wird, motiviert eine Darstellung von Misshandlungen in Comic-Piktogrammen, nicht in graphischen Schockeffekten. Ja, selbst die grausamsten Monster erscheinen so irgendwo menschlich, und genau darin liegt die eigentliche Provokation der Lektüre: In der Alltäglichkeit und Routine, in der jeder nur seinen Job macht, wo doch alle wissen, dass „Nummer 269“ einfach nur unglücklich in die Räder einer ungerechten Maschine gekommen ist, die niemand aufhalten kann oder will.

David Füleki (hg. v. Adrian vom Baur): The Best (and Worst) of David Füleki. Jazam!
Ich habe aus meiner Füleki-Faszination noch nie einen Hehl gemacht, und 2019 wäre ein schlechter Zeitpunkt, damit zu beginnen. Nicht nur, dass Demon Mind Game (Tokyopop) endlich weitergeht; mit dieser wundervollen Jazam!-Werksausgabe ist auch ein Stück deutsche Comic- und Manga-Geschichte erschienen. Das Format Kurzgeschichte so zu meistern ist definitiv ein Ritterschlag, jede Seite vibriert geradezu vor aberwitzigen Ideen und Assoziationen. Und selbst, wenn man einiges schon kennt, wurde ein Großteil der Stories doch erweitert oder stark überarbeitet. Eigentlich fällt keine Geschichte richtig ab, der Ausschlag nach oben bleibt aber für mich „Beppo Biber“: eine Art Persiflage auf lustige Tiercomics aus der Wendy, die auf nur 12 Seiten eine ganze Klaviatur an überraschenden Wendungen formvollendet durchdekliniert. Wie gehabt und bekannt führt Fülekis beliebter Avatar ‚Def‘ durch den Band und schwatzt seinen Leser_innen allerhand Anekdoten und Hintergründe zu jedem Beitrag auf. Meist drehen sich diese um das rahmende Def-Multiversum, das alle Episoden (weit, weit im Hintergrund) irgendwie miteinander verknüpft. Gleichzeitig faltet sich aber auch ein Panorama der deutschen Comic- und Manga-Szenen 2010 bis 2017 vor dem geistigen Auge auf, denn tatsächlich verbindet Füleki beide wie kaum ein anderer…

Nadja Hermann: Erzähl mir nix
https://twitter.com/erzaehlmirnix?lang=de, https://www.facebook.com/erzaehlmirnix/Es wäre geradezu frevelhaft, in einer Liste der (für mich) wichtigsten Comics 2019 Nadja Hermann nicht zu erwähnen, denn: Wir haben sie gerade so bitter nötig! Erzählmirnix ist in diesem Jahr (2019) zum ersten mal vom Blog runter und exklusiv auf Twitter und Facebook, wo ihre Comics vielleicht auch einfach hin gehören, um ihren kleinen Sturm in der Filterblase loszutreten. Ihre „hässlichen, linksgrünversifften Paint-Comics“ (Selbstbeschreibung) sind unsere letzte, beste Chance, allen Familienmitgliedern mit Fremdschäm-Meinungen vielleicht doch irgendwann klar zu machen, was an unserer Kommunikation gerade alles schiefläuft. Kondensiert auf Standardszenen und Archetype, ohne mit all dem abzulenken, was Comics sonst offenbar brauchen: keine Bildhintergründe oder Figurenmerkmale, dafür die ganze szenischen Magie des silent panels und der ungefilterten Affektsemiotik. Dank Nadja Hermann ist der Webcomic gerade wichtiger denn je!

ComFor-Leseempfehlungen 2018

Die Redaktion der Gesellschaft für Comicforschung wünscht ihren Leser_innen  und Freund_innen nachträglich noch einmal einen guten Jahresstart. Kein Jahreswechsel ohne Jahresbestenlisten – höchste Zeit also, auch in diesem Jahr wieder mit einer Liste von Leseempfehlungen aufzuwarten! (Die Leseempfehlungen der letzten Jahre finden sich hier). Auch dieses Jahr haben wir unsere Mitglieder unter der Redaktion von Robin-M. Aust um ganz subjektive Lektüretipps gebeten, die aus den vergangenen zwölf Monaten im Gedächtnis geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer. Hier also einige Notizen zum vergangenen Comicjahr 2018:

 

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Jörn Ahrens

Professor für Kultursoziologie, Justus Liebig Universität Giessen

Gipi: Die Welt der Söhne

avant-verlag

Gipis Stil wirkt skizzenhaft, zuweilen lässig bis geradezu nachlässig. Dennoch sind seine Zeichnungen, der Aufbau seiner Seiten ausgesprochen umsichtig durchkomponiert. Das scheinbar Unfertige, Flüchtige der Zeichnungen spiegelt die Fragilität der Figuren. In Die Welt der Söhne entwirft er ein apokalyptisches Szenario in schwarz-weiß, ganz ohne Backstory. Die Welt scheint geflutet, das Land ist weitgehend verschluckt. Die Katastrophe muss wenige Jahrzehnte zurückliegen; die Erwachsenen kennen noch eine andere Welt. Die Protagonisten, zwei Brüder und ihr Vater, leben auf dem Wasser, um sie herum kaum Menschen und beinahe nichts, das sie ernährt. Der Vater will, dass seine Söhne in dieser feindlichen Umwelt überleben können; Lesen bringt er ihnen gar nicht mehr bei. Jede Person, die auftaucht, wirkt erst einmal misstrauisch und kampfbereit. Menschen sind physiognomisch verunstaltet, wohl durch Kontamination, oder im Geiste durch eine grassierende inhumane Exzessreligion, die das Abschlachten anderer feiert. In seiner mit fast 300 Seiten bislang umfangreichsten Arbeit zeigt Gipi, wie sich Menschlichkeit reduziert auf Formen der Gewalt. Einerseits. Andererseits handelt es sich um eine ziemlich ruhige Meditation über die mentale Verfasstheit von adoleszenten Jungs, bei der die postapokalyptische Umwelt häufig nebensächlich wird. Die Brüder suchen etwas anderes, als nur das Überleben. Sie sehnen sich nach dem Anderen der Gewalt, nach Möglichkeiten der Kultur. Grandios, wenn sie das Tagebuch des Vaters nach dessen Tod durchblättern – über Seiten hinweg zeigt der Comic unleserliches Gekrakel, wie es die illiteraten Jungs sehen. Erst die allerletzte Seite eröffnet mit dem einzigen Lächeln im ganzen Buch einen Hinweis auf die Möglichkeit von Humanität.

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Pascal Regnauld / Roger Seiter: Mord für Mord, B.1: Gila Monster / B.2: Atemstillstand

Schreiber & Leser

Pascal Regnauld zeichnet Hintergründe für Sokals Inspector Canardo. Mit Mord für Mord hat er nun, nach einem Szenario von Roger Seiter, seine erste eigenständige, zweibändige Arbeit vorgelegt, und man darf sagen: das wurde auch Zeit. Ganz im Geiste des amerikanischen Film Noir (und gespickt mit Anspielungen) entwirft Seiter eine klassische, in den 1960er Jahren angesiedelte Gangstergeschichte um einen Mann, der seine Identität sucht. Wenn er sie schließlich findet, wird es zum Überleben zu spät sein. Das ist solide erzählt und macht Spaß zu lesen. Aber das wirkliche Fest sind Regnaulds Zeichnungen, die weder farbig sind, noch schwarz-weiß, die Figuren im Stil des Semifunny vor Art-Déco-Hintergründe setzen. Wenn Regnauld schwarz-weiß betont, mischt er zugleich blau ein und spielt mit der Palette möglicher Farbtonabstufungen, um seinen Zeichnungen trotz weitgehender Unfarbigkeit eine hohe Kontrastdichte zu geben; dasselbe kann er auch mit Sepia. Nur das Blut tropft rot ins Bild. Seinen Figuren gibt er häufig weiße Konturlinien, die Gegenstände haben oft gar keine. Selten hat man einen so eleganten Comic gesehen.

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Nury / Brüno: Tyler Cross, Bd.3: Miami

Carlsen

Seit 2016 erscheint Tyler Cross von Fabien Nury und Brüno im Carlsen Verlag; die Alben haben jeweils einen Umfang von um die 90 Seiten. 2018 ist mit Miami der dritte Band erschienen. Nury entwirft kompromisslos harte Geschichten, manchmal verwickelt, immer spannend und immer konsequent genregerecht. Wenn hier Klischees Verwendung finden, dann nur weil die Serie auch eine Hommage ist (ohne deshalb im mindesten ironisch zu werden). Tyler Cross ist ein Killer, der sehr professionell ist. Auch wenn er regelmäßig in Probleme schlittert, helfen ihm sein kühler Kopf und seine hinreichend rudimentär ausgeprägte Menschlichkeit am Ende immer, mit diesen auch klarzukommen. Brünos Zeichnungen sind, obwohl oberflächlich betrachtet ungemein konkret, extrem suggestiv und nur schwer einer Schule zuzuordnen. Alles ist über die Maßen stilisiert und flächig gehalten. Letztlich bleibt immer nur das Nötigste im Bild. Die Kolorierung von Laurence Croix greift dieses Prinzip konsequent auf und arbeitet ohne Abstufungen in einem monochromen Nebeneinander. So entfaltet sich eine extrem dichte Atmosphäre, die den Comic durchgängig trägt. Atemlos hechtet man als Leser durch die Bände und will gleich noch einmal oder mehr lesen.

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Robin-M. Aust

Literaturwissenschaftler, Heinrich Heine Universität Düsseldorf

Jakob Hinrichs: Der Trinker, nach Hans Fallada

Aufbau

Die Geschichte von Falladas Der Trinker (1944) ist an sich schnell erzählt: ein biederer Kaufmann gerät in die Alkoholabhängigkeit, verliert den bürgerlichen Halt und zerstört so sukzessive sein Leben. Soweit, so gut. Hinrichs kombiniert in Der Trinker diese fiktionale Geschichte mit Falladas eigener Biographie. Der Schriftsteller selbst agierte in seiner eigenen Alkohol- und Morphiumsucht vielleicht noch selbstzerstörerischer als der Protagonist seines Trinkers, versucht, seine Frau umzubringen und landet im Gefängnis. Hinrichs kombiniert die eigentlich simple Trinker-Erzählung mit Details aus anderen Erzählungen Falladas, aber auch biographischen Fetzen, Briefen zu einem Portraits eines Künstlers, der an seiner eigenen Existenz – grundlos? – scheitert. Wie auch schon bei Hinrichs vielleicht noch ein Stück dichteren Traumnovelle (nach Arthur Schnitzlers Erzählung von 1926) begeistern natürlich auch in Der Trinker die überbordend bunten, gleichzeitig tristen Bilder, die mal surreale-assoziativ, teils rauschhaft-ungreifbar, immer ungemein detailverliebt und anspielungsreich daherkommen.

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Isabel Kreitz (Hrsg.) u.a.: Die Unheimlichen (Reihe)

Carlsen

Eine Leseempfehlung, diesmal nicht unbedingt für individuelle Comics, sondern für eine neue Reihe: Die Unheimlichen erscheint bei Carlsen seit 2018 unter der Regie von Isabel Kreitz (Haarmann, Pünktchen und Anton, Die Entdeckung der Currywurst) und bringt unterschiedliche namhafte deutsche Zeichner_innen und klassische Gruselstoffe der Literaturwelt zusammen – ein Konzept, das bei mir natürlich auf Gefallen stößt und bisher zu einer Handvoll interessant-skurriler Adaptionen geführt hat. Bisher gezeichnet haben u.a. Nicolas Mahler (Der Fremde! nach Elfriede Jelinek) und Barbara Yelin (Das Wassergespenst von Harrowby Hall nach John Kendrick Bangs); für 2019 angekündigt ist Unterm Birnbaum nach Theodor Fontane, diesmal gezeichnet von Birgit Weyhe. Es bleibt, gespannt abzuwarten, welche Stoffe und Zeichner Isabel Kreitz noch für dieses Projekt zusammenführen kann.

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Nicolas Mahler: Das Ritual

Reprodukt

Auch 2018 war für Nicolas Mahler produktiv: Nach dem Re-Release seiner pseudo-autobiographischen Comics unter dem Titel Die Goldgruber-Chroniken,der gerade erwähnten Jelinek-Adaption, diversen Cartoon-Bänden, mehreren Lyriksammlungen und natürlich Literaturadaptionen erscheint mit Das Ritual mal wieder eine neue Erzählung von Mahler. Die kommt diesmal schon fast ungewohnt bunt daher – und es passiert für Mahler-Verhältnisse fast schon ungewöhnlich viel. Ausgangspunkt dieser Erzählung ist der japanische SFX-Pionier Eiji Tsuburaya, bekannt für die Godzilla-Filme – oder besser: für die in ihnen auftretenden Gummimonster. Mahler zeichnet in Das Ritual ein einfühlsames Portrait einer als Trash belächelten Kunst und der dahinterstehenden Künstler, das als Mahler-Comic gewohnt tragisch, komisch und selbstreflexiv daherkommt.

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Tillmann Courth

Comicjournalist und Blogger (COMIXENE, Comicoskop, tillmanncourth.de)

Mikael Ross: Der Umfall

avant

Beachtliche Graphic Novel über Menschen mit ‚Behinderung‘. Die jedoch nie als solche vorgeführt, geschweige denn als solche charakterisiert werden.
Noel Stock ist ein junger Mann, der nicht alleine leben kann. Als seine Mutter von einem Schlaganfall getroffen ins Koma fällt, kippt auch Noels Leben aus seiner Verankerung. Man bringt ihn zur Betreuung nach Neuerkerode, eine Dorfgemeinschaft aus Menschen mit und ohne Behinderung. Wie sich Noel hier in ein neues Leben finden muss und welche Kontakte er knüpft, davon erzählt Mikael Ross in Der Umfall. Ein Comic über Verluste, über Flüchtigkeit, Vergänglichkeit – und gerade dadurch auch über den Zauber des Augenblicks, die Macht der Fantasie und die Notwendigkeit menschlicher Fürsorge.
Am Ende sind einem Noel und seine schrägen Freunde (der ordnungsneurotische Valentin, die übergriffige Alice, der gutmütige Betreuer Robert, die lebenslustige Penelope) ans Herz gewachsen. Ein spezieller, leiser Humor sowie der karikatureske Strich runden DER UMFALL zu einer Sternstunde der ‚Graphic Medicine‘ ab. Besser kann man Menschen mit ‚Behinderung‘ nicht ins Licht rücken.

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Barbara „Eggy“ Eggert

Kunsthistorikerin und Comicautorin, ab Februar an der Kunstuniversität Linz

Jen Wang: The Prince and the Dressmaker

First Second

Eine warmherzig-humorvolle gender-bender Story mit überraschendem Ende, aus meiner Sicht geeignet für Menschen ab 10 Jahren. Die märchenhafte Geschichte im historischen Gewand verwebt zeitlose Themen wie Freundschaft, Liebe, Mode – und vor allem die Herausforderung, zu sich selbst zu stehen, auch wenn dies einen Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen bedeutet. Ein panelsprengendes Farb- und Formvergnügen – was das Cover nicht
unbedingt erwarten liess… Das Buch wurde vom Cartoon Art Museum San Francisco von Februar bis August 2018 im „Emerging Artist Showcase“ gefeatured.

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Ole Frahm

Literaturwissenschaftler, Arbeitsstelle für Graphische Literatur (ArGL) Hamburg

Paul Karasik, Mark Newgarden: How to Read Nancy. The Elements of Comics in Three Easy Panels.

Fantagraphic Books

1998, im Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 51, veröffentlichten Martin tom Dieck und Jens Balzer Variationen von Mark Newgarden über Ernie Bushmillers Nancy. Damals hieß es schon, meine ich, er arbeite an etwas Größerem über den Strip. Nun, läppische 19 Jahre später hat der Zeichner mit Paul Karasik (der vor wiederum zehn Jahren die Arbeit von Fletcher Hanks wiederveröffentlicht hat) eine wunderbare Würdigung des Strips vorgenommen, indem sie einen Strip der Serie mit drei Panels vom 8. August 1959 in seine 44 Bestandteile zerlegen. Vom Strip ist jeweils nur der Teil zu sehen: Nr. 28 zeigt die Blickbeziehungen, Nr. 35 die Gestaltung der Sprechblasen, Nr. 40 die Typographie des Copyrightvermerks und Nr. 43 diskutiert das vierte Panel und zeigt: eine weiße Seite. Ich kann mir keine bessere Literatur über Comics vorstellen.

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Neal Adams, Rafael Medoff, Craig Yoe: We Spoke Out. Comic Books and the Holocaust.

IDW Publishing

Inzwischen ist Stan Lee gestorben, aber sein Vorwort zu diesem Band wird er noch gelesen haben. Dort behauptet er, die Lektüre der Comic-Geschichten hätten die jungen Menschen dazu erzogen, dass der Holocaust sich nicht wiederholen dürfe. Ob die Geschichten, die hier zusammengesucht wurden, diesen Anspruch erfüllen, sollte jede und jeder selbst überprüfen. Manche berühren den Holocaust eher indirekt, wie die Batman-Story „Night of the Reaper“, andere gehen recht frei mit historischen Tatbeständen um, aber gerade fiktionale Geschichten wie „Thou Shalt not Kill“, in der eine Steinstatue zum Golem erwacht, um sich an den marodierenden Wehrmachtssoldaten zu rächen, sind es allemal wert, wieder gelesen oder überhaupt entdeckt zu werden: „The golem walks again!“

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Ari Folman, David Polonsky: Das Tagebuch der Anne Frank.

Fischer

Manche der Bildfindungen, die Adams, Medoff und Yoe versammelt haben, lassen sich in der graphischen Version von Anne Franks Tagebuch wiederfinden. Viele andere wären zu ergänzen und erzeugen einen interessanten Eklektizismus, wenngleich der nicht immer unproblematisch ist. Ich bin gespannt, wie sich dieser Band in zwanzig Jahren liest und wie er dann bewertet werden wird. Das erste Jahr hat diese kluge Aktualsierung des Tagebuchtextes gut überstanden.

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Dietrich Grünewald

Kunstdidaktiker, Emeritus Universität Koblenz-Landau, ehem. 1. Vorsitzender der ComFor

Mikael Ross: Der Umfall.

avant

Hervorgegangen aus der privaten Initiative Pastor Gustav Stutzers 1868, hat sich die Evangelische Stiftung Neuerkenrode in Niedersachsen zu einem verzweigten sozialwirtschaftlichen Unternehmen entwickelt, das Menschen mit Beeinträchtigungen ein lebenswertes Zuhause bietet. Wenn diese großartige und wichtige Stiftung zum 150jährigen Jubiläum auf die Idee kommt, das mit einem Comic zu feiern – so sagt das viel über ihr liberales Selbstbewusstsein aus, zeigt aber auch, dass Bildgeschichten im kulturellen Bewusstsein unserer Zeit angekommen sind, dass sie akzeptiert werden und als eine wunderbare Möglichkeit der Kommunikation gesehen werden. Der Münchener und Wahlberliner Zeichner Mikael Ross, der mit Nicolas Wouters den gelungenen, spannenden wie nachdenkeswerten Bildroman Totem (avant 2016) geschaffen hat, hat zwei Jahre lang für seine Graphic Novel recherchiert. Der Umfall ist kein Werk sprühender ästhetischer oder dramaturgischer Innovation, aber Ross erzählt solide, gut mitempfindbar, in gelungenen leicht cartoonierten Zeichnungen, die jedes falsches Pathos, jede Form von „gutmeinender Anteilnahme“ ausschließen, die uns aber nahe miterleben, mitärgern, mitfreuen lassen, wenn der geistig behinderte junge Noel plötzlich alleine ist und in Neuerkerode lernt sein Leben zu meistern. Mir gefällt die Bildgeschichte sehr gut, eben weil sie kein Hymnus auf die Stiftung in beweihräuchernder Form ist, sondern völlig unpathetisch, lustig und unterhaltsam eine aufschlussreiche Geschichte erzählt, die sehr viel mehr Empathie wecken kann, als moralisierende Botschaften. Ich wünsche dem Comic viele viele Leser und Leserinnen!

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Linda Heyden

Literaturwissenschaftlerin, Universität Jena

Jeff Lemire, Dustin Nguyen: Descender, The Machine War (B. 6)

Image Comics

Von Jeff Lemire findet sich dieses Jahr vor allem „Black Hammer“ auf den Empfehlungslisten, aber ich möchte anlässlich des letzten Bandes, der dieses Jahr erschien, die Science-Fiction-Serie „Descender“ empfehlen.
Zugegeben beginnt die Geschichte zunächst sehr generisch in einer Zukunft, in der Menschen und Maschinen gegeneinander Krieg führen und der humanoide AI-Junge Tim-21 eine entscheidende Rolle spielt. Doch den Figuren, deren Hintergrundgeschichten und Charaktere sich nach und nach enthüllen, will man von Anfang an folgen. Vor diesen Figurenentwicklungen entspannt sich nebenbei die Geschichte, die dann im sechsten Band ihre größte Wendung nimmt und Lust macht auf die Fortsetzungsserie „Ascender“.
Vor allem aber fesselt vom ersten Cover an die visuelle Umsetzung in den Aquarellen von Dustin Nguyen, die beim Lesen wieder und wieder zum Verweilen einladen. Die Verbindung von SciFi-Genre und Aquarellstil ist ungewöhnlich und erzeugt eine besondere Atmosphäre. Nguyen wechselt immer wieder das Seitenlayout und die Farbpalette, so dass sich ständig neue visuelle Eindrücke bieten. Besonders das Layout mit 4 schmalen Panels, die über die Seitenbreite reichen, sind durch ihre Sequenzierung und Perspektivierung sehenswert. Farblich dominieren in Band 6 schließlich zarte Pastelltöne, in die sich die maschinellen Sprechblasen und Schriften von Steve Wands bei aller visueller Spannung durchaus harmonisch einfügen.

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Elisabeth Klar

Komparatistin, Autorin beim Residenz Verlag

Daniela Schreiter: Schattenspringer (Band 1-3)

Panini

Es wird viel zum Thema Autismus geschrieben, Betroffene hingegen kommen selten selbst zu Wort – schon allein deshalb wäre Daniela Schreiters (aka Fuchskind) Serie Schattenspringer, in der sie von ihrer Kindheit (Band 1) und Jugend (Band 2) als Asperger-Autistin erzählt, eine Empfehlung für alle, die sich mit dem Thema beschäftigen wollen. Fuchskinds Comics sind aber zudem noch abwechslungsreich erzählt und voller Humor, und nutzen das Medium und all seine Möglichkeiten gekonnt, um die eigene Erfahrungsrealität auszudrücken – dabei lässt Fuchskind sich keine Gelegenheit zu geekigen Pop-Kultur-Referenzen entgehen. Bereits in Band 1 erklärt Daniela Schreiter, dass die Erfahrung eine_s einzelnen Autist_in allein niemals Verallgemeinerung auf andere Betroffene zulässt. Umso konsequenter ist es, dass sie in Band 3 schließlich andere Autist_innen zu Wort kommen lässt und deren Lebensgeschichten Raum gibt. Fuchskinds Schattenspringer-Serie ist reflektiert und informativ, regt zum Hinausblicken über den eigenen (neuro-typischen) Tellerrand hinweg an, oder lässt vielleicht ein Wiedererkennen eigener Erfahrungen zu – und es ist auch einfach ein sehr gut gemachter Comic.

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Lukas Kummer, Thomas Bernhard: Die Ursache

Residenz

Nach Nicolas Mahlers Adaptationen von Büchern von Thomas Bernhard (Alte Meister, Der Weltverbesserer) hat Lukas Kummer die Herausforderung angenommen, den ersten Teil der Autobiografie von Bernhard, Die Ursache, in das Comic zu übertragen. Dass Lukas Kummer dafür einen anderen Weg als Mahler einschlägt, ist gut, denn auch den zugrundeliegenden Text tragen eine andere Stimmung und ein anderer Anspruch. Lukas Kummer arbeitet mit Rhythmus und Wiederholung, mit dem Text als das Bild teilweise überdeckendes Zeichen, mit Raum und dabei insbesondere Häuserfassaden als Ausdruck der „abtötenden“, erstarrten, nach außen hin abgeschlossenen Stadt Salzburg. Wie im Text selbst gibt es keine direkte Rede, nur Bernhards stetiges Kommentar der auf den Panels abgebildeten Orte und Ereignisse. Der abstrahierte, reduzierte Zeichenstil erschafft gemeinsam mit der Farbwahl (Grau- und Schwarztöne, starke Kontraste) eine harte, kalte, ja unmenschliche Atmosphäre, in der die Menschen den Dingen untergeordnet oder zumindest gleichgestellt sind, und die das Erleben Bernhards in dem Text authentisch widerspiegeln, den_die Leser_in gleichzeitig in das Geschehen und in Bernhards Gedanken hineinziehen, ja, gar nicht mehr loslassen.

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Lukas R.A. Wilde

Medienwissenschaftler, Universität Tübingen

Jeff Lemire und Andrea Sorrentino: Gideon Falls

Image

Während sich im amerikanischen Non-DC/Marvel-Bereich scheinbar das ganze Jahr nur um Jeff Lemires Black Hammer gedreht hat, wurde ich durch ein regelrechtes Image-Revival geschleift: Skottie Youngs zauberhaftes Middlewest, Ed Brubakers und Sean Phillips routiniertes My Heroes Have Always Been Junkies, Ann Nocentis und David Ajas verstörendes The Seeds, Jody Leheups und Nathan Fox‘ wahnwitziges The Weatherman, die schwindelerregende Worldbuilding-Prämisse in Ryan Cadys und Andrea Muttis Infinite Dark, selbst Joe Hendersons und Lee Garbetts hanebüchend unterhaltsames Skywards… Im Sommer machte indes ein Einkauf von TV-Rechten Schlagzeilen, der bereits vor dem Erscheinen der ersten Comic-Ausgabe unter Dach und Fach war: Ein anderer neuer Wurf von Lemire: Gideon Falls. Eine Twin Peaks-artige Horrorstory in einer Midwest-Kleinstadt, aus der man nach dem Lesen gar nicht mehr herausfindet; gefallene Priester, Geheimbünde, Schizophrenie… Warum ich bei dieser Adaptation trotzdem skeptisch bleibe: Angesichts der zuvor genannten Konkurrenz hätten es die soliden Gruseleien niemals ohne Zeichnerin Andrea Sorrentino an die Spitze meiner Liste geschafft. Gemeint sind noch nicht mal ihre grisselig-pseudofotografischen Bilder, sondern das schwindelerregende Panel-Layout. Mehrmals pro Ausgabe finden sich formale Experimente, wie man sie sonst höchstens bei J.H. Williams III gesehen hat; zersplitterte, gefaltete, zu Mosaiken zusammengesetzte Panel-Geflechte, die dennoch ganz im Dienst erzählerischer Verunsicherung stehen. Gideon Falls per Handy auf ComiXology-App zu lesen ist, wie einen Kinofilm ohne Ton zu schauen – allein wegen dieser Erkenntnis ist jede neue Ausgabe ein kleines Juwel!

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Steven Olando und Garry Brown: CRUDE

Image

Nachdem meine vorige Auflistung an Empfehlungen eher interessante Titel enthielt, als dass man ihre nachhaltige Relevanz bereits treffsicher einschätzen könnte, gibt es für Steven Olandos und Garry Browns CRUDE keinerlei Rückhalte. Die Autoren entwerfen hier eine Orwell‘sche Sozialallegorie, die tief in ein Fass Frank Miller getunkt worden ist, um dabei alles zu zertrümmern, was an Frank Miller schon lange toxisch und reaktionär geworden ist. Eine russische Arbeiterkolonie aus Raffinerien und industriellen Niederwelten wird uns als Utopie verkauft, um endlich in Freiheit leben und zu lieben zu dürfen. Darum herum ist eine kapitalistische Maschine errichtet, die den Traum dieser Freiheit in harten Zahlen ausbeutet. Im Inneren dieser erschreckend gegenwartsnahen Blade Runner-Welt prügelt sich eine scheinbare Hard Boiled-Karikatur durch die Gassen und Kasernen, um den Tod seines Sohnes zu rächen, der selbst unerhörte Angst vor ihm und seiner elenden Intoleranz hatte – die es vielleicht nie gab, wenn man mal angefangen hätte, miteinander zu reden. Der alte Bastard bricht Knochen und zersplittert Schädel um dabei – auf eine unerklärlich anrührende Weise – das Genre in den Dienst von Liebe und Toleranz zu prügeln, ohne dabei je seine Regeln zu verlassen.

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Magdalene Visaggio und Sonny Liew: Eternity Girl

DC’s Young Animal

Soviel zum Thema Image, doch ich muss auch sagen: ich habe DCs Vertigo-Imprint vermisst, insbesondere die schrägen, weirden Stories der ersten Phase des Labels! Nun steht zwar ein großer „DC Vertigo“-Relaunch an, die ersten Titel lesen sich auch ganz hervorragend (Border Town und American Carnage) – aber doch eher wie weitere neue Image-Comics. Indes hat parallel DC’s Young Animal-Label weiter Fahrt aufgenommen, und nun, nach dem DCU-Crossover „Milk Wars“ in Phase II, geht die Formal auch langsam richtig auf. Insbesondere von Magdalene Visaggios und Sonny Liews Miniserie Eternity Girl war ich schwer begeistert, die genau den sweet spot zwischen identitätsforschender psychologischer Erzählung, high concept-Superhero-Wahnsinn in Jack Kirby-Dimensionen und Genre- und Medienbespiegelungen umkreist. Ein wilder Ritt wie bei Grant Morrisons Frühwerken zu Zeiten von Doom Patrol oder Flex Mentallo: Visaggios erzählt von Caroline Sharp, einer manisch depressiven Super-Agentin in Zwangsbeurlaubung, die entweder unsterblich ist oder in einem grässlichen Kreislauf aus ewigen Wiedergeburten feststeckt. In verschachtelten, sich gegenseitig metaphorisierenden Erzähl- und Realitätsebenen taumelt Sharp durch eine kosmische Odyssee, die sich auf den erlösenden Tod zubewegt, dabei aber das gesamte Universum in die Auslöschung zu reißen droht. Deutlich zu weird, um es je in einen Kanon – oder in eine TV-Adaption – zu schaffen, und genau darum mein Geheimtipp des Jahres!

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ComFor-Leseempfehlungen 2017

Die Redaktion der Gesellschaft für Comicforschung wünscht ihren Leser_innen  und Freund_innen nachträglich noch einmal einen guten Jahresstart. Auch zu diesem Jahreswechsel möchten wir uns an den Listen aus Leseempfehlungen beteiligen, die man zum Jahreswechsel allerorts finden kann (hier geht es zu Leseempfehlungen der Vorjahre 2014-2016). Unter der Redaktion von Lukas R.A. Wilde haben wir unsere Mitglieder um ganz und gar subjektive Lektüretipps gebeten, die aus den vergangenen zwölf Monaten im Gedächtnis geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer. Im Folgenden also einige Notizen zum Comicjahr 2017!

Juliane Blank

Literaturwissenschaftlerin (Germanistik), Universität des Saarlandes

D’Orsay-VariationenManuele Fior: D’Orsay-Variationen
Avant-Verlag

Auch wenn es sich um ein Auftragswerk des Musée d’Orsay handelt, erzählt der Comic nicht einfach die Geschichte des Museums. Stattdessen träumt sich Fior einen Streifzug durch die Kunstgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zusammen – und zwar ganz wörtlich. Die von den Besucher*innen und den Gemälden genervte Museumswärterin schläft während der Arbeit ein und sieht im Traum ‚ihre‘ Künstler, die sie so gut kennt: In Momentaufnahmen wird gezeigt, wie sich die impressionistischen Künstler*innen um Edgar Degas darüber streiten, ob Kunst in der Natur oder im Museum von den ‚Klassikern‘ gelernt wird. Was hier in Variationen durchgespielt wird, ist die Frage nach der Dynamik von Ablehnung und Verehrung, nach den Mechanismen der Zuschreibung von Kanon und Avantgarde. Die Anekdoten, die Fior erzählt, sind nicht immer belegt; aber der Band ist auch kein Lehrbuch der Kunstgeschichte. Er zeigt vielmehr, wieviel Bewegung in der Kunstgeschichte ist, die uns heute so fixiert und scheinbar unumstößlich entgegen tritt, zumal im Museum. Dabei sieht der Comic auch noch wunderschön aus. Fior demonstriert einmal mehr seine Spezialität, durch Variation des visuellen Stils zu erzählen. Die Überblendungen zwischen verschiedenen Bilderwelten lassen die Leser*innen abtauchen in den Traum von der Kunst, aber auch immer wieder in ihrer eigenen Welt aufwachen – vielleicht mit einem neuen Blick.
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Tillmann Courth

Comicjournalist und Blogger (COMIXENE, Comicoskop, tillmanncourth.de)

My Favorite Thing is MonstersEmil Ferris: My Favorite Thing is Monsters
Fantagraphics

Das ganze Jahr schon mache ich Propaganda für dieses US-amerikanische Werk, das aus dem Nichts kam. Mein Comic des Jahres 2017! Die Comicdebütantin Ferris legt einen 380-Seiten-Klotz vor, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat: ein höchst eigenwillig illustriertes Werk um ein Mädchen aus Chicago, das im Jahr 1968 mit ihrer sexuellen Identität ringt und ihre Umwelt wie einen düsteren Horror-Krimi wahrnimmt. Auf liniertem und gelochtem Schreibheftpapier (!) breitet Ferris mit feinem Buntstift ein Panoptikum der Zeit und ein Sittengemälde der Nachbarschaft aus. Protagonistin Karen fantasiert sich aus ihrem elenden Unterschichten-Alltag heraus, indem sie sich in Kunst flüchtet, Selbstermächtigung aus Horror-Trash gewinnt und als kecke Detektivin einem realen Mordfall nachgeht. Dabei kommen noch dunkle Geheimnisse zu Tage, die bis in ein deutsches Konzentrationslager zurückreichen. Das alles klingt wahnsinnig verblasen, therapeutisch und anspruchsvoll. Dank der Brille der Naivität, durch die Karen blickt, kann Ferris jedoch ihre Themen federleicht und mit viel trockenem Witz jonglieren. My Favorite Thing is Monsters bewältigt auf spielerische Weise, woran sich Dutzende Kunstcomicschaffende die Zähne ausgebissen haben: ein popkulturelles, genderbewusstes, zeitkritisches Familiendrama mit Humor! Für mich ist dieser Comic „the great American GRAPHIC novel“ (eine extensive Besprechung findet sich auf meinem Kulturblog).
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